Die Sowjets wollten keine Mauer
60 Jahre Mauerbau: Ulbricht brauchte sie, Chruschtschow fürchtete sie, Kennedy nahm sie in Kauf
Nikita Chruschtschow hatte nicht die Absicht, eine Mauer zu bauen. Der sowjetische Staatschef lehnte einen solchen „Schutzwall“ ab, acht Jahre lang. Er fürchtete fürs sozialistische Lager, was heute Imageschaden heißt – und eine Konfrontation mit den militärisch weitaus potenteren Vereinigten Staaten.
Walter Ulbricht aber brauchte die Mauer, weil ihm die Menschen davonliefen. Das war ein Brain Drain, den die junge Deutsche Demokratische Republik (DDR) sich nicht leisten konnte. Vor allem gut ausgebildete Fachkräfte, die im Westen mit besseren Verdiensten rechnen konnten, verließen das Land. Das waren diejenigen, die den neuen Staat hätten aufbauen sollen.
Schon Anfang der fünfziger Jahre gab es deshalb in der DDR Pläne, neben der fast 1400 Kilometer langen Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland auch die Berliner Sektorengrenze zu befestigen, um den Sozialismus ungestört aufbauen zu können. Dabei ging es nicht nur um die 45 Kilometer lange Grenze zwischen den westliche und östlichen Sektoren Berlins, sondern die gesamten knapp 168 Kilometer rund um die Westsektoren, das „Schaufenster des Westens“.
Nach Stalins Tod aber ließ dessen Nachfolger Chruschtschow die Ostdeutschen unmissverständlich wissen, dass eine solche Abriegelung „politisch unannehmbar und allzu einfach“ sei; das würde die Wirtschaft lähmen, die öffentliche Ordnung stören und Unzufriedenheit schüren – nicht nur mit der Regierung der DDR, sondern auch mit der Sowjetunion und deren Streitkräften. Vor allem aber würden die Beziehungen zu den anderen Siegermächten belastet. Stattdessen solle Ulbricht „seinem unnachgiebigen innenpolitischen Kurs mäßigen und das Leben in der DDR für ihre Bürger lebenswerter gestalten“.
Ulbricht hielt Chruschtschow, der sich um Entspannung bemühte, für zu nachsichtig gegenüber den Westmächten, welche die DDR nicht anerkennen wollten, die Russen aber die BRD als souveränen Staat anerkannten. Auch dass die UdSSR ihre Besatzungszone lange bluten ließ, ihr Reparationszahlungen abverlangten, während Westdeutschland von den Amerikanern durch Kredite und den Marshallplan gepäppelt wurden, warf Ulbricht den Genossen in Moskau vor. Letzteres sei „der Hauptgrund dafür, dass wir in der Arbeitsproduktivität und im Lebensstandard so weit hinter Westdeutschland zurückgeblieben sind. Der konjunkturelle Aufschwung in Westdeutschland, der für jeden Einwohner der DDR sichtbar war, ist der Hauptgrund dafür, dass im Verlaufe von zehn Jahren rund zwei Millionen Menschen unsere Republik verlassen haben." Das wirksamste Gegenmittel aber, die später euphemistisch „antifaschistischen Schutzwall“ genannte Mauer rund um Westberlin, versagten sie ihm.
Die US-Historikerin Hope M. Harrison, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 viele den Mauerbau betreffenden Akten in Moskau einsehen konnte, urteilte: „Im Grunde machte Ulbricht die Sowjets für die aktuelle Krise einschließlich der Massenflucht verantwortlich.“
Die Erkenntnis, dass die Führungen der UdSSR und der DDR in dieser Frage gänzlich zerstritten waren, brachte Harrison aus der Sichtung der maßgeblichen Archive in Moskau und Berlin mit. Ihr Buch aus dem Jahr 2003 („Driving the Soviets up the wall“) ist 2011 auch in Deutsch erschienen. Titel: „Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach.“
Chruschtschows hoffte vergebliche auf Kennedy
Chruschtschow, durchaus von Ulbrichts Penetranz bezüglich der gewünschten Abschottung genervt, setzte dagegen statt auf Repression gegen die deutsche Bevölkerung auf einen Friedensvertrag mit den Westmächten und die Vereinigung Berlins als neutrale „Freie Stadt“ – was er wiederum inklusive Abzug der alliierten Truppen aus Berlin am 27. November 1958 durch ein Ultimatum (sechs Monate) durchsetzen wollte. Am Ende wäre ein neutrales Deutschland gestanden, so der Plan – das aber damit potenziell einer Aggression der UdSSR ausgesetzt schien. Und so stieß Chruschtschow bei US-Präsident Dwight D. Eisenhower auf taube Ohren.
Das Problem aber blieb; die Zahl der Fluchten über die „offene Grenze“ Berlins nahm zu, und Ulbricht erschwerte den Verkehr zwischen den beiden Teilen der Stadt. Im Juni 1961 schließlich warnte der sowjetische Botschafter in Ost-Berlin Michail Perwuchin Außenminister Gromyko, die Ostdeutschen planten, „die Tür in den Westen“ zu schließen.
