Vergessene Opfer: Sowjetische Kriegsgefangene
Die Verbrechen der Wehrmacht an 5,7 Millionen Rotarmisten – und Rotarmistinnen
Der Historiker Nobert Frei erinnerte die Leser der Süddeutschen Zeitung kürzlich daran, „dass mit dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion vor 80 Jahren auch der Holocaust begann“. Viele, so der Historiker, würden das beim Gedenken an den 22. Juni 1941 womöglich zum ersten Mal hören.
Das könnte auch auf „eine vergessene Opfergruppe“ zutreffen, an die das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst mit einer Ausstellung erinnert: sowjetische Kriegsgefangene. Sie seien, so Museumsdirektor Jörg Morré, „museal häufig unterrepräsentiert“.
5,7 Millionen Rotarmisten gerieten in Kriegsgefangenschaft der Deutschen. Mehr als drei Millionen von ihnen starben in deutschem Gewahrsam: aufgrund von schlechter Versorgung, der Hungerpolitik im ersten Jahr des Feldzugs, aber auch durch – man muss es so nennen – Mord.
Morré weist darauf hin, dass das Kriegsvölkerrecht eindeutig ist: Eine Armee muss sich um ihre Gefangenen kümmern. „Die Wehrmacht als Gewahrsamsmacht“, sagt Morré im Garten des Museums, „ist dieser Aufgabe nicht nachgekommen. Sie klinkte sich aus dem Völkerrecht aus – bewusst.“
„Flintenweiber“: Rotarmistinnen im Krieg
Und noch eine Gruppe ist bisher in der Wahrnehmung der Deutschen unterrepräsentiert: Frauen in der Roten Armee.
Nehmen wir Nina Dmitriewna Karasewa aus Waldai. Sie diente bei einem Nachtbomber-Flugregiment, vor ihrer Festnahme im September 1943 im Rang eines Unterleutnants. 1944 wird sie aus dem Gefangenenlager entlassen und zum Arbeitseinsatz bei der Firma Opta Radio AG im schlesischen Grünberg transportiert. Aus der Kriegsgefangenen war eine „nützliche“ Zivilgefangene geworden, eine Zwangsarbeiterin. Von dort verliert sich die Spur der 22-Jährigen.
Karasewa ist eine von zwei Kronzeuginnen der Ausstellung für die Beteiligung von Frauen am Verteidigungskampf der Roten Armee. Kuratorin Babette Quinkert und ihr Team wollen mit ihrer Wanderausstellung die „Dimensionen des Verbrechens“ gegen „Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg“ sichtbar machen.
Für die meisten Deutschen dürfte „der Russe“ noch immer ein Mann sein – trotz Swetlana Alexijewitschs Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ und einer Wanderausstellung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück über „Kriegsgefangene Rotarmistinnen im KZ“.
Sie dienten als Sanitäterinnen, Krankenschwestern und Ärztinnen, aber auch als Soldatinnen, Funkerinnen, Artilleristinnen, bald auch als Offiziere, von denen die meisten sich freiwillig zum Wehrdienst gemeldet hatten. Es gab drei Fliegerregimenter und Scharfschützinnenkompanien aus Frauen.
Staunen bei der Wehrmacht über „Flintenweiber“
Erzählungen über auf die deutschen Linien zustürmende Frauenbataillone gehörten dennoch „in das Reich der Legenden und Phantasien deutscher Soldaten sowie der NS-Propaganda“, wie Jens Nagel, Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain, 2017 in seiner Gedenkrede über „Weibliche Gefangene im Kriegsgefangenenlager Zeithain“ klarstellte. „Der Einsatz der Rotarmistinnen erfolgte in der Regel in gemischten, mehrheitlich aus Männern gebildeten Kampf- und Versorgungsverbänden.“
Die Forschung über die Geschichte der Konfrontation zwischen Wehrmacht und Rotarmistinnen an der Ostfront galt dem Historiker Felix Römer schon 2008 „in den Grundzügen längst erforscht“. Der „weitaus größte Teil der Soldatinnen“ sei in den Unterstützungseinheiten der rückwärtigen Gebiete verwendet worden, „während offenbar nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Frauen in Frontverbänden zum Kampfeinsatz kam“.
