ARBEITSGRUPPEN

Beim Petersburger Dialog diskutieren die Teilnehmer in zehn Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themenkomplexen des öffentlichen Lebens in regelmäßig stattfindenden bilateralen Sitzungen. Die Arbeitsgruppen werden je gemeinschaftlich von einem deutschen und einem russischen Koordinator geleitet.

Koordinatoren

Dr. Johannes Oeldemann: Direktor, Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik, Paderborn

Archimandrit Filaret: Stellvertretender Vorsitzender des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Moskau

Koordinatoren

Frank Priess: Stellvertretender Hauptabteilungsleiter, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Prof. Dr. Wjatscheslaw Nikonow: Leiter des Bildungsausschusses der Staatsduma der Russischen Föderation

Koordinatoren

Ralf Fücks: Vorstand, Zentrum Liberale Moderne

Sergej Zyplenkow: Geschäftsführer, Greenpeace Russland

Koordinatoren

Johann Saathoff: SPD-Bundestagsfraktion; Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft, Auswärtiges Amt

Prof. Dr. Michail Fedotow: Professor an der Juristischen Fakultät, Forschungsuniversität „Higher School of Economics“ (HSE)

Koordinatorin, Koordinator

N.N.

Prof. Dr. Jewgeni Schljachto: Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften; Generaldirektor des Nordwestlichen Föderalen Medizinischen Forschungszentrums W. A. Almasow; Präsident der Russischen Kardiologischen Gesellschaft

Koordinatoren

Dr. Thomas Falk: Geschäftsführer, Falk Beratung GmbH

Andrei Klepatsch: Stellvertretender Vorsitzender (Chefökonom) und Vorstandsmitglied, Staatliche Korporation für Entwicklung „VEB.RF“

Koordinatoren

Johann Michael Möller: Mitglied des Vorstands, Petersburger Dialog e. V.; ehem. Hörfunkdirektor, MDR.

Witali Ignatenko: Präsident, Weltassoziation der russischsprachigen Presse

Koordinatoren

Prof. Dr. Wilfried Bergmann: Mitglied des Senats, Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste

Prof. Dr. Igor Maximzew: Rektor, Staatliche Universität für Wirtschaft und Finanzen St. Petersburg

Koordinatorinnen

Annegret Wulff: Geschäftsführerin, MitOst e. V.

Natalia Tscherkessowa: Vorsitzende des Aufsichtsrats, Presseagentur Rosbalt

Koordinatoren

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Hermann Parzinger: Präsident, Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Prof. Dr. Michail Piotrowski: Direktor, Staatliche Eremitage

Aktuelles von der AG Ökologische Modernisierung
Der Preis der Energie

Fossile Brennstoffe kommen Mensch und Umwelt teuer zu stehen


von Michael Wilhelmi

Alexander Müller vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen legte den Finger in die Wunde: „Die fossilen Energieträger sind nur wettbewerbsfähig, weil ihre vollen Kosten für das Natur- und Humankapital ausgeblendet werden.“ Die Arbeitsgruppe Ökologische Modernisierung betrachtete mit ihren Koordinatoren Ralf Fücks und Sergej Zypljonkow diese Kosten genauer. Der Workshop am 19. Februar analysierte die ökonomischen, ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen der fossilen Energiewirtschaft in Russland. Das Fazit war eindeutig: Die Schäden durch Förderung und Nutzung von Kohle, Erdöl und Erdgas sind immens.

Bedroht: Klima, Umwelt, Gesundheit

Georgij Safonow von der Higher School of Economics in Moskau und Wladimir Tschuprow von Greenpeace Russland lieferten mit einem ausführlichen Factsheet die Daten und Fakten für die Diskussion: Der fossile Brennstoffsektor in Russland sei für etwa 80 Prozent des CO2-Gesamtausstoßes, für fast 70 Prozent des Abfalls und für mehr als 60 Prozent der Luftverschmutzung im Land verantwortlich. Die belastete Luft verursache pro Jahr mindestens 40 000 Todesfälle und bis zu 370 000 Erkrankungen. Dramatisch sei auch die Wasserverschmutzung: 2019 wurden mehr als 17 000 Ölunfälle gezählt.

Der Anteil der russischen Treibhausemissionen an der weltweiten menschengemachten Erderwärmung werde auf 6,2 Prozent geschätzt; der deutsche Anteil liege bei 3,9 Prozent.

Die Folgen des Klimawandels seien in Russland deutlich spürbar: Hitze- und Kältewellen erhöhen die Sterblichkeit; Permafrostböden tauen und Gletscher schmelzen; die Landwirtschaft leidet unter Ernteschäden und -ausfällen; Hochwasser und Waldbrände verursachen hohe wirtschaftliche Verluste.

Den volkswirtschaftlichen Schaden der Umweltzerstörung bezifferte der Leiter des Lehrstuhls für Umweltwirtschaft an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität Sergej Bobyljow auf bis zu 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und bis zu 15 Prozent, wenn die gesundheitlichen Folgen eingerechnet werden.

Dass es in der russischen Gesellschaft durchaus ein Bewusstsein für die Missstände gibt, legte Sergej Zypljonkow dar. Einer Umfrage aus dem Jahr 2020 zufolge bereite der Klimawandel 83 Prozent der Befragten Sorge, 69 Prozent seien der Ansicht, dass der Klimawandel vom Menschen verursacht ist und 47 Prozent meinten, dass Staat und Gesellschaft mehr für den Schutz des Klimas tun müssen. Zypljonkow verwies auch auf die teilweise großen Umweltproteste wie 2019 gegen den Bau einer Mülldeponie im Gebiet Archangelsk oder 2020 gegen den Kalksteinabbau am Berg Kutau in der Teilrepublik Baschkortostan. Müll, belastete Luft und Wasserverschmutzung seien für die Menschen drängende Themen.

Methanausstoß und CO2-Bindung

Ralf Fücks fragte in der weiteren Diskussion nach dem Anteil der Energieindustrie an den besonders klimaschädlichen Methanemissionen und nach der Rolle der russischen Wälder als CO2-Senken.

Andrej Tronin, Direktor des Petersburger Forschungszentrums für Umweltsicherheit, erläuterte, dass das bei der Kohle-, Öl- und Gasförderung entweichende Methan eine untergeordnete Rolle spiele. Hauptemittenten seien die tauenden Permafrostböden und die Sümpfe im Norden Russlands, wo mit steigenden Temperaturen der Methanausstoß wachse. Grundsätzlich sei es schwierig, natürliche und anthropogene Methanemissionen zu unterscheiden. Wenn es wie in Westsibirien in einer Förderregion auch Sümpfe gebe, sei es kaum möglich, die Quellenanteile aufzuschlüsseln.

Georgij Safonow ergänzte, dass die Methanentweichungen in der Kohle-, Öl- und Gasindustrie 2018 nach offiziellen Angaben bei 279 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten lagen. Neben Lecks in Pipelines sei das Abfackeln von Begleitgas, bei dem unverbranntes Methan in die Atmosphäre gelangt, eine wesentliche Emissionsquelle.

Tronin führte weiter aus, dass die Rolle der russischen Wälder für das Klima von Jahr zu Jahr betrachtet werden müsse: In Jahren mit einem „normalen“ Ausmaß von Waldbränden binde Russland mit seinen Wäldern CO2, in Jahren mit großen Waldbränden sei Russland hingegen Emittent.

Gesucht: neue ökonomische Modelle

Felix Jaitner, Projektleiter beim Deutsch-Russischen Austausch, plädierte dafür, nicht nur die ökologischen Kosten des russischen Wirtschaftsmodells in den Blick zu nehmen, sondern die Diskussion stärker auf die Frage auszurichten, welche ökonomischen Sektoren in Russland künftig entwickelt werden könnten. Mit den aus dem Rohstoffsektor generierten Einnahmen würden schließlich auch Bildungswesen und Sozialprogramme finanziert. Die Frage sei, ob die ökologische Modernisierung auch mit einer technologischen einhergehen und Russland sich von einem „braunen“ Rohstoffexporteur zu einem „grünen“ ‒ etwa für Wasserstoff ‒ wandeln könnte? Der Fokus müsse darauf liegen, eine solche Entwicklung anzustoßen und zu überlegen, wie diese voranzutreiben sei.

