Putin: Von Chruschtschow nichts gelernt
Chruschtschow trieb die Kubakrise nicht zum Äußersten, bei Putin bestehen Zweifel
Sechzig Jahre nach der Kubakrise sieht sich die Welt einmal mehr mit dem Schreckgespenst eines nuklearen Konflikts konfrontiert. Der russische Präsident Wladimir Putin scheint seinen Krieg in der Ukraine zu verlieren, und er eskaliert seine Drohungen immer weiter. So hat er behauptet, womöglich Nuklearwaffen einsetzen zu müssen, um Russland, einschließlich seiner neu „annektierten“ ukrainischen Gebiete, zu schützen.
Die Frage ist, nun da Putin die Welt an den Rand des Abgrunds führt, ob er einen Schritt zurückweichen wird, wie das der sowjetische Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow 1962 tat.
Chruschtschow hatte sich in jenem Sommer in Reaktion auf die Entscheidung der USA, Nuklearwaffen in Nato-Ländern einschließlich der Türkei zu stationieren und diese auf sowjetische Städte zu richten, bemüht, gleiche Verhältnisse herzustellen, indem er die heimliche Stationierung von Mittelstreckenraketen in Kuba befahl. Die Waffen sollten zugleich das kubanische Regime vor einer US-Invasion schützen.
Als US-Präsident John F. Kennedy am 16. Oktober 1962 herausfand, was Chruschtschow getan hatte, schäumte er vor Wut. Nicht nur hatten die Sowjets Nuklearwaffen unmittelbar vor Amerikas Küsten stationiert; sie hatten sie dort auch Monate lang vor den USA verborgen gehalten.
Zwei Wochen lang tauschten Kennedy und Chruschtschow Briefe und öffentliche Erklärungen aus. Aus Chruschtschows Perspektive spiegelte Kennedys Reaktion seine Unerfahrenheit wider, und er versuchte, Provokationen zu vermeiden, indem er es nicht zuletzt unterließ, auf die US-Raketen in der Türkei zu verweisen. Während dies womöglich seinen Interessen gedient hätte, indem es auch moralisch Gleichheit hergestellt hätte, hätte es auch einen US-Angriff auf Kuba auslösen können. Stattdessen erläuterte Chruschtschow, dass es dabei lediglich um ein Bemühen um Parität ging, und dass er keine Absicht habe, die Raketen zu stationieren.
Aber Kennedy gab nicht nach, und daher passte Chruschtschow, der keinen Atomkrieg riskieren wollte, seine Strategie an. Man einigte sich: Die Sowjets würden ihre Waffen aus Kuba abziehen, und die USA würden ihre Jupiter-Raketen aus der Türkei abziehen und von einer Invasion Kubas absehen.
Man sollte noch anmerken, dass der US-Abzug der amerikanischen Raketen aus der Türkei erst Jahre später bekannt wurde; Chruschtschow gestattete Kennedy, sich als Sieger darzustellen. Wie der verstorbene Michail Gorbatschow 1985 bemerkte: „Beide Seiten und ihre Führer waren klug genug und hatten den Mut, einige sehr wichtige Entscheidungen zu treffen. Die Geschichte ist in dieser Hinsicht sehr interessant, wenn man versucht, Lehren aus ihr zu ziehen.“
Ungelernte Lehren der Geschichte
Leider versuchen das heutzutage nur wenige Politiker. Sie scheinen, wie der russische Historiker Wasili Kljutschewski im 19. Jahrhundert anmerkte, lieber abzuwarten, bis die Geschichte uns für unsere ungelernten Lehren bestraft. Nirgends ist das offensichtlicher als in Putins Kreml.
Die Beschwerden, die der russischen Invasion der Ukraine vorweggingen, sind ein Widerhall jener, die Chruschtschows Entscheidung zur Stationierung von Nuklearwaffen in Kuba auslösten: Die US-geführte Nato dringt in vom Kreml als seine Einflusssphäre betrachtete Regionen vor und umgibt Russland mit ihren Waffensystemen. Und ganz ähnlich wie Chruschtschow Kennedy unterschätzte scheint Putin das Bekenntnis von US-Präsident Joe Biden zur Unterstützung der Ukraine unterschätzt zu haben.
