Zeitenwende: Nur Worte statt Taten?
Zweifel am Versprechen einer selbstbewussteren und weniger zweideutigen Außenpolitik der Bundesregierung
Nur wenige Tage nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz, dass Deutschlands Ansatz in der Verteidigungs- und Außenpolitik eine Zeitenwende erfahren werde. Seitdem hat er in verschiedenen Kommentaren und Reden sein Engagement für eine stärkere europäische Sicherheitsintegration und wirtschaftliche Koordinierung bekräftigt. Im September kündigte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock an, dass Deutschland eine stärker wertebasierte, „feministische“ Außenpolitik betreiben werde, um die liberale Ordnung gegen Autokratie zu verteidigen.
Die beabsichtigte Botschaft ist, dass Deutschland eine Außenpolitik aufgeben wird, die von vielen anderen als zu passiv, unnachgiebig und zweideutig kritisiert worden ist. Viele Jahrzehnte lang war Deutschland nur allzu bereit, mit Autokraten Geschäfte zu machen, obwohl es sich zu einer auf europäischen liberalen Werten basierenden Außenpolitik bekannt hatte.
Bei der harten Machtausübung verhielt sich das Land als Trittbrettfahrer und versäumte es häufig, seine Verbündeten zu konsultieren oder ihren legitimen Anliegen die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Weil es für Deutschland massive Vorteile mit sich brachte, hielt es an dieser zwiespältigen Position fest.
Die deutschen Bundeskanzler – von Helmut Kohl in den 1990er-Jahren bis zum heutigen Amtsinhaber Scholz – haben stets geglaubt, dass Handelspolitik und Dialog die Beziehungen zu tatsächlichen und potenziellen Gegnern verbessern würden. Deutschland widersetzte sich wichtigen Verbündeten wie den Vereinigten Staaten und Frankreich und baute wirtschaftliche Abhängigkeiten auf, die letztlich gegen Deutschland verwendet werden konnten.
Als Russland in die Ukraine einmarschierte, hatte Putin die deutsche Erdgasversorgung fest im Griff. Und als es Xi Jinping gelang, China in eine De-facto-Diktatur zu verwandeln, war Deutschlands massiver Exportsektor entscheidend von China abhängig geworden.
Zeitenwende: Kluft zwischen Worten statt Taten
Meint es die derzeitige deutsche Regierung ernst mit einer selbstbewussteren und weniger zweideutigen Außenpolitik? Die ersten Anzeichen deuten leider auf das Gegenteil hin. Die alte Kluft zwischen Deutschlands erklärten Bestrebungen und seinen Taten bleibt bestehen. Nach der Ankündigung, die Ukraine zu unterstützen, hat die Regierung nur zögerlich militärische und logistische Hilfe gewährt, und die versprochene Verstärkung der Bundeswehr ist bereits weit hinter dem Zeitplan zurück.
Darüber hinaus wird Deutschland durch seine einseitigen Maßnahmen zur Abfederung der höheren Energiepreise innerhalb der Europäischen Union zunehmend isoliert. Diese mangelnde Abstimmung hat die deutsch-französischen Spannungen in besorgniserregendem Maße verschärft.
Die Zweideutigkeit der deutschen Außenpolitik
Was die wertebasierte „feministische“ Außenpolitik angeht, so hat Baerbocks Büro bereits den ersten Test nicht bestanden, da es zu langsam auf die von Frauen angeführten Proteste im Iran reagierte. Und Scholz hat mit seinem Besuch in China in diesem Monat die Zweideutigkeit der deutschen Position noch verstärkt. Er sagte, sein Ziel sei es, China davon zu überzeugen, Druck auf Russland auszuüben, keine Atomwaffen einzusetzen. Aber wenn das wirklich das Ziel seines Besuchs war, warum hat er dann auch eine Reihe von Führungskräften deutscher Unternehmen mitgebracht?
Allgemeiner ausgedrückt: Warum hat es Deutschland geschafft, seine engsten Verbündeten zu entfremden, während es gegenüber gegnerischen Mächten wie Russland und China nachgiebig war? Ich sehe vier Gründe, die miteinander zusammenhängen.
