Nikita Chruschtschow

Chruschtschow: Der Entstalinisierer

Vor 50 Jahren, am 11. September 1971, starb der Reformer Nikita Chruschtschow

von Alexander Frese
Nikita Chruschtschow (1894 –1971)

Als Nikita Chruschtschow am 11. September 1971 im Alter von 76 Jahren starb, war sein friedliches Lebensende noch ein Resultat und Spiegelbild seiner Liberalisierungspolitik. Sieben Jahre zuvor, am 13./14. Oktober 1964, hatte ihn das Plenum des Zentralkomitees auf Betreiben Leonid Breschnews und anderer Politbüromitglieder seines Amtes enthoben.

Für das Sowjetsystem war das ein Novum. Erstmals entledigte sich die politische Führung ihres Chefs und regelte die Nachfolgefrage auf unblutige Weise. In den vorangegangenen Stalinjahren war ein Sturz in politische Ungnade für die Mitglieder der politischen Führung gleichbedeutend mit einem vorzeitigen und gewaltsamen Lebensende.

Auf Chruschtschow hingegen wartete – obschon er gegen seinen Willen aus der Macht gedrängt wurde – der politische Ruhestand. Den allerdings nutzte er als Memoirenschreiber so, dass er sich bei den neuen Machthabern nachhaltig unbeliebt machte.

Chruschtschows unglückliche Reformen

Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 folgte auf eine ganze Reihe innen- und außenpolitischer Fehlschläge. Das sowjetische Wirtschaftswachstum hatte sich in den letzten Jahren seiner Herrschaft zunehmend verlangsamt und die Produktivität sank erstmals. 1963 kam es zu einer solchen Missernte, dass die Sowjetführung sich genötigt sah, Getreide aus dem westlichen Ausland zu importieren. Anstelle der großartigen Versprechungen des 1959 verabschiedeten Siebenjahresplans und des Parteiprogramms vom 22. Parteitag 1961 stellten sich Versorgungsengpässe und steigende Preise ein. Das Missverhältnis zwischen einer von Versprechungen beförderten Erwartung und tatsächlich tristen Realitäten schürte den Unmut über die resultierende Senkung des Lebensstandards.

1962 kam es in vielen Städten zu Demonstrationen und Unruhen. In Nowotscherkassk wurde ein Aufstand sogar blutig niedergeschlagen.

Auch außenpolitisch war Chruschtschows Bilanz sehr gemischt. Die Rücknahme der sowjetischen Raketen aus Kuba hatte zwar die Lösung der dramatischen Kubakrise ermöglicht; wurde aber in der sowjetischen Führung von vielen als dem internationalen Prestige der Sowjetunion abträglich angesehen. Die „Lösung“ der von Chruschtschow 1958 provozierten Berlinkrise mit dem Mauerbau von 1961 hatte aus sowjetischer Sicht einen ähnlich ambivalenten Ausgang gefunden, der die ursprünglichen Ziele weit verfehlte. Und der 1960 offen zutage tretende sowjetisch-chinesische Gegensatz bedrohte die Führungsrolle Moskaus nun auch im kommunistischen Osteuropa.

Zweifellos hatte Chruschtschow politische Fehler begangen und mit zahlreichen erratischen Reformprojekten, insbesondere im Bereich der Landwirtschaft und Wirtschaftspolitik, eine unglückliche Figur gemacht. Doch die innen- und außenpolitische Bilanz seines Vorgängers Stalin war keineswegs besser – ganz im Gegenteil, der despotische Alleinherrscher hatte sich verheerende außenpolitische Fehleinschätzungen zuschulden kommen lassen und die eigene Bevölkerung jahrelang einer blutigen Schreckensherrschaft ausgesetzt.

Chruschtschow hat die UdSSR entstalinisiert

Dennoch wäre es unter Stalin undenkbar gewesen, was Chruschtschow im Oktober 1964 widerfuhr: die Bildung einer innerparteilichen Opposition, die sich des Parteichefs nach geheimer Absprache entledigte – ohne ihn freilich, auch das eine Neuerung, anschließend vor ein Erschießungskommando zu stellen.

Das nämlich war Chruschtschows eigentliches und historisches Verdienst: Er hatte die Sowjetunion entstalinisiert und vom willkürlichen Massenterror befreit. Diese Erlösung von der Gewalt galt gerade auch für den innerparteilichen Umgang. Man brachte sich nicht mehr gegenseitig um.

Die Vergehen Stalins gegen die eigenen Genossen waren schon in Chruschtschows Abrechnung auf dem 20. Parteitag das Leitmotiv seiner Anklage gewesen. Seine Absetzung im Oktober 1964 war die Probe aufs Exempel. Sie zeigte, dass der neue zivilisatorische Standard galt. Auch seine Gegner – wie Chruschtschow selbst, hartgesottene frühere Stalinisten – sahen keinen Grund mehr, den entmachteten Regierungschef durch einen Schauprozess verurteilen lassen zu müssen.