Ralf Fücks unterstrich, dass es natürlich um Alternativen gehe. Keine Volkswirtschaft könne sich auf einen Weg nach unten begeben. Das Ziel der gemeinsamen Diskussion sei es, eine genauere Vorstellung von Möglichkeiten für eine ökologische Transformation in Russland zu entwickeln, die nicht zu einem dramatischen Einbruch führt. Dabei gehe es nicht darum, Lehren aus Deutschland zu erteilen, sondern um einen produktiven Dialog, in dem Erfahrungen und Wissen geteilt werden: „Klimawandel ist nicht national, und wir haben alle ein großes Interesse daran, Sie auf dem Weg in eine klimafreundliche, nachhaltige und gleichzeitig zukunftsfähige Ökonomie zu unterstützen.“

Weiteres aus der AG Ökologische Modernisierung

Aktuelles von der AG Gesundheit
Corona als Sprungbrett

Wegen der Corona-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen wächst die Aufmerksamkeit für das Gesundheitswesen


von Michael Wilhelmi

Am 10. Dezember kamen keine Zweifel auf: Seit COVID-19 ist Gesundheit zum wichtigsten Faktor für die Wirtschaft geworden. Wie schon im Juni drehte sich bei der gemeinsamen Tagung der AG Wirtschaft mit der AG Gesundheit alles um die Corona-Krise. Unter der Überschrift „Aktuelle Entwicklungen der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Situation in Deutschland und Russland“ blickten die AG-Koordinatoren Andrei Klepatsch und Thomas Falk mit zahlreichen Vortragenden und Teilnehmenden auf erste Lehren und Folgerungen. Beide unterstrichen, dass Solidarität und gemeinsames Handeln – sowohl innerhalb als auch zwischen den Gesellschaften – wesentliche Faktoren für die erfolgreiche Bewältigung der Krise seien.

Doppelter Schock: Corona und sinkender Ölpreis

Wie sehr die Pandemie die Volkswirtschaften beider Länder in Mitleidenschaft gezogen hat, verdeutlichten Andrej Klepatsch, Chef-Wirtschaftsanalytiker der Staatlichen Entwicklungsgesellschaft VEB.RF, und Michael Heise, ehemaliger Chefvolkswirt der Allianz SE, im ersten Teil der Videokonferenz.

Klepatsch konstatierte für die russische Wirtschaft im Jahr 2020 einen doppelten Schock aus Corona-Pandemie und sinkendem Ölpreis. Die Erholung werde dauern. Nach wie vor hänge Russlands Wirtschaft vom Export fossiler Energie ab. Bis 2025 sei mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 2,8 Prozent zu rechnen.

In den kommenden Jahren würden rund 9,5 Trillionen Rubel in die Verkehrs- und Energieinfrastruktur, aber auch in das Gesundheitswesen investiert, um Beschäftigung zu sichern und den Strukturwandel voranzubringen. Die Staatsverschuldung bleibe trotz Investitionen und staatlicher Hilfspakete mit knapp 20 Prozent des BIP in den kommenden Jahren moderat.

Deutsche Wirtschaft wird sich erholen

Michael Heise rechnete für die stark von der Weltwirtschaft abhängige deutsche Wirtschaft mit einer Erholung. China und Asien, die die Pandemie erfolgreich bekämpft haben, seien die Motoren der Aufwärtsentwicklung. Positive Faktoren stellten auch die expansive Geldpolitik vieler Staaten und die Corona-Impfstoffe dar.

Wie überall leide auch in Deutschland der Dienstleistungssektor. Die Einkommen flössen in den Warenkonsum. Davon profitiere vor allem die Industrie. 2021 werde die Wirtschaft um 4 Prozent wachsen. Nichtsdestoweniger blieben die Belastungen: Insolvenzen, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit wie auch die drastisch bis auf 80 Prozent des BIP ansteigende Staatsverschuldung würden Deutschland noch über Jahre beschäftigen.

Gesundheit gewinnt an Bedeutung

COVID-19 kann auch Sprungbrett sein – zumindest für das Gesundheitswesen. Das erläuterte Nelli Najgowsina im zweiten, dem Thema Gesundheit gewidmeten Teil der Tagung. Die Leiterin des föderalen Zentrums für Ausbildung und berufliche Weiterbildung von Managern im Gesundheitswesen arbeitete heraus, dass der Bereich Gesundheit durch COVID-19 auf der Prioritätenliste der Gesellschaft nach oben rücke: Die Wertschätzung für das medizinische Personal sei gewachsen, und es werde mehr Geld in das Gesundheitswesen fließen, etwa für neue Kliniken und den Ausbau der Telemedizin. Für die Zukunft berge besonders die digitale Transformation des Gesundheitswesens immense Potenziale.

Ljalja Gabbasowa berichtete über Maßnahmen gegen antimikrobielle Resistenzen (AMR) in Russland. Die Referentin des Gesundheitsministers beschrieb die AMR als eine Bedrohung für Wirtschaften und Gesellschaften der ganzen Welt. Die COVID-19-Pandemie verschärfe die AMR-Problematik, die auch weit oben auf der Agenda der G20 und der WHO stehe, zusätzlich. Die vom russischen Gesundheitsministerium auch international koordinierten Maßnahmen reichten von der Sensibilisierung der Bevölkerung über medizinische Fortbildung und Forschung bis zu gesetzlichen Regelungen.

Thomas Lemke, Vorstandsvorsitzender der Sana Kliniken AG, berichtete über die infolge von COVID-19 angespannte Situation in den Krankenhäusern. In der zweiten Welle würden die Intensivkapazitäten stark in Anspruch genommen. Zudem befände sich viel medizinisches Personal in Quarantäne. Hilfreich seien die regelmäßigen Testungen und das mittlerweile ausreichend zur Verfügung stehende Schutzmaterial.

Ein Problem sei, dass derzeit nur rund die Hälfte der Mitarbeiter der Sana Kliniken bereit sei, sich impfen zu lassen. Hier müsse – wie auch bei der Bevölkerung – noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.

Neue Ansätze: Impfstoff und Bakteriophagen

Matthias Kromayer von der am Impfstoffentwickler BioNTech beteiligten MIG AG berichtete über das COVID-19-Vakzin. Der in einer Rekordzeit von sechs Monaten entwickelte Impfstoff basiere auf einer neuartigen Technologie: Das Vakzin enthalte eine genetische Bauanleitung, aus der der Körper harmlose Virusbestandteile herstellt. Gegen diese bilde dann das Immunsystem eine Abwehr.

Die mRNA-Methode habe eine Reihe von Vorteilen: Die Impfstoffe könnten rasch an mutierte oder neue Viren angepasst werden, sie seien sicher und ließen sich schnell herstellen. Auch wirkten sie in Tieren und Menschen gleich, so dass Ergebnisse auf den Menschen übertragbar seien. Die Wirksamkeit des Impfstoffs sei hoch, 95 Prozent der Geimpften würden vor einer Erkrankung geschützt. Kromayer schloss mit einem Plädoyer für privatwirtschaftliche Initiative: Innovation und wirtschaftlicher Wert entstünden aus dem Wissen der Bürger, die Aufgabe des Staates sei es, gute Rahmenbedingungen zu schaffen.

Alexander Surabow, Präsident des Entwicklers und Herstellers von mikrobiologischen Präparaten Mikromir, nahm COVID-19 zum Anlass, den Blick auf Bakteriophagen als alternative Therapie gegen Infektionen zu lenken. Bakteriophagen – für den Menschen unschädliche Viren, die Bakterien abtöten können – hätten abgesehen von der ehemaligen Sowjetunion und teilweise dem heutigen Russland nirgends Eingang in die klinische Praxis gefunden. Derzeit seien sie kaum als zugelassene Arzneimittel zu etablieren. Angesichts der positiven Erfahrungen bei Mikromir plädierte er für neue Zulassungsregeln und eine Renaissance der Phagen-Therapie.

