„Daueraufgabe für Hochschulen“

Auf Corona-Angst folgt digitale Lehre

Vortrag auf der Videokonferenz der AG Bildung und Wissenschaft am 22. Oktober 2020: „Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Wissenschaft und Bildung“

von Clemens Renker
Corona treibt die Digitalisierung an den Hochschulen. Aber bitte nicht so eng nebeneinander sitzen.

In diesen Zeiten der zwei weltumspannenden Krisen aus der Pandemie und dem Klimawandel brauchen wir den Dialog und die Dialogik nötiger denn je, um gemeinsam im Diskurs die anstehenden Probleme zu lösen. Unsere begrenzte und endliche Welt ist das gemeinsame Lebensfeld auch unserer individuellen Lebensfelder in Russland und Deutschland.

Als geistige Lebewesen haben wir die Freiheit, die jeweilige Kreativität unserer Gedanken produktiv für die Erhaltung und Verbesserung unseres Lebens einzusetzen. Als soziale Lebewesen sind wir die einzige Spezies auf der Erde, die mit jedem Menschen an jedem Ort und zu jeder Zeit kommunizieren und kooperieren kann. Wir können dabei auch Konventionen brechen und Wertvolles neugestalten, wenn wir nur wollen.

Von daher betrachte ich gerade die Corona-Krise als große Chance von historischem Ausmaß, um die Kooperationen zwischen den Wissenschaftlern der Zivilgesellschaft zwischen Russland und Deutschland auf neue fruchtbare Wege zu bringen. Bei allen aktuellen Differenzen zwischen unseren Ländern wirkt die Pandemie durch die ausgelöste Beschleunigung zur Digitalisierung wie eine treibende Peitsche („Nudge“), die uns aus freiem Zwang dazu bringt, Richtiges zu tun: Ohne zu reisen und uns physisch zu treffen, können wir uns digital und online zu jeder Zeit und von jedem Ort austauschen und damit dennoch Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit gestalten.

In meinen drei Punkten leuchte ich auf unser Tagungsthema mit dem Scheinwerfer des Wirtschaftswissenschaftlers

- kurz auf die Ausgangssituation,

- nenne Ergebnisse im Sommersemester 2020 und

- widme mich dann vorwiegend Problemlösungen für die Zukunft.

1. Corona-Schock an den Hochschulen

Zuerst löste der Corona-Virus große Schocks an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Beginn des Sommersemesters 2020 aus. Dem Schock folgten Furcht, Streit, Rückzug und Chaos. Viele Universitäten und Kollegen verteidigten die Präsenzlehre. Selbst die Absage des Sommersemesters wurde vom Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz Peter-André Alt im April 2020 angeregt.

2. Die „erzwungene Digitalisierung“ der Lehre ist gelungen

Insgesamt haben die 424 deutschen Universitäten und Hochschulen mit ihren etwa 3 Millionen Studierenden das Corona-Semester gut gemeistert.

Innerhalb von zwei bis vier Wochen wurden in der Krise etwa neun von zehn Lehrmodulen digital angeboten. Die Universität Bamberg hat innerhalb einer Woche hundert Prozent der Lehrmodule online umgestellt. Eine Universität in Shanghai hat die Lehre schon nach einem Tag international online durchgeführt. Ein Digitalisierungs-Bench Mark. Die Staatliche Universität für Wirtschaft Sankt Petersburg UNECON hat mit ihrer Mannschaft in hervorragender Weise in kurzer Zeit eine international kompatible Online-Lehre aufgebaut.

Die Zufriedenheit der Studierenden war an den Universitäten grob betrachtet hoch – nach den mir bekannten internen Umfragen in Deutschland.

Aber einige Erkenntnisse vieler Dozenten in Deutschland lassen aufmerken: Durch die Online-Lehre werden die guten Studenten noch besser, aber die schwächeren Studenten werden tendenziell schwächer.

Und: Bei mehr als 20 Teilnehmer nimmt die Unübersichtlichkeit zu.

Welche Schritte halte ich nun weiter für wichtig und dringend, damit die Chancen der internationalen digitalen Formate in der Lehre auch wahrgenommen werden können?

3. Zentrale Bausteine des Erfolgs für die international Lehre

Die Pandemie schießt auf einmal sechs Pfeile (Five Forces-Model erweitert nach Michael T. Porter 1980) auf die Existenzfähigkeit der traditionellen Universitätsmodelle weltweit:

- Die Rivalität unter den bestehenden Universitäten wird zunehmen.

- Die Eintrittsbarrieren für neue Wettbewerber (siehe Google, Unternehmensuniversitäten etc.) zu Lehre und Transfer von Lehre sinken.

- Lehre zu nahezu Null-Grenzkosten weltweit wird Universitäten durch Substitutionsangebote bedrohen.

- Die Verhandlungsstärke der Studierenden wird durch die ubiquitären Angebote zunehmen.

- Auch die Verhandlungsmacht von Professoren und Dozenten, die in der neuen Universitätswelt Nettonutzen-Differenzierung liefern, wird steigen.