Und doch: Für die Nazis galten die Frauen, derer sie habhaft werden konnten, als „verhetzte und entmenschte Kreaturen“. Die Propaganda nannte sie „Flintenweiber“, die „aus den Häusern heraus auf unsere Truppen geschossen“ hätten.
In Meyers Lexikon von 1938 hieß es, die Verwendung der Frau im Krieg „widerspricht der ihr von der Natur bestimmten Aufgabe, Mutter und Erhalterin des Volkes zu sein“. Die Sowjetunion war der einzige Staat, in dem damals Frauen dienten.
Wider das Völkerrecht: Schikanen und Morde
Und so unterlagen Rotarmistinnen in tausenden deutschen Gefangenenlagern in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, im sogenannten Generalgouvernement, in Norwegen und im Deutschen Reich, denselben Schikanen wie ihre Kameraden. Sie wurden Opfer von Erschießungen gleich nach Festnahme oder später, für die kein deutscher Soldat zur Rechenschaft gezogen wurde, starben an Unterernährung oder Epidemien. In den wenigen Monaten nach dem Überfall der Wehrmacht bis zum Frühjahr 1942 kamen mehr als zwei der bis dahin rund drei Millionen sowjetische Kriegsgefangenen ums Leben. Das Kriegsende erlebten weit weniger als die Hälfte der 5,7 Millionen Gefangenen, nur 2,5 Millionen von ihnen kehrten heim.
Das Museum hat die Fakten in neun Kapitel gegliedert: Rechtsbruch, Verelendung, Hungersterben, Aussonderungen, Arbeitseinsatz, Überleben, Kriegsende, Rückkehr, Erinnerung.
- Der Rechtsbruch besteht darin, dass auch das Deutsche Reich internationale Abkommen unterzeichnet hatte, die Kriegsgefangenen eine humane Behandlung sichern sollten. „Bei den sowjetischen Kriegsgefangenen“, so die Ausstellungsmacher, „hält die Wehrmacht diese jedoch absichtlich nicht ein.“
- Weil Verwundete und Kranke kaum adäquate medizinische Hilfe und Nahrung erhielten, außerdem die hygienischen Zustände in den Lagern katastrophal waren, breiteten sich in den Lagern bald Epidemien aus.
- In den Lagern kam es infolge von Versorgungsproblemen zu einer Art Ernährungs-Triage. Die nationalsozialistische Führung legte fest, wer zuerst ernährt werden sollte: die Arbeitsfähigen.
- Die Lagerleitungen begannen, zwischen vermeintlich gefährlichen und nützlichen Kriegsgefangenen zu unterscheiden. Nützlich waren „Hilfswillige“, die zum Teil auch in Hilfspolizei- und Militäreinheiten arbeiteten, aber auch im Sanitätsbereich, häufig Frauen. An die 800000 Gefangene arbeiteten – zum Teil freiwillig – mit den Deutschen zusammen.
- Die Wehrmacht brachte Millionen Arbeitsfähige und „Hilfswillige“ ins Reichsgebiet – zum Einsatz in Rüstungsindustrie, Bergbau und Landwirtschaft.
- Um unter häufig schlimmsten Bedingungen zu überleben, setzten sowjetische Kriegsgefangenen verschiedene, individuelle Strategien ein. Neben der Meldung als „Hilfswillige“ kam es zu allen denkbaren menschlichen Verhaltensweisen: Widerstand und Sabotage, Verrat und Diebstahl, gegenseitige Solidarität, Hilfe und Unterstützung sowie Fluchtversuchen.