Weiteres aus der AG Gesundheit

Aktuelles von der AG Kirchen in Europa
Kirche könnte mehr leisten

Erinnerung, Versöhnung, Hoffnung: Wie blicken Osteuropas Kirchen auf den 22. Juni 1941?


Zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni hat Renovabis, das Osteuropa-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland, Christen aus den betroffenen Gebieten drei Fragen vorgelegt: Wie wird an das Ereignis und die vier Jahre Krieg heute erinnert? Ist Versöhnung möglich? Und wo gibt es trotz der Spannungen zwischen Ost und West Hoffnung?

KARENINA veröffentlicht drei der zehn Interviews. Das vollständige Dossier lesen Sie bitte auf der Webseite von Renovabis.

Begegnungen lösen Spannungen

Pater Aleh Shenda, Pfarrer in Minsk, Belarus:

Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?

Ich wurde fast 40 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geboren, und in dem Land, in dem ich lebe, wird bis heute der Kult des „Sieges“ als ein wesentliches Element der Staatsideologie künstlich gepflegt. Trotz der Tatsache, dass dieser Krieg in meiner eigenen Familie dramatischen Schaden angerichtet hat und einigen Verwandte sogar ihr Leben verloren haben, nehme ich persönlich die beiden Seiten des Kriegs wahr, und sehe die Verantwortung der beiden Seiten für all das, was in diesem Krieg geschehen ist.

Die Dynamik der Entwicklung und die Rivalität zwischen den beiden unmenschlichen totalitären Systemen war die Ursache für einen schrecklichen Krieg und das grenzenlose Leiden von Millionen von Menschen, darunter auch Zivilisten. Nach meiner Erfahrung ist es nicht so, dass der Großteil der Menschen in Belarus die Schuld an dem Krieg nur bei der Seite sehen, die die Aggression initiiert hat.

Zahlreiche Zeitzeugen dieses Kriegs, die ich persönlich gekannt habe, bezeugen, dass die Verantwortlichen von beide Seiten ein ungeheures Leiden verursacht haben. Sie erzählen aber auch über Soldaten von beiden Seiten, die in manchen Situationen auch eine heldenhafte Menschlichkeit gezeigt haben.

Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?

Nach meinem Eindruck sind die Deutschen einen mühsamen, achtzigjährigen Weg des Erkennens der Ursachen der tragischen Ereignisse und auch der Anerkennung der eigenen Verantwortung gegangen. Leider sehe ich in den Gesellschaften der ehemaligen Sowjetrepubliken, insbesondere in Belarus, nicht den geringsten Versuch, die eigene Verantwortung für das Böse dieses Kriegs anzuerkennen und Reue dafür zu zeigen.

Das Gegenteil ist der Fall, Lügen, Terror und Aggression bleiben Teil des Lebens unserer Gesellschaft. Die Reue für die Verbrechen unserer Vorfahren wäre aber ein notwendiger Schritt, um einen dauerhaften Frieden und eine nachhaltige Entwicklung in unserer Gesellschaft zu erreichen.

Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?

Als Sohn von Belarus sehe ich meine Heimat als östlichen Teil der westeuropäischen Zivilisation. Eine Reihe von Ereignissen hat dazu geführt, dass die Ostgrenze der Europäischen Union heute zu einem künstlichen „Eisernen Vorhang“ zwischen Ost und West geworden ist, eine Linie der Spannungen und der Konfrontationen. Die letzten Jahrzehnte, die relativ friedlich waren, scheinen, nach meinem Empfinden, verloren zu sein, da wir sie nicht für einen aktiveren Dialog, für mehr Offenheit genutzt haben, und sich so mehr Menschen hätten in die Augen schauen können. Ich glaube, dass der sicherste Weg, Spannungen zu lösen, eine einfache Begegnung, ein persönlicher Kontakt und ein offenes Herz sind.

 

Alle im Krieg Beteiligten leiden

Inara Uzolina, Präsidentin des Lettischen Katholischen Frauenbunds

Erleben Sie einen Wandel bei der Erinnerungskultur?

Am 22. Juni 1941 war Lettland schon seit einem Jahr ein von Sowjetunion okkupiertes Land. In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1941 wurden mehr als 15 400 Einwohner Lettlands (auch kleine Kinder, schwangere Frauen, alte Menschen), die dem sowjetischen System nicht passten, nach Sibirien zur Zwangsarbeit deportiert.

Für die Bürger Lettlands begann der Krieg im Jahr 1940 – und endete 1990. Fünfzig Jahre lang waren wir ein okkupiertes Land und gehörten zur Sowjetunion. In dieser Zeit wurden alle sowjetischen Feiertage gefeiert. Auch der 22. Juni wurde immer als Gedenktag mit verschiedenen Filmen über den Großen Vaterländischen Krieg und mit anderen Veranstaltungen begangen. Seit der wieder gewonnenen Unabhängigkeit hat dieser Tag auf der staatlichen Ebene keine Bedeutung mehr.

Versöhnung – Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?

Letten wurden in die sowjetische und in die faschistische Armee einberufen. Unter zwei Flaggen mussten Letten gegen Letten kämpfen.

Ich glaube, dass die Versöhnung aus menschlicher Haltung heraus möglich ist. Die Vergebung und Versöhnung sind ein wichtiges Thema nicht nur im Christentum, sondern in der ganzen Gesellschaft. Aber erst wenn man politische Ereignisse von einzelnen Menschen und Nationalitäten trennen kann, dann gelingt es, Menschen nicht mehr in Kriegsgegner und Kriegsbefürworter zu unterteilen.

Dann beginnt man jeden Menschen als Opfer des Systems zu sehen und nicht als den Gegner. Alle im Krieg Beteiligten leiden. Und wenn wir das der nächsten Generationen beibringen können, werden wir den Frieden und die Verantwortung dafür stärken. Für Letten war es ein langer Prozess, der noch nicht ganz abgeschlossen ist, die aus Russland stammenden Mitmenschen nicht als Okkupanten anzusehen. Nur für Versöhnung offene Herzen und menschliches Miteinander im Alltag können diese Vorurteile auflösen.

Hoffnung – Trotz der gegenwärtigen Spannungen zwischen Ost und West: Welche Hoffnungszeichen sehen Sie? Und welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?

Für die junge Generation verschwinden die Grenzen. Sie teilen die Welt nicht mehr in Ost und West, sie fühlen sich überall zuhause, sie sind echte Europäer. Ich erlebe nur positive Beispiele hier in Lettland für die Ost-West Beziehungen.
Mit jedem Jahr wird diese Kooperation immer konstruktiver, weil wir beiderseits einander gut ergänzen können. Wir als christliche osteuropäische Frauenorganisation haben zum Beispiel sehr gute Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit anderen westlichen christlichen Frauenorganisationen gemacht, auch wenn wir verschiedene historische Hintergründe haben.

 

Kirchen müssen Entspannungspolitik fördern

Erzpriester Vladimir Khulap, Studiendekan der Theologischen Akademie St. Petersburg

Erleben Sie einen Wandel bei der Erinnerungskultur?

Der 22. Juni ist in Russland „der Tag des Gedenkens und der Trauer“, an dem der Große Vaterländische Krieg ausbrach. An diesem Tag gedenkt man all derer, die auf dem Kriegsfeld, in Gefangenschaft, vor Hunger und Not starben. In vielen Kirchen werden an diesem Tag Totengedächtnis-Gottesdienste zelebriert, da der Krieg der schrecklichste Einschnitt in der russischen Geschichte war und zu Millionen von Menschenopfern geführt hat.

Obwohl dieses Datum in den Medien traditionell breit dargestellt ist, spielt der „Tag des Sieges“ – 9. Mai – eine viel größere Rolle, da an ihm Militärparaden, Friedhofsbesuche und in den letzten Jahren das sogenannte unsterbliche Regiment stattfindet, Massenprozessionen von Menschen mit Porträts ihrer Verwandten, die im Krieg gekämpft haben.