Chruschtschow selbst war sich dieser Tatsache gut bewusst. Noch in der Präsidiumssitzung, in der er zum „freiwilligen“ Rücktritt genötigt wurde, erklärte er seinen Widersachern, dass die Form, wie man ihn absetze, sein größter Erfolg sei – ohne Angst, durch Vorschlag und Abstimmung.

Mit der unblutigen Auswechslung des politischen Führers trat auch die Frage, wie mit einem ehemaligen Staats- und Parteichef nach seiner Entmachtung zu verfahren sei, erstmals auf die Agenda einer Sowjetführung. Auf der einen Seite stand die Furcht, Chruschtschow könne ein politisches Comeback versuchen oder sich in den politischen Betrieb der neuen Führung einmischen. Der ehemalige Regierungschef wurde deshalb weitgehend von seiner Umwelt isoliert.

Gleichzeitig blieben ihm zahlreiche Privilegien weiter erhalten. So wurde ihm zunächst eine Wohnung in Moskau gestellt, dazu eine Datscha auf dem Land – die allerdings beide „verwanzt“ waren. Ein Dienstwagen, das Recht auf Nutzung der Kreml-Klinik und Kreml-Restaurants; sowie eine monatliche Rente von 500 Rubeln als „Pensionär von Unionsbedeutung“ wurden ihm ebenfalls zugestanden. Die ihm gestellte „Leibwache“ war tatsächlich jedoch weniger ein Privileg als eine Dauerbeschattung.

Und dann schrieb er seine Memoiren

Doch schon bald wurde ihm die Moskauer Stadtwohnung wieder abgenommen. Ein frei in Moskau verkehrender Chruschtschow versetzte die Regierung leicht in allzu große Nervosität. Besucher auf der verbliebenen Datscha wurden vom KGB streng untersucht oder ausgesondert. Auch aus sowjetischen Zeitungen verschwand der zuvor fast allgegenwärtige Regierungschef über Nacht fast vollständig.

Zwar wurde er nicht mit einer Schmutzkampagne überzogen, aber kaum ein Wort und keine Würdigung wurden ihm zuteil. Über Chruschtschow wurde der Schleier des Schweigens und offiziellen Vergessens gezogen.

Zwei Jahre später, im Sommer 1966 – nachdem er eine schwere psychische Krise in Folge seiner plötzlichen Entfernung aus dem Zentrum der Macht überstanden hatte – machte sich Chruschtschow daran, seine Memoiren zu schreiben. Der entmachtete Sowjetführer war empört über seine Abwesenheit und falsche Darstellungen in den Memoiren einiger Sowjetgrößen, die Mitte der 1960er-Jahre erschienen – so zum Beispiel die Lebenserinnerungen des Kriegshelden Schukow.

Auch hier war die Zensur am Werk, die den gestürzten Sowjetführer selbst in diesem Bereich nicht länger dulden wollte. Die Grenzen der Chruschtschowschen Liberalisierung waren nicht weniger deutlich als ihre Errungenschaften.

Der ehemalige Parteichef glaubte in einer anhaltenden Fehleinschätzung seiner Lage zunächst, dass er seine Memoiren in der Sowjetunion frei veröffentlichen könnte. Doch schon 1966 wurde er erstmals von Breschnew vorgeladen, der ihn von seinem Vorhaben abbringen wollte.

Im März 1970 kam es zu einer erneuten Vorladung, in deren Folge der alternde Chruschtschow einen Herzinfarkt erlitt. Als er am 10. November 1970 ein drittes Mal einbestellt wurde, explodierte der alte Mann und bestand in einem Wutausbruch auf seinem Recht, seine Lebenserinnerungen schreiben und veröffentlichen zu dürfen.

Kurz zuvor war bekannt geworden, dass Chruschtschows Memoiren in den Vereinigten Staaten erscheinen würden. Ende Dezember 1970 war die Sensation perfekt – „Khruschchev Remembers“ wurde von Little, Brown and Company in den USA veröffentlicht. Mit Hilfe seines Sohnes Sergei hatte Chruschtschow – erzürnt über den immer stärkeren Widerstand gegen das Verfassen seiner Memoiren – Vorkehrungen treffen lassen, um die Publikation seiner Lebenserinnerungen notfalls auch im Ausland zu ermöglichen.

Der vollständige Text der Memoiren konnte erst nach dem Ende der Sowjetunion veröffentlicht werden – in Russland konnten sie dann überhaupt das erste Mal erscheinen. Nach seinem Tod am 11. September 1971 war Chruschtschow der inzwischen fest etablierten Breschnew-Führung noch immer ein solcher Dorn im Auge, dass selbst seine Beerdigung ein Politikum war: Der Nowodewitschi-Friedhof wurde während des Trauerzugs hermetisch abgeriegelt.

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