Das Heim soll die Ausnahme bleiben

Dokumentation: Vortrag von Anke Giesen auf der Videokonferenz der AG Zivilgesellschaft über „Pflegefamilien im Fokus der Fürsorge der Zivilgesellschaft“ am 23. Oktober 2020

von Anke Giesen

Mit den „Hilfen zur Erziehung“ ist ein Katalog von staatlich finanzierten Maßnah­men gemeint, die Eltern und anderen Erziehenden in Deutschland zustehen, wenn sie Schwierigkei­ten mit der Erziehung ihres Kindes haben. Rechtliche Grundlage ist zum einen der Artikel 6 des Grundgesetzes, in dem die „Pflege und Erziehung der Kinder“ als „natürliches Recht von Eltern und zuvörderst obliegende Pflicht“ definiert werden, über deren Umsetzung jedoch „die staatliche Gemeinschaft wacht“, woraus sich im Einzelfall eine staatliche Eingriffspflicht ableitet.

Die Maßnahmen, die Eltern unterstützen sollen, Recht und Pflicht der Erziehung adäquat auszufüllen, und staatliche Stellen berechtigen, bei mangelhafter Umsetzung einzugreifen, sind im Sozialgesetz­buch VIII, dem sogenannten Kinder- und Jugendhilfegesetz beschrieben.

In dessen ersten Paragraphen wird neben der Wiederholung der Inhalte des  Artikels 6 GG festgelegt, dass zum einen Kinder ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung haben, zum anderen Eltern ein Recht auf Beratung und Unterstützung, zudem der Staat die Pflicht, Kinder vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Die formulierten Rechte gelten für alle Eltern (unabhängig von Sorgerecht oder einer even­tuellen Beeinträchtigung) und für alle Kinder und Jugendlichen.

Um die im Spannungsfeld von Erziehungsrecht und -pflicht der Eltern, kindlichem Recht auf För­de­rung der Entwicklung und staatlichem Wächteramt sich konstellierenden Konflikte lösen zu kön­nen, wurde der Maßnahmenkatalog der „Hilfen zur Erziehung“ (HzE) bereitgestellt; er ist im SGB VIII ab §27 beschrieben. Auf seiner Grundlage sollen kommunale Jugendämter in Zusammenwirken mit Kin­dern, Jugendlichen und Erziehenden passgenaue Hilfen entwickeln, in deren Rahmen die Förde­rung der kindlichen Entwicklung und der Erhalt des elterliche Erziehungsrechts gewährleistet wird, indem elterliche Erziehungsschwierigkeiten bearbeitet oder kompensiert werden.

Hilfen zu Erziehung können von Erziehenden selbst beantragt werden, sie können aber auch als Reak­tion auf Meldungen von Kindeswohlgefährdung aus Schule, Kindertagesstätte, Nachbar­schaft oder Verwandtschaft im Rahmen des Wächteramts vom Jugendamt dringend anempfohlen oder von Familiengerichten beauflagt werden.

Ziel einer Hilfe zur Erziehung

Ziel einer Hilfe zur Erziehung ist es zuvörderst, das Wohl des Kindes sicherzustellen und Eltern und Kindern das Zusammenleben in der Familie zu ermöglichen, indem Erziehende über Beratung und/oder vorübergehende Entlastung in den Stand gesetzt werden, die Erziehung wieder selbständig zu übernehmen. Sollten die Erziehenden und /oder andere Familienmitglieder nicht über die ausreichenden Ressourcen verfügen, die Förderung des Kindes über einen längeren Zeitraum in der Familie allein sicherzustellen, kann das Ziel einer Hilfe auch darin bestehen, die elterliche Erzie­hung längerfristig zu ergänzen oder zu ersetzen.

Dauerhafte Ersetzung im Rahmen einer Pflegefamilie oder stationären Einrichtung (früher „Heim“) sollte aber die Ausnahme bleiben. Auch in diesem Falle bleibt es oberstes Ziel, die familiären Beziehungen im Rahmen von Besuchskontakten aufrecht zu erhalten. Von daher ist die Freigabe zur Adoption in Deutschland nur möglich, wenn Eltern ausdrück­lich ihrem Willen Ausdruck verleihen, jede Beziehung zum Kind aufzugeben.

Aus diesem Grund ist der Maßnahmenkatalog der Hilfen zur Erziehung in Form eines Stufenplans angelegt, sodass je nach Schwere der familiären Problemlage Eltern in ihrer Betätigung beraten, er­gänzt oder ersetzt werden können.