Versöhnung – Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?

Die Versöhnungsinitiativen auf verschiedenen Ebenen entwickelten sich besonders aktiv nach der Wende, als sich Russland und Deutschland in neuen politischen Umständen getroffen und kennengelernt haben. So gab es z. B. im Leningrader Gebiet Programme zur Erhaltung der russischen und deutschen Friedhöfe, die von einem orthodoxen Priester initiiert wurden. Die heutige jüngere Generation lebt schon in ganz neuen globalen Realitäten, wo diese historischen Spannungen zwischen unseren Völkern keine große Rolle spielen, aber in der Zeit der neuen internationalen Abkühlung bekommen die christlichen Kirchen im Westen und Osten eine neue Aufgabe, die „Entspannungspolitik“ zu fördern.

Hoffnung – Trotz der gegenwärtigen Spannungen zwischen Ost und West: Welche Hoffnungszeichen sehen Sie? Und welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?

Ich denke, dass die direkten persönlichen Kontakte zwischen konkreten Menschen dabei am wichtigsten sind. In den letzten Jahren fanden z. B. gegenseitige Besuche von deutschen und russischen Theologiestudenten im Rahmen des Petersburger Dialogs statt. Hier liegt ein großes Potenzial, weil gerade diese Leute in einigen Jahrzenten unsere ökumenischen Kirchenlandschaften bestimmen und hoffentlich zu christlichen Friedensbotschaftern werden können, die dann die gesamte Gesellschaft beeinflussen.

 

Suche nach Ursachen und Folgen der Shoa

Arunas Kučikas, Direktor der Caritas Kaunas (Litauen)

Erleben Sie einen Wandel bei der Erinnerungskultur?

Seit dem letzten Jahrzehnt beschäftigt man sich in Litauen recht intensiv mit dem historischen Gedächtnis. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs und der Einzug der Deutschen in Litauen werden im Kontext von Ereignissen wie dem tatsächlichen Verlust der Unabhängigkeit Litauens und der Eingliederung in die Sowjetunion im Juni 1940 und den im Juni 1941 begonnenen Deportationen von Litauern in den Osten der Sowjetunion gesehen. Diskussionen über die Erinnerungskultur hängen weniger mit dem Einzug der Deutschen als mit dem Thema der nachfolgenden Shoa zusammen, insbesondere angesichts des Anteils der Juden, die in Litauen lebten und während der Shoa ermordet wurden.

Versöhnung – Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?

Obwohl Litauen in die Sowjetunion eingegliedert wurde, kann sich der Großteil der Kriegsgeneration kaum einem der Kriegsgegner zuschreiben. Zu der Zeit war Litauen kein unabhängiger Staat mehr und seine Bevölkerung konnte an Feindseligkeiten auf beiden Seiten teilnehmen. Meiner Meinung nach besteht die wichtigste Aufgabe der litauischen Gesellschaft im genannten Kontext darin, sich weiterhin darum zu bemühen, die Shoa-Strategie, ihre Ursachen und Folgen zu kennen und anzuerkennen. Christen haben in letzter Zeit Initiativen zum Umgang mit der Geschichte ergriffen, aber ihre Rolle könnte viel größer sein.

Hoffnung – Trotz der gegenwärtigen Spannungen zwischen Ost und West: Welche Hoffnungszeichen sehen Sie? Und welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?

Im Angesicht des nun zunehmenden Nationalismus und Populismus werden in Litauen die Erscheinungsformen des Vorkriegsnationalismus in europäischen Ländern (nicht nur die deutsche oder italienische, sondern auch mildere Varianten in Litauen und anderen mitteleuropäischen Ländern) neu und kritisch betrachtet. Andererseits werden auch die Manifestationen des Nationalismus, die in der kommunistischen Ideologie existierten, wie auch die vereinfachten und oberflächlichen Lösungen der nationalen Frage kritisch betrachtet.

Als Hoffnungszeichen können wir über das Projekt Europa sprechen, das die Zusammenarbeit fördert und historische und kulturelle Spannungen zwischen Nachbarländern und ethnischen Gemeinschaften abbaut. Christliche Kirchen und Initiativen tragen dazu bei (und können noch mehr tun), indem sie Kooperationen entwickeln, insbesondere in den Bereichen der Jugendbildung (z. B. in Taizé), der sozialen Aktivitäten und sozialen Gerechtigkeit (Katholische Soziallehre), des Pilgerns, des Austauschs zwischen den Theologiestudenten und Seminaristen sowie der politischen Bildung.

Lesen Sie außerdem in der KARENINA-Serie „22. Juni 1941: Überfall der Wehrmacht auf die UdSSR“:

Johann Michael Möller kommentiert den 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, die Großmut der Menschen in der UdSSR in der Zeit nach 1945 und was wir daraus für Schlüsse ziehen könnten.

Alexander Dynkin: 'Victor ist den Heldentod gestorben'. Der Präsident des IMEMO über die Toten seiner Familie und wie es weiterging

Andrei Kortunov: Feinde für ewig? Was der 22. Juni 1941 heute für Russen und deren Verhältnis zu den Deutschen bedeutet

Hans-Heinrich Nolte: Wieso überfiel Hitler die UdSSR? Ziel von ‚Unternehmen Barbarossa‘: Annexion Osteuropas als koloniale Basis deutscher Weltmacht

Nina Petljanowa: „Der Krieg und die Psyche der Soldaten: Weltkriegsveteran Daniil Granin: ‚Den Krieg, den ich erlebt habe, findet man nicht in Dokumenten‘“

Jörg Echternkamp: Stalingrad: Die Schlacht als Metapher. 22. Juni 1941: Überfall auf die UdSSR, Stalingrad und das Gedächtnis der Deutschen

Peter Köpf: Vergessene Opfer: Sowjetische Kriegsgefangene. Die Verbrechen der Wehrmacht an 5,7 Millionen Rotarmisten – und Rotarmistinnen

Das KARENINA-Interview mit der Kuratorin der Ausstellung "Dimensionen eines Verbrechens", Babette Quinkert, über Hunger, Mord und "Flintenweiber"

Das aktuelle Buch: Hannes Heer und Christian Streit bilanzieren den Überfall auf die UdSSR vor 80 Jahren.

Weiteres aus der AG Kirchen in Europa

Aktuelles von der AG Zukunftswerkstatt
„Zeit für einen neuen Gründungsimpuls“

Fünf Fragen an Annegret Wulff

Koordinatorin der Arbeitsgruppe Zukunftswerkstatt des Petersburger Dialogs

Wulff Zuschnitt | Nachrichten über Russland

 


Wo stehen wir im deutsch-russischen Verhältnis?

Es besteht weitgehend Einigkeit: Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind zerrüttet wie seit langer Zeit nicht mehr, vielleicht sogar so schlecht wie nie zuvor. Die Vergiftung von Nawalny, die Diskussionen um Nord Stream 2 und immer noch die Annexion der Krim zeigen auch, dass sich Werte und Zukunftsvorstellungen scharf auseinander bewegen. Ernüchtert stehen wir da und fragen uns: „Was will und was kann man noch miteinander?“

Und gleichzeitig gibt es Zusammenarbeit und ein Verständnis mit langjährigen Partnern in Russland, die sich einsetzen für Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Diese Zusammenarbeit weiter zu führen und zu stärken ist ein Gebot der Stunde.

 

Nach 30 Jahren Vernunftehe scheint die deutsch-russische Liaison zerrüttet. Lohnt sich eine Mediation?

Das deutsch-russische Verhältnis ist ein gewachsenes Beziehungsgeflecht zwischen den Ländern und Menschen – neben den Wirtschaftsbeziehungen, die das Verhältnis ebenso prägen. Aber es waren eben auch Leidenschaft, Interesse und Begeisterung füreinander im Spiel. Das Bild der Vernunftehe passt deshalb nur bedingt.

Wir sollten uns der Frage zuwenden: „Wie können Austausch und Dialog in dieser schwierigen Phase gelingen?” Das ist für mich zentral. Unsere Unterschiede im gemeinsamen Diskurs benennen, ohne sie zu manifestieren, also nicht in einen ritualisierten Monolog zu kommen, das ist ein Weg in den Dialog und in neue Facetten des Zuhörens.