- Schließlich nehmen die Einflüsse von öffentlichen Anspruchsgruppen wie Social Media, Politik und Unternehmen enorm zu.

Kurz: die Pandemie ist zwar in erster Linie eine Herausforderung für unsere Gesundheit weltweit. Die Pandemie hat aber auch das Potenzial über den Bologna-Prozess seit 1999 hinaus die weltweite Neuverteilung und Neugestaltung des Hochschulsystems in radikaler Weise anzustoßen. Nach dem Gedicht von Hermann Hesse sollen wir aber in diesem neuen Anfang einen Zauber sehen, der uns behütet und hilft weiter zu leben und neu Erfolgsschritte der Zusammenarbeit zu gehen.

Vier Treiber des Erfolgs in der Lehre und internationalen Kooperation sind hervorzuheben. Sie sollen auch ein Anstoß sein, die vier zentralen Ebenen des „Geschäftsmodells“ Universität im eigenen Hause radikal zu überdenken.

3.1. Digitale Innovationen für dringende Bedürfnisse an den Universitäten

- Die Lehr-Module bedürfen einer weltweit konkurrenzfähigen Neu- Konfiguration nach dem Dreiklang „relevante Forschung, Lehre und Transfer“ im Sinne von Rebalancing der Modul-Portfolios.

- Die Lehrkonzepte für Vorlesungen und Seminare müssen vielerorts digital vollkommen neugestaltet werden. Viele Lehrinhalte müssen klarer und kürzer (KISS: Keep it Simple and Stupid)) präsentiert werden. Lehrinhalte dürfen und sollen die Studierenden auch unterhalten (Info-tainment, Edu-tainment), d. h. mit positiven Emotionen und guten Gefühlen motivieren. Die Lehreinhalte brauchen mehr Raum für klärende Rückfragen. Lehrinhalte bedürfen der Ergänzung von kleineren Hausaufgaben zur Vertiefung des Lehrstoffs.

Traditionelle Darbietungen des Lehrstoffs stoßen schnell auf Widerstand und Abschaltung. Präsentationen, die nicht laufend nach dem neuen wissenschaftlichen Stand aktualisiert, strukturiert und lebendig medialisiert sind, dürften in den sozialen Medien abgestraft werden.

- Einführung digitaler Sozialformate wie offene, virtuelle Austauschräume, digitale Speed-Datings, virtuelle Labore (siehe Uni Aachen), interdisziplinäre Virtual-Reality-Labore (siehe Uni Göttingen)

- Präferenz der Studierenden nach Erfahrungen des beginnenden Wintersemesters seit Anfang Oktober 2020: Tendenz zur Online-Lehre in der Zukunft, weil keine Fahrzeit, keine Fahrtkosten, weniger Aufwand, mehr Konzentration und höherer Lernerfolg.                                     Der Leitsatz für die Zukunft: soviel Präsenzlehre wie möglich, und nur so viel Online-Lehre wie nötig. Manche Kollegen sehen schon die Zukunft nur in der Online-Lehre. Dazu hebt mahnend Oblomov von Ivan Gontscharov den Finger: „Wie öde, öde, öde!… Wo bleibt da der Mensch? Wo seine Ganzheitlichkeit?“

3.2. Finanzielle Anforderungen: Geld ist da

- Auch wenn wir Menschen gierig nach Geld sind und vermeintlich nie genug Geld haben: Die Bundesrepublik Deutschland hat ausreichend finanzielle Mittel für unser Thema zur Verfügung gestellt. Die Bayerische Staatsregierung zum Beispiel will zusätzlich eintausend Professoren berufen.

Allerdings müssen die Gelder gezielt abgerufen, richtig und wirkungsvoll eingesetzt werden.

- Die Digitalisierung darf nicht als einmaliges Projekt gesehen werden. Digitalisierung in der Lehre ist eine Daueraufgabe zur Finanzierung von Updates von Hardware und Software.

- Künftig könnten auch Unternehmen, die profitieren, sich an der Finanzierung der neuen Welt der Wissenschaft und Bildung beteiligen.

- In einzelnen Fällen wird auch die Frage des finanziellen Beitrags seitens der Studierenden geprüft werden müssen.

3.3. Organisatorische und technologische Lösungen

Die Pandemie fragt uns nicht mehr, sondern sie zwingt uns, sofort, überall, umfassend, agil, flexibel und individuell die digitalen Möglichkeiten grenzüberschreitend vernünftig zu nutzen. Dazu können wir einerseits die bestehenden Strukturen und Prozesse besser nutzen. Andererseits müssen wir diese erweitern und teils vollkommen neugestalten: von der Präsenzlehre zur gemeinsamen Online-Lehre zwischen den Universitäten beider Länder. Dazu nur einige spontane Anregungen:

- Die internationale Digitalisierung der Universitäten muss Chefsache sein. Ähnlich wie Unternehmen braucht jede Hochschule einen CDO Chief Digital Officer oder CIO Chief Information Officer. Es braucht das Rektorat als Machtpromotor des neuen Weges und es braucht die Fachpromotoren, die die Prozesse in der Universität umsetzen.

