Stalins Pakt mit Hitler

Geschichtslügen: In Putins Russland beginnt der Krieg noch immer 1941, Stalins Westerweiterung scheint vergessen

von Wolfram Küther
Hitler und Stalin
Clifford Kennedy Berryman (The Washington Star) fragte sich schon 1939, wie lang die Ehe zwischen Hitler und Stalin halten werde.

Wladimir Putin ist gerade 70 geworden und hat demzufolge seine Schul- und Studienzeit – wie viele ältere Wähler – zur Zeit des Kalten Kriegs und des Eisernen Vorhangs gemacht. Und in dieser Zeit gab es in den beiden Systemen unterschiedliche Darstellungen über den Ablauf des Zweiten Weltkriegs und seine Folgen, selbst innerhalb des Ostblocks gab es differierende Lesarten über bestimmt Abläufe, zum Beispiel über den Ablauf des Warschauer Aufstands, den die Polen natürlich anders darstellten als DDR-Geschichtsbücher.

Einige stalinistische Wahrheitsverdrehungen (heute „Fake News“ genannt) kamen erst nach 1991 ans Tageslicht, und zu der Zeit hatten dann viele Berufstätige in Europa ganz andere Sorgen, als historische Wälzer über den Stalinismus zu lesen. So sicher auch Wladimir Putin, der 1989 seine Haut im Hauptquartier des KGB Dresden nur mit einer kecken Lüge retten konnte. Möglicherweise ist die Überhöhung der sowjetischen Leistung beim Kampf gegen Nazideutschland auch einer der Gründe, warum er den Zusammenbruch der UdSSR als „größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.

Putin und der Hitler-Stalin-Pakt

Etwas anderes ist viel schlimmer – und zwar der Umstand, dass die beiden größten Verbrecher Europas, Hitler und Stalin, zur gleichen Zeit konkurrierend an der Macht waren, mit verheerenden Folgen. Durch die monströsen Untaten des Ersteren wurden die des Zweiteren überdeckt, aber während mit dem Hitler-Regime nach 1945 abgerechnet werden konnte (nicht so flott, wie man es sich im Nachhinein gewünscht hätte), wurden Stalins Verbrechen und Fehler so lange geleugnet und falsch dargestellt, dass er im heutigen Russland immer noch von rund der Hälfte der Bevölkerung (52 Prozent) als „großer Staatsmann“ angesehen wird.

An diesem Narrativ arbeitet Putin derzeit auch kräftig mit, wenn zum Beispiel von offizieller Seite versucht wird, den Hitler-Stalin-Pakt als „genialen Schachzug“ darzustellen. Das ist er aber mitnichten. Leider muss man jetzt tatsächlich bis zum Ersten Weltkrieg zurückgehen, wenn man das deutsch-russische Verhältnis begreifen will.

Bei den Versailler Verträgen nämlich saßen sowohl Deutschland als auch Russland am Katzentisch als nicht vollwertige Gesprächsteilnehmer. Daraus ergab sich eine Kumpanei der deutschen Reichswehr mit der UdSSR, die während der Weimarer Republik illegale Übungen mit illegalen Waffengattungen in Russland machte und somit (auch) beim Aufbau der Roten Armee half.

In der Serie „Babylon Berlin“ wurde das so ganz nebenbei gezeigt, was viele irritiert haben dürfte. Möglicherweise war die Kumpanei auch ein Grund, warum sich Stalin 1939 dann mit Ribbentrop auf den oben erwähnten Pakt einigte – und in einem geheimen Zusatzprotokoll (was über 50 Jahre bestritten wurde) die Aufteilung Polens festschrieb.

Das Massaker von Katyn

Dieses „geheime Zusatzabkommen“ zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurde immerhin bis 1990 in kaum einem Geschichtswerk des Ostblocks erwähnt, wie auch der „Grenzvertrag“ vom September 1939 zwischen Deutschland und der UdSSR nach Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen (mit anschließender Siegesfeier). Ebenso hat Stalin in der Zeit des Kalten Kriegs nie zugegeben, dass er direkt nach dem Überfall Deutschlands im Rahmen des „Lend-Lease Acts“ von den (damals noch neutralen!) USA Material für die Kriegsführung erhalten hat, was möglicherweise auch zu dem in der DDR verklärten Geschichtsbild der UdSSR als alleinigem Sieger über den Faschismus führte.

Der Kurator des Museums Karlshorst – vormals Deutsch-Russisches Museum Karlshorst – hat daher immer die undankbare Aufgabe, einerseits die unbestrittenen Gräuel der deutschen Eroberer darzustellen, aber eben auch die Untaten des NKWD in Polen zu dokumentieren, die erst in der kurzen Phase russischer Selbstkritik unter Boris Jelzin endlich offengelegt wurden. Dazu gehörte dann eben endlich auch das Eingeständnis, dass das Massaker von Katyn eben nicht von Deutschen, sondern von Russen verübt wurde.

