Olaf Scholz: Der Zeitenwendeversteher
Nicht alles gelingt Olaf Scholz‘ Regierung, aber Deutschland bleibt Europas größte Hoffnung
Die Rede des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz in einer Sondersitzung des Bundestags zu Russlands grundlosem Angriff auf die Ukraine ist inzwischen mehr als sechs Monate her. Er sagte: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf (...) oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus. Ja, wir wollen und wir werden unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand sichern.“
Als Olaf Scholz diese Zeitenwende, also einen historischen Wendepunkt diagnostizierte, befand sich Deutschland in einem tiefen Schock. Das Land erlebte den völligen Zusammenbruch der strategischen Grundsätze, die mit der neuen Ostpolitik des damaligen Außenministers Willy Brandt und deren zentraler Prämisse „Wandel durch Handel“ etabliert wurden. Ihre Grundlage war die Hoffnung, dass wirtschaftliche, kulturelle und andere Beziehungen zu tatsächlichen und potenziellen Gegnern zu einer langsamen Annäherung führen würden. Nach 1989 wurden die friedlichen politischen Umbrüche in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern zur Blaupause dafür, wie die Welt funktionieren sollte.
Putins Angriffskrieg erschütterte diese Annahmen und zwang Scholz dazu, eine der tiefgreifendsten politischen Wenden der deutschen Nachkriegsgeschichte vorzunehmen. Unter anderem kündigte er an, seine Regierung werde die Ausgaben für die Streitkräfte mit einem speziellen Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro enorm aufstocken, die Ukraine militärisch unterstützen, sich für ein gemeinsames Sanktionspaket gegen Russland stark machen, die deutsche Energiepolitik radikal umstellen und die Handelspolitik des Lands mit autokratischen Regimen (insbesondere China) überprüfen, um künftige Abhängigkeiten zu vermeiden.
Kurz gesagt versprach Scholz, Deutschland werden bei der Verteidigung der liberalen Weltordnung eine wesentlich aktivere Rolle übernehmen als bisher. Aber obwohl keines dieser politischen Vorhaben zurückgenommen wurde oder gescheitert ist, sind einige davon ins Stocken geraten und andere kommen nur langsam voran.
Die Dreierkoalition hält
Auf der Plusseite hat Deutschlands komplizierte Dreierkoalition bisher gehalten, was an sich schon ein Erfolg ist. Während Scholz‘ Sozialdemokraten in den Umfragen abgestürzt sind, konnten die Grünen ihr starke Stellung halten auch dank der Beliebtheit ihres Führungspersonals wie des Wirtschaftsministers Robert Habeck und der Außenministerin Annalena Baerbock.
Und was noch wichtiger ist: Die Regierung konnte sich mit ihrem Narrativ gegen die Putinversteher durchsetzen, die in Deutschland im gesamten politische Spektrum, jedoch insbesondere innerhalb der SPD, in eindrucksvoller Zahl zu finden sind. Diejenigen, die für einen Deal werben, bei dem die Ukraine Gebiete an Russland abtritt, haben ihren politischen Einfluss verloren.
Trotz der hohen Inflation gab es bisher kaum Streiks und nur wenige Demonstrationen gegen die Politik der Regierung. Auch die meisten Deutschen sind der Ansicht, dass Deutschland in erneuerbare Energien investieren und sich wirtschaftlich unabhängiger machen sollte. Und es wurden bereits kurzfristige Maßnahmen für den Fall ergriffen, dass Russland seine Energielieferungen nach Europa komplett einstellt.
Aber obgleich es der Regierung gelungen ist, zu wichtigen Themen einen politischen Konsens herzustellen, kommt sie an vielen Fronten aufgrund von ererbten Problemen, Unfähigkeit oder, in manchen Fällen, politischem Opportunismus nicht voran.
Baustellen: Streitkräfte, Schienennetz, Energie
Erstens hat sich herausgestellt, dass die Streitkräfte in einem viel schlechteren Zustand sind als angenommen. Auch deshalb sind die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine winzig im Vergleich mit anderen Nato-Ländern. Die Bundeswehr ist schlicht ihrem Auftrag nicht gewachsen. Ein wesentlicher Teil der versprochenen 100 Milliarden Euro wird lediglich vergangene Versäumnisse ausgleichen, jedoch keine neuen Kapazitäten aufbauen.