Erstens mangelt es der deutschen Außenpolitik an langfristigem strategischem Denken, was es für eine grundlegende Regel der Geopolitik blind macht: Bedingungen können sich – und tun es oft – radikal ändern.
Bis zu Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine Anfang dieses Jahres hatte Deutschland keinen „Plan B“. Es hatte kaum die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es eine Alternative zu der nach dem Kalten Krieg herrschenden endlosen wirtschaftlichen Globalisierung geben könnte, die die Verbreitung liberaler Werte und der Demokratie vorantreibt. Das deutsche Außenministerium blieb angesichts des Aufstiegs des Trumpismus, der illiberalen Demokratie, der russischen Kriegstreiberei und eines durch und durch autokratischen Chinas dem Gruppendenken verhaftet.
Der zweite Grund ist die enge Verbindung zwischen den Interessen deutscher Unternehmen und der deutschen Außenpolitik. Es ist nur leicht übertrieben zu sagen, dass das, was Deutschland seine Außenpolitik nennt, in Wirklichkeit vor allem eine Handelspolitik ist. So ist es in eine prekäre Abhängigkeit von russischer Energie und Exporten nach China geraten. Die Regierungen von Gerhard Schröder und Angela Merkel wurden von den Interessen der Unternehmen in diese Richtung gedrängt.
Es war das deutsche Großkapital, das die „Nord Stream 2“- Pipeline mit ihrem Versprechen auf billiges russisches Gas wollte, und es sind deutsche Exporteure, die das Land noch abhängiger von der chinesischen Wirtschaft gemacht haben als von Russland. Einige der Unternehmen, die die Wiederaufnahme der russischen Gaslieferungen fordern, hatten auch Vertreter, die mit Scholz nach Peking reisten, darunter der Chemiegigant BASF als Paradebeispiel. Die ungesunde Nähe der deutschen Regierung zum Großkapital kompromittiert immer wieder ihre anderen Verpflichtungen gegenüber nationalen und europäischen Interessen.
Der dritte Faktor ist das Phänomen der „Permakrise“. Nach ihrem Amtsantritt vor einem Jahr hatte die derzeitige Regierung Scholz keine Zeit, in den Arbeitsmodus zu kommen und mit der Umsetzung der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Reformen zu beginnen – von denen viele die Trägheit der Merkel-Jahre überwinden sollten.
Stattdessen musste sich die Regierung mit der Pandemie, dem russischen Einmarsch in der Ukraine, der Energiekrise, dem Zustrom von einer Million Flüchtlingen, der Inflation, einer sich verlangsamenden Wirtschaft, Infrastrukturproblemen, der schleppenden Digitalisierung und den Forderungen Polens nach Reparationen aus dem Zweiten Weltkrieg befassen. Die deutsche Regierung ist überlastet und hat nicht die Kapazität, so viele Krisen auf einmal zu bewältigen. Sie hat es versäumt, sich um diplomatische Routineangelegenheiten zu kümmern, wie etwa die Koordinierung der Waffenbeschaffung mit Frankreich.
Und schließlich hat Deutschland eine komplexe, fragile Koalitionsregierung, die oft aneinander vorbei arbeitet, da sie unter den Schönwetterbedingungen von Ende 2021 geschmiedet wurde. Langwierige Debatten zwischen verschiedenen Unterkoalitionen verzögern Entscheidungen, frustrieren deutsche Wähler und Verbündete im Ausland und führen oft zu schlechten Ergebnissen.
Die drei wichtigsten Ministerien werden von den beiden Koalitionsparteien geführt, die am wenigsten Gemeinsamkeiten haben. Mit den Grünen an der Spitze des Außen- und des Wirtschaftsministeriums und den Freien Demokraten an der Spitze des Finanzministeriums sind die Koordinierungsfehler Legion. Dies zeigte sich bei der Deckelung der Gaspreise, der China-Reise von Scholz und den Energieeinkäufen zu hohen Preisen, die andere europäische Länder verdrängten.
Einmal mehr zeigt Deutschland einen beunruhigenden Mangel an Empathie gegenüber Verbündeten und an Mut gegenüber Gegnern. Ohne beides kann es keine Zeitenwende geben.
Übersetzung: Andreas Hubig / Copyright: Project Syndicate 2022