 

Was trennt, was eint Russen und Deutsche heute?

Der Petersburger Dialog hat die ungeheure Chance, Menschen mit verschiedenen Werten, Haltungen und Prioritäten miteinander in Kontakt zu bringen, und so langfristig zu funktionierenden Beziehungen und Kooperationen beizutragen. Das Potenzial des Petersburger Dialogs liegt darin, Deutsche mit Russen, Russen mit Russen, Deutsche mit Deutschen in Kontakt zu bringen – vor allem auch mit Akteuren außerhalb der eigenen Blase, die sonst nicht in einen Austausch treten. Und es ist eine zentrale Frage: Wie kann der Peterburger Dialog diesem Anspruch gerecht werden und dieses Potential heben? Die Antwort haben wir gemeinsam noch nicht gefunden.

 

Was wird das wichtigste Thema Ihrer Arbeitsgruppe im kommenden Jahr?

In der Zukunftswerkstatt entwickeln wir die Themen gemeinsam und sind dabei in Bereichen und Feldern unterwegs, die für uns verbindend und zukunftsweisend sind und das Potential haben, Lösungen für die gemeinsamen Herausforderungen aufzuzeigen. In den vergangenen Jahren haben wir uns mit Sozialen Innovationen, Sozialem Unternehmertum, Urbanistik sowie Konflikt und Dialog beschäftigt. In diesem Jahr haben wir begonnen, über die Zukunft zu sprechen.

Lange wirkte sie nicht mehr so unsicher – und gleichzeitig ermöglicht diese Erschütterung unseres Zukunftsglaubens auch eine neue Auseinandersetzung mit der Frage: „Wie stellen wir uns die Zukunft vor und was können wir dazu beitragen?“ Wir werden dieses Thema im kommenden Jahr weiterverfolgen.

Und dabei sollte es auch um die Zukunft des Petersburger Dialogs gehen. Wenn wir uns fragen, was der Petersburger Dialog braucht, um zukunftsfähig zu bleiben, glaube ich, dass es an der Zeit für einen neuen Gründungsimpuls ist.

Der Petersburger Dialog wurde in einer anderen Ära gegründet. Es ist unsere Aufgabe, ihn in unsere Gegenwart zu heben und sich vom gemeinsamen Monolog zu verabschieden.

 

Wagen Sie eine Prognose: Wie sieht das deutsch-russische Mit- oder Gegeneinander in zehn Jahren aus?

Die Welt an sich wird eine andere sein, auch durch die Krisen, die wir durchleben. Corona zeigt das bereits: Die Krise funktioniert als Brennspiegel und beleuchtet das, was im Großen und Kleinen nicht funktioniert. Wir werden in zehn Jahren verstanden haben, dass wir den großen globalen Herausforderungen nur gemeinsam begegnen können.

Aktuelles von der AG Medien
Karenina ist online

Die neue Webplattform des Petersburger Dialogs


von Johann Michael Möller

Seit heute gibt es KARENINA im Netz – die neue Online-Plattform des Petersburger Dialogs.

Schon wieder eine neue Webseite werden Sie vielleicht fragen? Ja, aber eine ganz besondere, eine, die den deutsch-russischen Beziehungen gewidmet ist. Die einen Beitrag dazu leisten möchte, dass sich die deutsche und die russische Zivilgesellschaft in diesen schwierigen Zeiten nicht aus den Augen verlieren.

Die massiven Einschränkungen, die uns allen durch Corona auferlegt wurden, haben auch den Petersburger Dialog betroffen und dazu geführt, dass es seit vielen Monaten auch bei uns keine Veranstaltungen, keine Arbeitstreffen und noch nicht einmal mehr persönliche Begegnungen gibt. Wir können also nur dem Beispiel vieler anderer Institutionen und Kultureinrichtungen folgen und unseren Dialog ins Netz verlagern. Karenina eröffnet uns die Möglichkeit, unsere Arbeit auch virtuell fortzusetzen.

Aber das ist nicht der einzige Grund, warum wir mit Karenina online gehen. Das Netz und die sozialen Medien geben uns die Möglichkeit, den Petersburger Dialog und seine Gesprächsforen einer noch größeren und an deutsch-russischen Themen interessierten Öffentlichkeit nahe zu bringen.

Das ist in diesen Zeiten wachsender Verstimmungen und – man muss es leider so sagen: einer nicht mehr zu leugnenden Entfremdung zwischen Deutschland und Russland, wichtiger denn je. Wir werden solche Spannungen aushalten müssen. Wir können sie nicht ignorieren. Und wir wollen sie auch nicht ausblenden. Aber wir setzen darauf, dass aus einem freimütigen Gespräch eines Tages auch wieder Vertrauen erwachsen kann.

Viele von Ihnen, die Sie heute zum ersten Mal auf unsere Plattform gehen, werden sich vielleicht wundern, warum wir ihr den Namen Karenina gegeben haben. Die Anklänge an das große literarische Vorbild sind ja kaum zu überhören. Unsere russischen Freunde haben uns sofort besorgt gefragt, ob wir denn so enden wollen, wie Tolstois berühmte Romanfigur.

Natürlich nicht! Der Vorschlag für diesen Namen kam von unserer jüngsten Online-Kollegin, die für einen klingenden Namen plädierte, einen Namen der Assoziationen und Erwartungen weckt und vor allem: persönliche Nähe.

Sie hat recht behalten. Karenina ist für uns plötzlich zum Leben erwacht. Sie ist wie eine vertraute Person geworden.

Das wäre schließlich das Beste, was uns passieren könnte: dass Karenina nicht nur Ihre Aufmerksamkeit weckt, sondern auch Ihre Zustimmung findet; dass es uns zumindest gelingt, ins Gespräch miteinander zu kommen.

Karenina stammt aus einer Zeit, in der das geistige Gespräch über alle Grenzen Europas hinweg möglich war. Das deutsch-russische Verhältnis spielte eine nicht unwesentliche Rolle darin.

Aber Karenina will nicht nur zurückschauen auf diese lange und mitunter leidvolle Geschichte. Es geht uns um die Gegenwart, um das Wissen voneinander, und den Kontakt zwischen Menschen, die aus unterschiedlichen Welten kommen und sich doch oft sehr ähnlich sind.

Wir haben auf der deutschen Seite des Petersburger Dialogs jetzt den Anfang gemacht. Karenina wird ein gastfreundliches Haus. Es steht allen offen, die am deutsch-russischen Dialog teilhaben möchten.

Weiteres aus der AG Medien

Aktuelles von der AG Kultur
„Uns verbindet mehr, als uns trennt“

Fünf Fragen an Manfred Nawroth

Co-Koordinator der Arbeitsgruppe Kultur des Petersburger Dialogs


Wo stehen wir im deutsch-russischen Verhältnis?

Aus dem Erfahrungen und Eindrücken im Kulturbereich kann ich als Co-Vorsitzender der AG Kultur nur immer wieder bestätigen, dass das deutsch-russische Verhältnis auf der Fachebene Kultur nie besser war als heute. Es ist nach vielen Jahren der vorsichtigen Annäherung heute durch und durch geprägt von tiefem Verständnis und gegenseitigem Vertrauen, ungehindertem Zugang zu kriegsbedingt verlagerten Beständen von Museen und Bibliotheken, einer großen Kooperationsbereitschaft im Bereich der Wissenschaften oder beim Austausch in Kunst, Musik und Literatur.

Natürlich stehen große politische Themen und auch diametral unterschiedliche Haltungen wie in Fragen von weltweiten militärischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten, aber auf gesellschaftlicher Ebene verbindet beide Völker mehr als sie trennt.

Nach 30 Jahren Vernunftehe scheint die deutsch-russische Liaison zerrüttet. Lohnt sich eine Mediation?