Dass Finanzminister Christian Lindner von der FDP auf die Einhaltung der Schuldenbremse besteht und die höheren Verteidigungsausgaben somit auf Kosten anderer Programme gehen werden, macht die Sache auch nicht gerade einfacher. In ihrem Haushalt für 2023 plant die Regierung einen bemerkenswerten Rückgang der Neuverschuldung (von 138,9 Milliarden auf 17,2 Milliarden Euro), was automatisch Ausgabenkürzungen bei Sozialleistungen, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und anderen wichtigen Bereichen bedeutet.
Die deutsche Haushaltspolitik passt in keiner Weise zu den drängenden Problemen, die das Land zu lösen hat. Obwohl Deutschland bei Wirtschaft, Energie und Sicherheit vor massiven Herausforderungen steht, erklärt sein Finanzministerium weiterhin einen ausgeglichenen Haushalt zum obersten Ziel und legt damit der restlichen Regierung eine Zwangsjacke an.
Zusätzlich belasten zahlreiche Altlasten Scholz‘ Regierung. Aufgrund verpasster Reformen in Angela Merkels Amtszeit wird der Ausbau der Wind- und Sonnenenergie durch eine überbordende Bürokratie behindert. Auch bei den Themen e-Governance und digitale Verwaltung hinkt Deutschland kläglich hinterher. Zwar hat die Regierung vor kurzem eine neue Digitalstrategie angekündigt, diese wird jedoch erst in vielen Jahren konkrete Ergebnisse zeigen.
An anderer Stelle haben neue Initiativen Versäumnisse in der Vergangenheit sichtbar gemacht. So sollte beispielsweise ein extrem niedriger Tarif für den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr Energie einsparen. Stattdessen war das Schienensystem, in das über Jahrzehnte auch aufgrund einer verpfuschten Privatisierung viel zu wenig investiert wurde, durch den starken Anstieg der Fahrgastzahlen überfordert. Inzwischen sind die Beihilfen für die Tickets ausgelaufen und werden vermutlich nicht verlängert.
Ein weiteres Problem ist schlichte Inkompetenz. Nehmen wir die Energieumlage, eine finanzielle Rettungsaktion für Unternehmen, denen aufgrund der hohen Gaspreise die Insolvenz droht. Ab Oktober sollen deutsche Haushalte pro Kilowattstunde zusätzliche 2,4 Cent zahlen, um das Wegbrechen russischer Gaslieferungen abzufedern. So wie die Maßnahme gestaltet wurde, können nun aber auch diejenigen Energieunternehmen ihre Verluste im Gasgeschäft ausgleichen, die in anderen Bereichen weiterhin gewaltige Gewinne einfahren.
Schlimmer noch: Deutschland plant weiterhin die Stilllegung der letzten beiden verbliebenen Kernkraftwerke und lehnt Fracking weiterhin kategorisch ab, obwohl es Energie importiert, die anderswo durch Kernkraft oder Fracking gewonnen wurde.
Trotz allem: Scholz lenkt standhaft
Trotz allem erweist sich Scholz als standhafter Staatslenker. Bei aller Vorsicht versteht er den Ernst dieser Zeitenwende. Deutschland fehlt es nicht an Problemen, von der Sicherheitsbedrohung durch Russland und der politischen Instabilität des westlichen Bündnisses bis zu undemokratischen Entwicklungen und einer drohenden Wirtschaftskrise in der Europäischen Union.
Im Juli kündigte Scholz in einem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung konsequente Reaktionen auf diese Probleme an. Dabei forderte er, die EU müsse zu einem geopolitischen Akteur werden und Deutschland zu diesem Zweck auf Souveränität verzichten.
Auch in seiner aktuellen Rede in Prag bekräftigte er seine Forderung nach einer Reform der EU und sprach sich für Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat, mehr Kooperation in der Sicherheitspolitik, eine Reform des Stabilitätspakts und eine Erweiterung um die Staaten des Weltbalkans, die Ukraine, Moldau und Georgien aus.
Mit seiner relativ stabilen Wirtschaft, einem starken Engagement für die liberale Ordnung und die EU und einer funktionierenden Regierung ist Deutschland in der aktuellen Krise womöglich Europas größte Hoffnung, vorausgesetzt die Unterstützung der USA für die Ukraine bleibt so stark wie bisher.
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