- Die Dozenten brauchen eine einheitliche Hardware und Software. Derzeit arbeiten noch 70 bis 80 Prozent der Professoren mit privater Technik.

- Auch die Studierenden brauchen eine IT-Ausstattung (PC, Headset etc.), die mit der Universität kompatibel ist. Hier können Studierende vom Staat finanzielle Zuwendungen erhalten.

- Da den Studierenden der soziale Kontakt zu Dozenten und Kommilitonen fehlt, braucht es hier neue Gesprächsformate. Hier sei nur beispielhaft auf Break-out-Rooms und Virtual Reality verwiesen.

- Schließlich müssen wir lernen, mit dem Dreiklang „Maske, Hygiene, Abstand“ in entsprechender Raumqualität zu leben.

3.4. Änderungen im Denken und Handeln von Universitäten – Wege zu einer „glo-kalen“ Universitätskultur

Die COVID-19-Pandemie drängt uns dazu, Universitäten neu zu denken: lokal in der Heimat verwurzelt und global in der Welt zu Hause.

Zwei aktuelle Beispiele:

Die Universität Bamberg hat ein neues Präsidium/Rektorat seit Oktober 2020: die Professoren engagieren sich sehr stark für die Wertschöpfung in ihrer Region in Bayern. Die Universität ist in der Angewandten Wirtschafts-Informatik (AI, ML) ganz still die Nummer Eins in Deutschland geworden. Und sie kooperieren noch mehr mit Universitäten aller Kontinente durch Online-Kanäle.

Die staatliche Universität für Wirtschaft Sankt Petersburg UNECON hat am 6. Oktober 2020 unter der Leitung des Russisch-Deutschen Zentrums eine internationale Serie an Online-Kolloquien für den Theorie-Praxistransfer gestartet. Schon nach einer Woche meldeten sich zwölf Professoren verschiedener deutscher Universitäten, um jeweils am Dienstag in ihrem Fachgebiet ein international vernetztes Seminar zu halten. Die Ergebnisse sollen auch in Publikationen umgesetzt werden. Der Erfolg ist so groß, dass sich Professoren, Manager und Politiker aus mehreren Ländern schon bis zum Jahr 2021 auch als Referenten angemeldet haben.

Welche Werte sind nun Basis für eine international gelingende Kultur der Lehre?

- Vertrauen, Offenheit, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit bei respektvoller Konfrontation sind das Fundament von internationalen Universitätspartnerschaften und Solidarität.

- Agilität, Flexibilität und Schnelligkeit im Denken und Handeln der Hochschulen sind Antworten auf die uns bekannten Megatrends der Welt wie Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität, Dynamisierung, Individualisierung und Kontingenz.

- Die Dozenten lernen hybride Lehrveranstaltungen zu coachen: die Verzahnungen der digitalen Lernformate mit Präsenzveranstaltungen sind eine historische Chance der noch engeren Zusammenarbeit zwischen den Universitäten der beiden Staaten. Also: analoge Kultur mit digitaler Kultur.

- Für die Erstsemester und Austauschstudenten braucht es eine gezielte Betreuung, damit sie sich mit der Universität identifizieren können und nicht verloren gehen.

- Schließlich ist es wichtig die Ängste, Sorgen und Widerstände von Dozenten für den neuen Weg ernst zu nehmen und konstruktiv zu bearbeiten.

Wer lebt, der muss auf den dauernden Wandel gefasst sein, formulierte einst Goethe so treffend. Die COVID-19-Pandemie zwingt uns gerade, die leitenden Gedanken (Vision) der Freiheit der Wissenschaft von Ort und Zeit über alle Grenzen hinweg neu zu leben. Die Pandemie verweist uns auf unseren humanistischen Auftrag und Zweck (Mission), die Menschenwürde zu respektieren überall. Der Leidensdruck (Passion) aus der Pandemie zeigt uns wieder deutlich: Gemeinsam sind wir stark. Dazu brauchen wir den Dialog. Und es bedarf schließlich der akzeptierten Umsetzung (Rezeption) der Prinzipien der Aufklärung: Wir wollen als internationale Universitäten gemeinsam mit Anstand und Humanismus, mit Verstand und Vernunft zu wissenschaftlichem Fortschritt beitragen. Denn rational ist was dem Leben und dem Überleben der Menschheit dient.

Folgen wir dem auch in Sankt Petersburg und in meiner Geburtsstadt Bamberg früher tätigen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht die Welt auch vernünftig an.“

 

Clemens Renker lehrt Marketing, Handels- und Banklehre an mehreren Universitäten und Hochschulen. Er verfügt über mehrere Jahrzehnte Führungserfahrung in renommierten Banken, Industrie und Dienstleistern. www.ifme-institut.de

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