Kommunikation ist stets das Mittel der Vernunft und der Auflösung von Dissens in der Sache. Ob es im deutsch-russischen Verhältnis, das viel mehr als eine Liaison ist, vielmehr eine gewachsene Freundschaft, einer Mediation bedarf, will ich offen lassen. Es müssten die richtigen Personen mit dem nötigen Weitblick zusammenkommen und ein verbindliches Verhandlungsmandat haben,  damit wäre schon viel zu gewinnen. Die Zerrüttung ist vor allem im politischen Bereich erfahrbar, während in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens nach wie vor ein Konsens zwischen Menschen und Einrichtungen beider Länder spürbar ist.

Was trennt, was eint Russen und Deutsche heute?

Die Jahrzehnte der gegenseitigen Unterstützung und Befruchtung mit Ideen in allen Wissens-, Wissenschafts- und Kulturbereichen eint beide Völker schon immer. Nicht ohne Grund nennen wir unsere langjährigen Kooperationsvorhaben im Bereich der in Folge des Zweiten Weltkriegs in die Sowjetunion verlagerten Museumsgüter im Untertitel immer auch „Europa ohne Grenzen“. Das zeigt, wie die Russen sich selbst einordnen, wo es große Gemeinsamkeiten gibt und wo wir voneinander und miteinander in der Menschheitsgeschichte gewachsen sind. Eine groß angelegte Ausstellung zu diesem Thema hat dies 2012–13 mit Präsentationen in Moskau und Berlin umfassend aufgegriffen. Ohne Frage haben aber die schrecklichen Ereignisse vor, in und nach dem 2. Weltkrieg für immer eine tiefe Furche in dem Verhältnis hinterlassen, aber auch die russische Bevölkerung ist von einem Geist der Versöhnung geprägt. Und die deutsche Seite muss diesen tiefen Einschnitt immer mit Demut wachhalten.

Was wird das wichtigste Thema Ihrer Arbeitsgruppe im kommenden Jahr?

Der Austausch und die Zusammenarbeit im Bereich der Kultur – Museen, Musik, Literatur, Erinnerungskultur, Film – werden wie in den Jahren zuvor das Arbeitsprogramm der AG Kultur prägen. Welche Schwerpunkte sich dabei herausbilden lassen, hängt natürlich auch davon ab, wie sich die Pandemie und damit auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit entwickeln werden.

Wagen Sie eine Prognose: Wie sieht das deutsch-russische Mit- oder Gegeneinander in zehn Jahren aus?

Wie vor zehn Jahren ist der Blick in die Zukunft verbunden mit einer großen Hoffnung, dass das Miteinander dieser beiden wichtigen Partner nicht durch internationale Konflikte beeinträchtigt wird und sich auch die Weltlage um die Weltmächte herum zu einer Friedenspolitik verständigen kann.

Ich setze wie immer auf die große Kraft der Kultur, die immer verbindet und bislang noch nie getrennt hat, zumindest nicht im deutsch-russischen Verhältnis.

 

Aktuelles von der AG Bildung und Wissenschaft
„Investitionen in die Sprachkompetenz wären dringend geboten“

Fünf Fragen an Wilfried Bergmann

Koordinator der Arbeitsgruppe Bildung und Wissenschaft im Petersburger Dialog

Bergmann 1 | Nachrichten über Russland


Wo stehen wir im deutsch-russischen Verhältnis?

Trotz einiger Abkühlungen im generellen politischen Bereich der deutsch-russischen Beziehungen ist im Bereich Bildung und Wissenschaft die Zusammenarbeit cum grano salis unverändert gut. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche langjährige Kontakte nicht durch kurzfristige Eintrübungen in anderen Bereichen direkt tangiert werden, da diese zu stabilen vertrauensbildenden Maßnahmen geführt haben. Sicher: Bessere allgemeinpolitische Beziehungen strahlen immer auch positiv auf alle Felder der Zusammenarbeit aus.

Beide Seiten haben ein großes Interesse am Wissenschaftsaustausch und der fachlichen Kooperation. Dies gilt besonders für die gesellschaftlichen Implikationen wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Im Bildungsbereich ist der Austausch wegen systemischer Unterschiede in beiden Ländern immer schwieriger gewesen. Hier macht sich auch das negative Russlandbild in Deutschland stärker bemerkbar. Auch wirkt sich aus, dass die wechselseitige Anerkennung gegenseitiger Studienleistungen verbesserungsbedürftig bleibt.

 

Nach 30 Jahren Vernunftehe scheint die deutsch-russische Liaison zerrüttet. Lohnt sich eine Mediation?

Jedenfalls für den Bereich Bildung und Wissenschaft erscheint mir eine Mediation weder notwendig noch zielführend.

 

Was trennt, was eint Russen und Deutsche heute?

Neben langwierigen Anbahnungsverläufen für neue Kooperationen hemmen systemische Unterschiede vor allem im Bildungsbereich die Zusammenarbeit. Dazu kommt, dass die finanzielle Ausstattung auf beiden Seiten deutlich steigerungsfähig wäre.

Im Wissenschaftsbereich eint vor allem die methodische Parallelität in vielen Feldern die Zusammenarbeit. Dabei wirkt sich (gefühlt) aus, dass das kontinentale Bildungs- und Wissenschaftsverständnis (noch) deutlich mehr Wertschätzung als das anglo-saxonische genießt.

Hier ist aber eine Trendwende zu erwarten (zu befürchten), zumal – neben dem Vorteil der englischen Sprache, bei rückläufigen Deutsch- bzw. Russischkenntnissen in der jüngeren Generation – die (insbesondere) amerikanischen Finanzmittel ihre Wirkung nicht verfehlen. Eine deutliche Steigerung der Investitionen in die Sprachkompetenz wäre dringend geboten.

 

Was wird das wichtigste Thema Ihrer Arbeitsgruppe im kommenden Jahr?

Da einige Fachgebiete (u. a. Theologie, Medizin, Ökologie) in eigene Arbeitsgruppen behandelt werden, fokussiert es sich in der AG Bildung und Wissenschaft in diesem und dem nächsten Jahr auf anwendungsbezogene Themen. Hier sind besonders zu nennen: Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften einschließlich der gesellschaftspolitischen Folgen (z. B. Veränderungen/Ängste infolge Digitalisierung; Migrationsprobleme, kommunale/regionale Demokratisierung einschließlich Subsidiarität und Wertedialog).

Aktuelle Probleme (z. B. Corona und ihre Folgen für Bildung und Wissenschaft) müssen zunehmend einbezogen werden, wie veränderte Anforderungen an Leadership-Modelle der nachwachsenden Generation. Zudem soll (in Zusammenarbeit mit der AG Ökologie) das Thema des Klimawandels (einschließlich Energiepolitik) mit seinen vielfältigen Auswirkungen thematisiert werden.

 

Wagen Sie eine Prognose: Wie sieht das deutsch-russische Mit- oder Gegeneinander in zehn Jahren aus?

Ich gehe davon aus (und das ist mehr als nur ein Wunschdenken!), dass das deutsch-russische Verhältnis in zehn Jahren in Bildung und Wissenschaft sich weiter stabilisiert haben wird, da auch die Globalisierung/internationale Vernetzung diese Kooperationen notwendiger macht. Das setzt aber voraus, dass Störungen aus anderen Bereichen wenig/keinen Einfluss auf Bildung und Wissenschaftskooperationen nehmen wird.

Weiteres aus der AG Bildung und Wissenschaft

Aktuelles von der AG Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaft in Bedrängnis

Die neuen „Agentengesetze“ und Nawalny – der russische Staat zieht die Schrauben an


von Michael Wilhelmi

Die russische Gesellschaft stehe unter „Stress“ und „Schock“, die russische Regierung leide an „Phobie“ und „Hysterie“– der Runde Tisch der Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft erinnerte bisweilen an ein Ärztekonsilium. Gegenstand der Diskussion und Anlass zur Besorgnis war die aktuelle Situation in Russland: Zivilgesellschaftliche Arbeit wird zunehmend erschwert, politische Opposition unterdrückt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschäftigten unter der Überschrift „Staat und Zivilgesellschaft in Deutschland und Russland“ vor allem die Gesetze bezüglich „ausländischen Agenten“ und die Inhaftierung von Alexei Nawalny.