Der Maßnahmekatalog der HzE

Die am häufigsten umgesetzte Hilfe ist die Erziehungsberatung. Sie wird in kommunalen Erziehungs- und Familienberatungsstellen angeboten und ist allen Erziehenden frei zugänglich. Haben Kinder be­stimmte Entwicklungsschwierigkeiten, bei denen elterliche und schulische Förderung nicht aus­reicht, kann einem Kind der ein- bis zweiwöchentliche Besuch in einer von pädagogischen Fachkräf­ten ge­lei­teten sozialen Gruppe ermöglicht werden.

Sollte die Beratung in einer Erziehungsberatungs­stelle oder der Besuch einer sozialen Gruppe nicht ausreichen, um die Förderung und das Wohl des Kindes sicherzustellen, können Eltern beim Jugendamt eine ambulante Hilfe zur Erziehung in Form einer sozialpäda­gogi­schen Familienhilfe oder einer Erziehungsbeistandschaft beantragen. In diesem Fall besucht eine/r Sozialarbeiter/in mehrmals wöchentlich die Familie, um Erziehende umfassend in der Lebens­führung zu beraten oder um ein Kind oder eine/n Jugendliche/n ergänzend zu fördern. Sollten sich auch diese Maßnahmen als nicht weitreichend genug erweisen, kann der Besuch des Kin­des/­Jugend­lichen in einer teilstationären Tagesgruppe angezeigt sein.

Abends, nachts und am Wochenende ver­bleibt das Kind aber in der Familie. Sollten Eltern den Bedarf einer solchen Hilfe nicht einsehen, können diese Hilfen auch vom Familiengericht beauflagt werden.

Erst wenn die Möglichkeiten, das Wohl eines Kindes sicherzustellen, ausgeschöpft sind, weil Eltern nicht über den Willen oder die Fähigkeiten verfügen, ihre Erziehungskompetenzen zu erweitern oder anderweitig zu beeinträchtigt sind (z.B. bei schwerwiegende Krankheit im Rahmen von Alleinerzie­hen), um ihr Kind adäquat zu fördern, wird über eine Trennung von Eltern und Kind nachgedacht. Hierbei ist wichtig, dass Eltern, die sich mit der Trennung einverstanden erklären, ihr Sorgerecht behalten und bei der konkreten Ausgestaltung der Maßnahme ein Mitspracherecht haben. Nur im Falle des Nichteinver­ständnisses kann das Sorgerecht auf Antrag des Jugendamts bei Gericht entzo­gen und einem Amts­vor­mund übergeben werden. Den Eltern bleibt vorbehalten, gegen diese Ent­schei­dung Einspruch ein­zulegen.

Trennung: Möglichst familiennah

Im Fall der Trennung wird dabei immer die familiennahe Unterbringung bei Verwandten wie Groß­eltern, Onkel, Tanten etc. vorgezogen. Sollte sich das nicht realisieren lassen, muss entschieden wer­den, welche andere Möglichkeit der Unterbringung des Kindes in Frage käme. Dabei kommt es je nach Alter des Kindes und Perspektive der familiären Entwicklung zu sehr unterschiedlichen Lösun­gen.

Je jünger das Kind und je unwahrscheinlicher seine Rückkehr in die Familie ist, umso familien­ähn­li­cher sollte es untergebracht werden. Dazu kommt entweder eine Pflegefamilie oder eine Erzie­hungsstelle in Betracht. Während Eltern in Pflegefamilien nicht notwendigerweise über eine pädago­gische Ausbildung verfügen, sondern lediglich wie in Berlin eine einjährige Zusatzquali­fizierung über ca. 200 Stunden besucht haben, verfügt in der Erziehungsstelle mindestens ein Eltern­teil über eine pädagogische Fachausbildung. Dies hat den Vorteil, dass hier auch Kinder unterge­bracht werden können, die in Folge traumatischer Erfahrung (Gewalt, Missbrauch et.) Verhaltensauf­fälligkeiten ent­wickelt haben, die für „normale“ Familien eine Überforderung darstellen würden.

In beiden Hilfefor­men werden die „Ersatzeltern“ systematisch vom kommunalen Jugendamt oder im Rahmen eines freien Jugendhilfeträgers beraten und/oder supervidiert. Auch müssen sie den Kontakt zur Her­kunfts­familie ermöglichen und eventuell eine Rückführung in die Familie vorbereiten können. Selbst Gewalttäter/innen, denen das Sorgerecht entzogen wurde, bleibt der Kontakt zu ihrem Kind im Rahmen des Begleiteten Umgangs erlaubt, wenn es dem Wohl des Kindes nicht wider­spricht.

Rückkehr bleibt offen

Vor dem Hintergrund der Rückkehroption erhalten Pflegeeltern auch niemals das Sorgerecht, sondern es verbleibt bei den Eltern oder wird einem Amtsvormund zugesprochen. Eine Sonderform der Pflege­familie ist die Patenfamilie, die ein Kind, das z. B. bei einem chronisch kranken Elternteil aufwächst, über meh­re­re Jahre immer wieder in Phasen von Krisen wochen- oder monateweise aufnimmt.