- Bis zum Kriegsende befreite die Rote Armee sowie die westlichen Alliierten nur einen Teil der sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Lage der Gefangenen verschlechterte sich. Um die Lager zu räumen, trieben die Deutschen sie auf lange Fußmärsche. Es kam zu Morden, und Kranke und Schwache erholten sich nach der Befreiung nicht mehr.
- Die eineinhalb Millionen ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen, die bis März 1946 zurückkehrten, werden in der Heimat als Deserteure und Verräter verachtet. In besonderem Maß gilt das für Frauen.
- Die Erinnerung an die deutschen Verbrechen gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen war bisher genauso blass wie die Bedeutung der Sowjetunion am Sieg gegen Nazideutschland hinter die Rolle der USA zurückstand – zumindest im Westen der Republik aus ideologischen Gründen. Die Bundesrepublik verschwieg die gefangenen Rotarmisten, die DDR-Geschichtsschreibung konzentrierte sich auf den Widerstand. Die Sowjetunion gedachte den 27 Millionen Toten, zur Hälfte Zivilisten. Die Kriegsgefangenen galten dort nicht als ehrwürdig, viele verloren ihre vorherige Arbeit und mussten Zwangsarbeit leisten. ihr Stigma als Verräter oder Kollaborateure wurde erst in den postsowjetischen Staaten korrigiert.
Die Ausstellung zeigt außerdem zwölf Biografien und damit die Vielfalt der Angehörigen der sowjetischen Armee, auch die Vielfalt der Schicksalswege. Die Bilder der Schau sind meistens sognannte Täterbilder, Aufnahmen der Angehörigen der Propagandakompanien der Wehrmacht sowie Privatfotos: „Das sind oft die letzten Bilder dieser Menschen“, so Barbara Quinkert, „insbesondere die Bilder im Sommer 41 sind die letzten Zeugnisse dieser Menschen.“
Protest des ukrainischen Botschafters
Kurz vor Eröffnung der Ausstellung meldete sich ein weiterer Vergessener zu Wort. Der ukrainische Botschafter hat es abgelehnt, an der zentralen Gedenkrede des Bundespräsidenten teilzunehmen, die er anlässlich der Ausstellungseröffnung am 18. Juni in Karlshorst hielt. Dass die Rede im Deutsch-Russischen Museum stattfinde, empfand Andrij Melnyk als „Affront“. Mit dem Namen des Museums beanspruche Russland ein Monopol auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg.
Dem Tagesspiegel sagte er: „Die Schuld der Deutschen für die Nazi-Verbrechen wird nach wie vor nur gegenüber Russland und den Russen in Betracht gezogen“, so Melnyk. „Dabei werden andere Nationen wie die Ukrainer, die aufs Massivste gelitten haben, aber auch Belarus und die baltischen Länder, schlicht und einfach ignoriert.“
Er nennt dies „unsensibles Herangehen“ und „ein weiteres Zeugnis fehlenden Bewusstseins für die Gefühle und die Befindlichkeiten der Ukrainer, die als eine der größten Opfernationen übersehen werden“. Der Name des Museums setze die UdSSR mit Russland gleich, was eine Geschichtsverdrehung darstelle.
„Überraschend ist das nicht“, sagte Direktor Morré am Tag vor Steinmeiers Rede. Aber er könne der Argumentation des ukrainischen Botschafters „nicht folgen“.
Das Deutsch-Russische Museum sei ursprünglich ein sowjetisches Militärmuseum gewesen. Nachdem die Sowjetunion zerfallen war, so Morré, „saßen nur noch Russen und Deutsche am Tisch“. Das Museum sei im Vereinsregister als Berlin Karlshorst Museum gemeldet, man werbe aber mit dem zugkräftigeren Namen Deutsch-Russisches Museum. Er will aber durchaus konzedieren, dass das „unsauber formuliert“ sei. Aber bei seiner Arbeit behalte das Museum „den ukrainischen Aspekt im Blick“.
Wie zur Bestätigung flatterten zur Eröffnung der Ausstellung vier Fahnen im heißen Wind: die deutsche, die russische, die belarussische und die ukrainische.
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