Chruschtschow hoffte auf ein Gipfeltreffen mit dem neuen US-Präsidenten. Allerdings kam der Herrscher im Kreml beim Wiener Treffen mit John F. Kennedy Anfang Juni 1961 keinen Zentimeter voran. Kein Wunder: Nach Chruschtschows Vorstellungen würde nach einem Friedensvertrag der Zutritt zu Westberlin „selbstverständlich mit Genehmigung der Regierung der DDR erfolgen“. Für Kennedy aber waren und blieben drei „Essentials“ unverhandelbar: freier Zugang nach Berlin, Westmächte in der Stadt, Freiheit der Bevölkerung West-Berlins.
Kennedy sagte Chruschtschow klipp und klar: „Wenn wir dem Vorschlag der Sowjetunion zustimmen, wird die ganze Welt den Schluss ziehen, dass die USA ein Land seinen, das seine Verpflichtungen nicht ernst nimmt.“
Chruschtschow antwortete auf Kennedys Nein zur Unterzeichnung des Friedensvertrags: „Sie wollen den Kriegszustand in Westberlin aufrechterhalten.“ Und er beteuerte: „Wir wollen Frieden.“
Kennedy: „Wenn ich den Frieden nicht wollte, wäre ich nicht hierher gekommen. Es ist leicht, einen Krieg zu entfesseln, Herr Vorsitzender, aber es ist schwer, den Frieden zu sichern.“
Chruschtschow: „Ich will Frieden und einen Friedensvertrag mit Deutschland. (…) Beachten Sie also, Herr Präsident, dass dies unser unumstößlicher Entschluss ist und wir den Friedensvertrag im Dezember dieses Jahres unterzeichnen werden.“
Kennedy: „Ja, es scheint einen kalten Winter zu geben in diesem Jahr.“
Trotz Harrisons Erkenntnissen wird der Ausgang dieses Gipfeltreffens herangezogen, die Verantwortung für den Mauerbau dem sowjetischen Führer zuzuschreiben: „In diesen Tagen in Wien reifte im sowjetischen KP-Chef der Entschluss, eine Mauer um Westberlin zu errichten oder anders gesagt: Die DDR abzuriegeln.“
Wie Chruschtschow sich Ulbricht beugte
Es war Ulbricht, der nun handelte – klandestin. Die Unzufriedenheit war groß in seinem Land, nicht nur wegen der Zwangskollektivierung. Mehr als hunderttausend Menschen hatten im ersten Halbjahr 1961 der DDR den Rücken gekehrt. Er wollte die Mauer.
Botschafter Perwuchin blieben die Pläne Ulbrichts offenbar nicht verborgen. Er räumte in Schreiben nach Moskau ein, dass „bei einer Zuspitzung der politischen Lage geschlossene Grenzen notwendig werden könnten“. Es sei notwendig, die eventuelle Einführung eines „Staatsgrenzregimes an der Sektorengrenze“ – „bauliche Hindernisse“, Polizeiposten, Kontrollen wo S- und U-Bahn die Zonengrenzen überquerten – zu planen, weil „wir (...) politische Schwierigkeiten zu erwarten hätten“.
Ulbricht aber spielte noch mit verdeckten Karten: Auf eine „Mauer“ angesprochen ließ er hören: „Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht (...). Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“
In der Nacht auf den 13. August 1961 jedoch, Sonntag um 1:11 Uhr, sendete der Ost-Berliner Rundfunk eine Sondermitteilung: „Die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten wenden sich an die Volkskammer und an die Regierung der DDR mit dem Vorschlag, an der Westberliner Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt und rings um West-Berlin eine verlässliche Bewachung gewährleistet wird.“
Nun räumte Chruschtschow gegenüber dem westdeutschen Botschafter in Moskau, Hans Kroll, ein: „Die Mauer ist auf dringenden Wunsch Ulbrichts von mir angeordnet worden.“
Immerhin: Harrison konnte in den Archiven Beleg dafür finden, dass Chruschtschow die Vorbereitungen der DDR zur Schließung der Grenze rings um West-Berlin schon drei Wochen vor dem 13. August militärisch absicherte. Er hatte sich den Wünschen des Ostberliner Regimes nicht mehr verweigern können.
Der achtjährige Widerstand war an Ulbrichts Hartschädlichkeit gebrochen. In seinen Memoiren schrieb Chruschtschow: „Hätte es die DDR geschafft, das moralische und materielle Potenzial (ihrer Bürger) zu erschließen, dann wäre der Übergang zwischen Ost- und West-Berlin in beide Richtungen uneingeschränkt durchlässig geblieben.“ Und so schlussfolgert Harrison: „Für ihn stand fest: Es war Ulbrichts Schuld, dass dieser Fall nicht eintrat.“
Was John F. Kennedy – jenseits öffentlicher Äußerungen – vom Mauerbau hielt, soll er einem Mitarbeiter anvertraut haben: „Die Mauer ist keine sehr schöne Lösung. Aber sie ist immerhin besser als Krieg.“