Die endgültige Aufdeckung der Katyn-Lüge

Der große Regisseur Polens, Andrzej Wajda, hat dieses Drama und die 50-jährige Lügengeschichte als einen seiner letzten Filme inszeniert („Das Massaker von Katyn“, 2007). Dieser Film reißt einem den Boden unter den Füßen weg und man wünscht sich, dass alle Russen ihn ansehen sollten, damit auch sie sich endlich einmal ihrer Vergangenheit stellen. Er wurde 2007 zwar im russischen Fernsehen gezeigt, aber zu vorgerückter Stunde und nicht in allen Programmen und auch nicht im Kino, wahrscheinlich steht er jetzt in Russland auf dem Index wegen russlandfeindlicher Indoktrination.

Die endgültige Aufdeckung der Katyn-Lüge – nur als wichtigstes Beispiel stalinistischer Propaganda – dauerte eben an: von 1991 bis 2000. Und das Hin und Her um ein Denkmal und die Aufschriften darauf war leider nicht das Ende des Dramas: Als man sich endlich geeinigt hatte, wollte eine große polnische Delegation zur Kranzniederlegung nach Smolensk 2010 anreisen, aber das Flugzeug mit dem Zwillingsbruder von Jaroslaw Kaczyński Lech und etlichen Honoratioren stürzte ab – ohne Überlebende.

Es ist quasi bewiesen, dass ein technischer Defekt die Ursache war, aber in Polen halten sich natürlich auch andere Gerüchte, denn schließlich gibt es auch in Polen die alte Volksweisheit: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht.“

Stalin war ein skrupelloser Machtpolitiker

Hier liegt das Dilemma russischer Außenpolitik. Lügen haben nämlich so ihre eigene Dynamik: Wenn man sie lange genug vor sich herschiebt, glaubt man am Ende selbst daran. So auch die „alternative Wahrheit“, dass Stalin das Ribbentrop-Angebot nur deshalb unterschrieben hat, um der Roten Armee Vorbereitungszeit für den nachfolgenden Waffengang zu schaffen. Das war mit Sicherheit nicht der Fall, denn dann hätte Stalin sich nicht nach dem Einfall in sein Land eine ganze Woche Zeit gelassen, um zu reagieren.

Das kann man sich in Zeiten der globalen Informationsketten heute gar nicht mehr vorstellen: Stalin verkriecht sich eine Woche in seiner Datscha, und als das Politbüro dort endlich erscheint, rechnet er sogar mit seiner Absetzung. Schließlich hatte er vorher in seiner Paranoia die Rote Armee, die Trotzki aufgebaut hatte, durch Absetzung etlicher Führungskräfte immens geschwächt und eben diesen Trotzki bis weit nach Übersee verfolgen und umbringen lassen, weil er überall Verrat witterte.

Russlands Westerweiterung

Aber alles dies wurde in keinem Geschichtsbuch des Ostblocks bis 1991 erwähnt. Möglicherweise bekamen noch nicht einmal KGB-Offizielle solche Informationen. Stattdessen heißt dort der Zweite Weltkrieg noch immer der Große Vaterländische Krieg und beginnt – wie auf allen sowjetischen Kriegerdenkmälern zu lesen ist – immer erst 1941. Und über das, was zwischen 1939 und 1941 so alles passiert ist, haben Polen, Estland, Lettland, Litauen und eben auch Finnland doch eine grundsätzlich andere Sichtweise als die Stalin-Verehrer in Russland und anderswo.

Diese Zeit könnte man auch als eine „Westerweiterung“ Russlands bezeichnen, wenn schon ständig die „Osterweiterung der Nato“ als Kampfbegriff benutzt wird. Der hohe Blutzoll, den die sowjetischen Republiken alle im Zweiten Weltkrieg opfern mussten, ist fürchterlich, und wer Arno Surminskis „Vaterland ohne Väter“ gelesen hat, schämt sich entsetzlich für seine deutschen Vorfahren, die wie die Berserker unter der Bevölkerung gewütet haben. Aber dass ein Teil der vielen Toten auf Stalins Schuld zurückzuführen ist (Verhaftungen von 80 Prozent der Generalität, Schauprozesse, Einmischung in die Taktik der Militärs), wird bis heute nicht erwähnt und bedarf eigentlich einer Aufarbeitung.

Derzeit macht Putin fast schon wieder die gleichen Fehler. Es wird Zeit, dass die Völker der ehemaligen Sowjetunion sich endlich mit Stalins Machtpolitik in Europa auseinandersetzen und dass alle Lügen und verdrehten Fakten auf den Tisch kommen. Aber bei einem Politiker, der aus der Fälschungsfabrik KGB hervorgegangen ist, der seine Gegner meucheln und vergiften lässt und hinter allen Freiheitsbewegungen angebliche Faschisten als Drahtzieher vermutet, habe ich da wenig Hoffnung.

Wolfram Küther ist Stadtführer in seiner Geburtsstadt Berlin.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 10.11.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.

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