Ältere Kinder und Jugendliche, die nur kurzzeitig untergebracht werden müssen, die eine neue Fami­lie nicht mehr ohne weiteres akzeptieren würden oder die schon so starke Verhaltensauffällig­keiten entwickelt habe, dass sie für eine Pflegefamilie eine Überforderung darstellen würden, werden bei Trennung von der Familie eher in einer stationären Einrichtung oder in einer Jugend-Wohngemein­schaft untergebracht. Hier gibt es keine elternähnlichen Bezugspersonen, sondern die pädagogische Betreuung wird durch pädagogische Fachkräfte im Schichtdienst erbracht.

Im Rahmen der stationä­ren Einrichtungen gibt es auch eine Reihe von Spezialeinrichtungen, die sich auf bei­spiels­weise stark traumatisierte, drogenabhängige, delinquente oder selbstverletzende Kinder und Jugendliche spezia­li­siert haben oder geschlechtsspezifische Ansätze verfolgen. Für Jugendliche, die sich kurz vor dem Ein­tritt in das Erwachsenleben befinden, gibt es das Angebot des Betreuten Einzel­wohnens, eine Hilfeform, in der der/die Jugendliche weitestgehend alleinverantwortlich lebt, aber regelmäßig zu einem/r zuständigen Sozialarbeiter/in Kontakt hat. Dieses Angebot kann mit entspre­chend angepass­ter Kontaktdichte auch über den Erwerb der Volljährigkeit hinaus aufrechterhalten bleiben und steht auch Jugendlichen offen, die aus Pflegefamilien ausgezogen sind (Hilfen für soge­nannte Care Lea­ver).

Herausforderungen für HzE

Das System der Hilfe zur Erziehung kann insgesamt als gutes Fundament für eine Umsetzung einer umfassenden Unterstützung von Erziehenden, Jugendlichen und Kindern gewertet werden. Gleich­zeitig gibt es aber auch Felder, an denen immer wieder Probleme erkennbar werden.

  • Die Bedarfseinschätzung und Konzipierung einer Hilfe, die Eltern genügend unterstützt, aber so wenig wie möglich in das Familienleben eingreift, erweist sich vor dem Hintergrund der Über­lastung der Mitarbei­tenden der kommunalen Jugendämter immer wieder als schwierig. Es wer­den häufig ohne ausreichende Prü­fung der familiären Ressourcen schnell sehr weitreichende Maß­nahmen eingeleitet, durch die sich Eltern depotenziert fühlen und die und deren Motivation zur Verhaltensänderung erlah­men lassen. Das kann zu lang an­dau­ernden, kostenintensiven Hilfever­läu­fen führen.
  • Insbesondere Pflegeeltern sind häufig von ihrem Doppelauftrag überfordert, Eltern sein zu sollen und gleich­zeitig aber auch professionell mit Herkunftseltern umgehen und eine eventuelle Rück­führung im Blick behalten zu sollen. Erziehungsstellen sind in diesem Fall die besser geeig­nete, aber auch kostenintensivere Hilfeform.
  • Die Begleitung von Übergängen aus der Familie in die Pflegefamilie oder stationäre Einrich­tung und zurück bzw. des Übergangs in das alleinverantwortliche Leben (Care Leaving) scheint im be­stehenden System trotz entsprechender Hilfeformen noch nicht optimal abgesichert zu sein.
  • Obwohl in den vergangenen Jahren viel getan wurde, um Problematiken in Eltern-Kind-Be­ziehun­gen schon frühzeitig zu erkennen und Hilfen schon bei Deutlichwerden von elterlicher Überfor­de­rung sofort bereit zu stellen (Angliederung von Familienzentren an Kin­der­­tages­stätten, Aus­bil­dung von Familienhebammen, Aufbau eines koordinierten Früher­ken­nungs­systems in Gesund­heits­wesen, Schule und Kinder- und Jugendhilfe), reicht dieses bei weitem nicht aus. Leider werden immer wie­der erst bei der Einschulung Entwicklungsdefizite bei Kin­dern deutlich, die die Folge bereits langjähriger Vernachlässigung und/oder Gewalterfahrung sind.
  • Die Unterstützung von Familien ist in Deutschland weitgehend auf die in Deutschland traditi­onell üblichen Erziehungsvorstellungen und -praktiken ausgerichtet. Fachkräfte haben oft nicht die Kom­­petenz, um angemessen mit Erziehungsstilen aus dem nichteuropäi­schen Raum umzugehen und Eltern mit Migrationshintergrund die in Deutschland geltenden Erzie­hungsnormen auf eine Weise nahezubringen, dass diese weiterhin mit ihnen kooperie­ren wollen.

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