An dieser Stelle jedoch gehen die beiden Geschichten auseinander. Statt wie Chruschtschow seine Strategie anzupassen, um eine Katastrophe zu verhindern, verschärft Putin seine Drohungen, die die gelegentlichen Zusicherungen aus dem Kreml überschatten, er plane nicht, Nuklearwaffen einzusetzen.
Und während Chruschtschow und Kennedy einander nie persönlich beleidigten (obwohl sie hitzige öffentliche Reden hielten), geben sich die Vertreter beider Seiten keine Mühe, ihre Rhetorik zu mäßigen. Putin hat den Westen aller möglichen Missetaten bis hin zum „reinen Satanismus“ beschuldigt. Biden seinerseits hat sich faktisch für einen Regimewechsel in Russland ausgesprochen, und Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, fordert einen Sieg der Ukraine auf dem Schlachtfeld.
Zugleich scheint es anders als 1962 keine Diplomatie durch die Hintertür zu geben. Alle Brücken für pragmatische Diskussionen – ob öffentlich oder nicht – wurden abgebrochen. Auch dies ist eine Lehre aus der Kubakrise, die unbeachtet geblieben ist.
Natürlich hat Biden bislang den Fehler vermieden, eigene nukleare Drohungen auszustoßen. Stattdessen hat er die Gefahr beschworen und gewarnt, der Welt drohe ein „Armageddon“, falls Putin in Ukraine eine taktische Nuklearwaffe einsetze.
Putins geänderte Eskalationsstrategie
Also hat stattdessen Putin seine Eskalationsstrategie geändert und beschuldigt die Ukrainer, den Einsatz einer radiologischen „schmutzigen Bombe“ zu planen. Zugleich greift Russland methodisch die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur der Ukraine mit konventionellen Waffen an. Angesichts dieses offensichtlichen Täuschungsmanövers haben wir schlicht keinen Grund zu der Annahme, dass ein nuklearer Angriff für Putin nicht zur Debatte steht.
Für Chruschtschow dagegen tat er das. Als am 27. Oktober 1962 – dem sogenannten Schwarzen Samstag – entgegen Chruschtschows Befehlen ein amerikanisches U-2-Aufklärungsflugzeug über Kuba abgeschossen wurde, verlangte der kubanische Ministerpräsident Fidel Castro, dass Chruschtschow einen sofortigen Atomschlag einleiten solle, um den nun nach Castros Ansicht unmittelbar bevorstehenden US-Angriff auf Kuba abzuwenden.
Wie wir wissen, folgte Chruschtschow Castros Forderung nicht. Er reagierte auch nicht, als später am selben Tag eine weitere U-2 versehentlich kurzzeitig in den sowjetischen Luftraum eindrang. Stattdessen zog er eine entscheidende Lehre: Wenn Nuklearwaffen im Spiel sind, können selbst kleine Vorfälle schreckliche Folgen haben. Und wenn die Spannungen groß sind, wird ein derartiges Ergebnis nahezu unvermeidlich. Dies motivierte ihn, eine Lösung für die Krise auszuhandeln.
Als Chruschtschow 1964 gestürzt wurde, warfen seine Kollegen im Politbüro ihm vor, er habe die Sowjetunion schwach erscheinen lassen, indem er ihre Raketen aus Kuba abzog. Doch besaß Chruschtschow die Klugheit, keinen apokalyptischen Krieg zu beginnen, nur um das Gesicht zu wahren. Besser war es, eine Lösung auszuhandeln, die den grundlegenden Interessen der UdSSR diente, indem sie einen Verbündeten schützte, den Abzug von US-Massenvernichtungswaffen aus der Türkei herbeiführte und einen Dialog über nukleare Abrüstung einleitete. Putin hat keine derartige Klugheit gezeigt.
Wir sollten vielleicht nicht überrascht sein, dass der Kreml nichts aus den Ereignissen des Jahres 1962 gelernt hat. Chruschtschow war im Kern ein Politiker. Putin war ein KGB-Offizier mittleren Ranges und wird es immer bleiben.
Aus dem Englischen von Jan Doolan.
Copyright: Project Syndicate 2022.