So klar die Diagnose, so schwierig die Therapie. Sätze wie „Wir müssen Ruhe bewahren und sehen, wie es weitergehen kann“ waren auf der von Michail Fedotow und Johann Saathoff geleiteten Sitzung mehrfach zu hören. Ein Patentrezept hatte niemand parat.

Noch im Dezember vergangenen Jahres hatte die AG in einer gemeinsamen Erklärung die Duma aufgefordert, die Entwürfe zu einer weiteren Verschärfung der „Agentengesetzgebung“ abzulehnen – ohne Erfolg. Auch am 21. Januar gab es ein gemeinsames Votum: Die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften muss trotz aller Komplikationen fortgesetzt werden.

Unerwünschte Organisationen und Einreisesperren

Wie schwierig die Kooperation geworden ist, veranschaulichten die Erfahrungsberichte von Stefanie Schiffer und Johannes Rohr.

Schiffers gemeinnützige GmbH Europäischer Austausch koordiniert die Europäische Plattform für Demokratische Wahlen (EPDE). Die Wahlbeobachter wurden in Russland zur unerwünschten Organisation erklärt. Russische Bürger, die mit der EPDE zusammenarbeiten, erläuterte Schiffer, könnten nun strafrechtlich verfolgt werden. Um ihre Partner nicht zu gefährden, sei die EPDE gezwungen, die Zusammenarbeit einzuschränken oder zu beenden.

Schiffer wertete die Repression als eine Fehlwahrnehmung europäischer NGOs. Die russische Regierung verdächtige diese, sich in die innerpolitischen Prozesse einzumischen.

Johannes Rohr setzt sich als Vorstandsmitglied des Instituts für Ökologie und Aktions-Ethnologie e. V. für die indigenen Völker Russlands ein. Auf einer Sitzung des UN-Forums für Wirtschaft und Menschenrechte in Genf habe er 2018 kritisiert, so Rohr, dass die Rechte dieser Völker besonders in den Öl- und Gasförderregionen verletzt würden. Anschließend sei gegen ihn eine Einreisesperre bis zu seinem hundertsten Geburtstag im Jahr 2069 verhängt worden.

Rohr betonte, dass Deutschland als Hauptabnehmer russischer Gasexporte besondere Verantwortung trage und forderte, solche Einreisesperren, die die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit immer mehr beeinträchtigen, stärker zu verurteilen.

Akteure, aber keine Agenten

Stefan Melle, Geschäftsführer des Vereins Deutsch-Russischer Austausch, ging auf das Wesen zivilgesellschaftlichen Engagements ein. Bürgerinitiative bedeute immer auch eine Beteiligung an politischen Prozessen und Entscheidungen: Diskussionen anregen, eigene Ideen einbringen und eigene Projekte realisieren. Arbeitsfelder seien zum Beispiel Umweltschutz, Menschenrechte und Inklusion.

Melle berichtete, dass in Russland auch auf die Partner seiner Organisation Druck ausgeübt werde und unterstrich, dass zivilgesellschaftliche Akteure selbständig handelten und unabhängig seien, auch wenn sie etwa von Staat oder Kommunen gefördert würden: „Wir sind Akteure, wir sind Lobbyisten für bestimmte Vorstellungen von Gesellschaft, aber keine Agenten in irgendjemandes Auftrag.“

Eine detaillierte Analyse der Gesetzgebung zu „ausländischen Agenten“ legte Natalja Jewdokimowa vom St. Petersburger Rat für Menschenrechte vor. Zu „ausländischen Agenten“ können seit 2012 NGOs erklärt werden, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Mit den von der Duma Ende 2020 verabschiedeten Änderungen werde diese Regelung nun auf natürliche Personen ausgeweitet, erläuterte Jewdokimowa. Demnach könne schon der als „ausländischer Agent“ klassifiziert werden, der „organisatorische und methodische Hilfe“ aus dem Ausland in Anspruch nehme.

Jewdokimowa warf die Frage auf, ob auch sie als Teilnehmerin der AG „Zivilgesellschaft“ zum ausländischen Agenten erklärt werden könne. Die neuen Regelungen seien ausgesprochen vage, teils auch verfassungswidrig. Wie und auf wen diese in der Praxis angewendet würden, sei juristisch völlig unklar. Genau darin aber liege der eigentliche Clou: „Das Damoklesschwert hängt über allen.“

System ohne Opposition

Wie blicken die Menschen in Russland auf den Fall Nawalny? Jelena Shemkowa von der Gesellschaft „Memorial“, Tatjana Margolina von der Universität Perm und Tatjana Mersljakowa, Menschenrechtsbeauftragte im Gebiet Swerdlowsk, erklärten, dass die Ereignisse – Nawalnys Vergiftung, seine Rückkehr nach Russland und seine Festnahme, auch die Verweigerung von Ermittlungen – in der russischen Gesellschaft mit großer Aufmerksamkeit und Sorge verfolgt würden. Kritisiert wurde, dass Nawalnys Anhänger über soziale Medien wie TikTok auch junge Schülerinnen und Schüler zu Protesten aufriefen.

Ilja Schablinski von der Higher School of Economics konstatierte, dass die russische Gesellschaft gespalten sei: Ein Teil wolle den Status quo beibehalten, der andere wolle Veränderung. Nawalny stehe für diesen wachsenden Teil der Bevölkerung, der im politischen System nicht repräsentiert sei, weil oppositionelle Parteien von den Wahlen ausgeschlossen würden.

Für die Befürworter einer Demokratisierung zog Schablinskij, bis 2019 Mitglied des Menschenrechtsrats beim Präsidenten, ein ernüchterndes Fazit: „Wir treten dafür ein, einen ehrlichen politischen Wettbewerb zuzulassen, an dem alle wesentlichen Kräfte im Land beteiligt sind. Das wird uns verwehrt.“

Weiteres aus der AG Zivilgesellschaft

Aktuelles von der AG Wirtschaft
Corona als Sprungbrett

Wegen der Corona-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen wächst die Aufmerksamkeit für das Gesundheitswesen


von Michael Wilhelmi

Am 10. Dezember kamen keine Zweifel auf: Seit COVID-19 ist Gesundheit zum wichtigsten Faktor für die Wirtschaft geworden. Wie schon im Juni drehte sich bei der gemeinsamen Tagung der AG Wirtschaft mit der AG Gesundheit alles um die Corona-Krise. Unter der Überschrift „Aktuelle Entwicklungen der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Situation in Deutschland und Russland“ blickten die AG-Koordinatoren Andrei Klepatsch und Thomas Falk mit zahlreichen Vortragenden und Teilnehmenden auf erste Lehren und Folgerungen. Beide unterstrichen, dass Solidarität und gemeinsames Handeln – sowohl innerhalb als auch zwischen den Gesellschaften – wesentliche Faktoren für die erfolgreiche Bewältigung der Krise seien.

Doppelter Schock: Corona und sinkender Ölpreis

Wie sehr die Pandemie die Volkswirtschaften beider Länder in Mitleidenschaft gezogen hat, verdeutlichten Andrej Klepatsch, Chef-Wirtschaftsanalytiker der Staatlichen Entwicklungsgesellschaft VEB.RF, und Michael Heise, ehemaliger Chefvolkswirt der Allianz SE, im ersten Teil der Videokonferenz.

Klepatsch konstatierte für die russische Wirtschaft im Jahr 2020 einen doppelten Schock aus Corona-Pandemie und sinkendem Ölpreis. Die Erholung werde dauern. Nach wie vor hänge Russlands Wirtschaft vom Export fossiler Energie ab. Bis 2025 sei mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 2,8 Prozent zu rechnen.

In den kommenden Jahren würden rund 9,5 Trillionen Rubel in die Verkehrs- und Energieinfrastruktur, aber auch in das Gesundheitswesen investiert, um Beschäftigung zu sichern und den Strukturwandel voranzubringen. Die Staatsverschuldung bleibe trotz Investitionen und staatlicher Hilfspakete mit knapp 20 Prozent des BIP in den kommenden Jahren moderat.

Deutsche Wirtschaft wird sich erholen

Michael Heise rechnete für die stark von der Weltwirtschaft abhängige deutsche Wirtschaft mit einer Erholung. China und Asien, die die Pandemie erfolgreich bekämpft haben, seien die Motoren der Aufwärtsentwicklung. Positive Faktoren stellten auch die expansive Geldpolitik vieler Staaten und die Corona-Impfstoffe dar.

Wie überall leide auch in Deutschland der Dienstleistungssektor. Die Einkommen flössen in den Warenkonsum. Davon profitiere vor allem die Industrie. 2021 werde die Wirtschaft um 4 Prozent wachsen. Nichtsdestoweniger blieben die Belastungen: Insolvenzen, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit wie auch die drastisch bis auf 80 Prozent des BIP ansteigende Staatsverschuldung würden Deutschland noch über Jahre beschäftigen.

Gesundheit gewinnt an Bedeutung

COVID-19 kann auch Sprungbrett sein – zumindest für das Gesundheitswesen. Das erläuterte Nelli Najgowsina im zweiten, dem Thema Gesundheit gewidmeten Teil der Tagung. Die Leiterin des föderalen Zentrums für Ausbildung und berufliche Weiterbildung von Managern im Gesundheitswesen arbeitete heraus, dass der Bereich Gesundheit durch COVID-19 auf der Prioritätenliste der Gesellschaft nach oben rücke: Die Wertschätzung für das medizinische Personal sei gewachsen, und es werde mehr Geld in das Gesundheitswesen fließen, etwa für neue Kliniken und den Ausbau der Telemedizin. Für die Zukunft berge besonders die digitale Transformation des Gesundheitswesens immense Potenziale.

Ljalja Gabbasowa berichtete über Maßnahmen gegen antimikrobielle Resistenzen (AMR) in Russland. Die Referentin des Gesundheitsministers beschrieb die AMR als eine Bedrohung für Wirtschaften und Gesellschaften der ganzen Welt. Die COVID-19-Pandemie verschärfe die AMR-Problematik, die auch weit oben auf der Agenda der G20 und der WHO stehe, zusätzlich. Die vom russischen Gesundheitsministerium auch international koordinierten Maßnahmen reichten von der Sensibilisierung der Bevölkerung über medizinische Fortbildung und Forschung bis zu gesetzlichen Regelungen.

Thomas Lemke, Vorstandsvorsitzender der Sana Kliniken AG, berichtete über die infolge von COVID-19 angespannte Situation in den Krankenhäusern. In der zweiten Welle würden die Intensivkapazitäten stark in Anspruch genommen. Zudem befände sich viel medizinisches Personal in Quarantäne. Hilfreich seien die regelmäßigen Testungen und das mittlerweile ausreichend zur Verfügung stehende Schutzmaterial.

Ein Problem sei, dass derzeit nur rund die Hälfte der Mitarbeiter der Sana Kliniken bereit sei, sich impfen zu lassen. Hier müsse – wie auch bei der Bevölkerung – noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.

Neue Ansätze: Impfstoff und Bakteriophagen

Matthias Kromayer von der am Impfstoffentwickler BioNTech beteiligten MIG AG berichtete über das COVID-19-Vakzin. Der in einer Rekordzeit von sechs Monaten entwickelte Impfstoff basiere auf einer neuartigen Technologie: Das Vakzin enthalte eine genetische Bauanleitung, aus der der Körper harmlose Virusbestandteile herstellt. Gegen diese bilde dann das Immunsystem eine Abwehr.

Die mRNA-Methode habe eine Reihe von Vorteilen: Die Impfstoffe könnten rasch an mutierte oder neue Viren angepasst werden, sie seien sicher und ließen sich schnell herstellen. Auch wirkten sie in Tieren und Menschen gleich, so dass Ergebnisse auf den Menschen übertragbar seien. Die Wirksamkeit des Impfstoffs sei hoch, 95 Prozent der Geimpften würden vor einer Erkrankung geschützt. Kromayer schloss mit einem Plädoyer für privatwirtschaftliche Initiative: Innovation und wirtschaftlicher Wert entstünden aus dem Wissen der Bürger, die Aufgabe des Staates sei es, gute Rahmenbedingungen zu schaffen.

Alexander Surabow, Präsident des Entwicklers und Herstellers von mikrobiologischen Präparaten Mikromir, nahm COVID-19 zum Anlass, den Blick auf Bakteriophagen als alternative Therapie gegen Infektionen zu lenken. Bakteriophagen – für den Menschen unschädliche Viren, die Bakterien abtöten können – hätten abgesehen von der ehemaligen Sowjetunion und teilweise dem heutigen Russland nirgends Eingang in die klinische Praxis gefunden. Derzeit seien sie kaum als zugelassene Arzneimittel zu etablieren. Angesichts der positiven Erfahrungen bei Mikromir plädierte er für neue Zulassungsregeln und eine Renaissance der Phagen-Therapie.

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Aktuelles von der AG Politik
Im Dialog bleiben

Die Arbeitsgruppe Politik des Petersburger Dialogs diskutierte Perspektiven der deutsch-russischen Beziehungen


von Frank Priess

Nach längerer Corona-bedingter „Sendepause“ traf sich die Arbeitsgruppe Politik des Petersburger Dialogs am 17. Mai 2021 im Digitalformat, um den Stand der bilateralen Beziehungen zu beleuchten und Anknüpfungspunkte für eine gemeinsame konstruktive Agenda in der unmittelbaren Zukunft zu identifizieren. Basis dafür war ein 10-Punkte-Katalog, den der russische Ko-Koordinator der Gruppe, der Vorsitzende des Bildungsausschusses der Staatsduma Wjatscheslaw Nikonow, schon 2019 präsentiert hatte.

Er und der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul analysierten die verschiedenen Aspekte unter den aktuellen Rahmenbedingungen; in einem zweiten Panel widmeten sich der Leiter des Zentrums für Deutschlandforschungen am Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften, Wladislaw Below, und der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Nils Schmid, den besonderen Herausforderungen dieses Wahljahrs in beiden Ländern.

Getragen war die Diskussion vom sichtlichen Bemühen aller Beteiligten, Auswege aus der aktuellen Vertrauenskrise und der verbreiteten Sprachlosigkeit zu finden. Die Notwendigkeit jedenfalls, drängende Probleme gemeinsam anzugehen, sei nicht kleiner geworden, so der Tenor.

Covid, Klima, Rüstungsbegrenzung

Besonderer Handlungsbedarf wurde dabei eindeutig bei gemeinsamen Bemühungen zur Rüstungsbegrenzung, zur Wiederbelebung von Abrüstungsinitiativen und zur Stabilisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur gesehen; Schauplätze wie die Ukraine und das Baltikum, aber auch der Cyberraum machen die Dringlichkeit mehr als deutlich.

Großes Potential sahen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei gemeinsamen Initiativen beim Klimaschutz – hier bietet nicht zuletzt das Thema Wasserstoff Raum für reizvolle gemeinsame Projekte – und der Pandemiebekämpfung, weit über die aktuelle Covid-Lage hinaus. Erneuert wurde der Wunsch, nicht zuletzt für junge Menschen an größerer Freizügigkeit zu arbeiten.

Wie schon in früheren Sitzungen zeigten sich Unterschiede bei der Bewertung der Rolle Chinas, ein Thema, das der Vertiefung harrt. Besonders von deutscher Seite wurde der Wunsch deutlich, die Rolle von Europarat und OSZE zu stärken und die guten Dienste dort etablierter Regeln und Formate besser in Anspruch zu nehmen.

Die Arbeitsgruppe wird versuchen, sich bei den genannten Fragen in Kürze auf einen gemeinsamen Text zu verständigen, der spätestens beim – hoffentlich in Präsenz stattfindenden – Petersburger Dialog im Herbst in Kaliningrad präsentiert werden kann.

Frank Priess ist Stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und Koordinator der AG Politik von deutscher Seite.

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