Alla Pugatschowa: Mutige russische Popdiva
Wie Russlands ewige Schlagerkönigin mit einem Instagram-Post die Herzen ihrer Landsleute explodieren ließ
Als Michail Gorbatschow gestorben war, der in den Augen der einen den Kalten Krieg beendet und in denen der anderen das sowjetische Paradies zerstört hatte, und als gleich danach auch noch Königin Elisabeth II. gestorben war, die mit ihrem Leben die riesige Epoche vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu vielleicht dem Vorabend des Dritten abgedeckt hatte, und als Wladimir Putin schon den siebten Monat die Ukraine angriff, der Welt immer lauter mit einem Atomkrieg drohend – da kehrte plötzlich die Königin der vor Langem verschwundenen Sowjetunion nach Moskau zurück und ließ mit einem Post auf Instagram die Herzen von Millionen Menschen explodieren. So könnte ein Kapitel in Geschichtsbüchern der Zukunft beginnen, wenn diese Geschichte weiterklänge und wenn die große Geschichte endlich beschlösse, uns ihre helle Seite zu zeigen.
Es gibt keinen Menschen, der in der späten Sowjetunion geboren wurde und nicht wüsste, wer Alla Pugatschowa ist. In meiner Kindheit erklang sie aus allem, was damals spielte: Fernsehen und Tonbandgeräten. Das war die Musik unserer Eltern, mit der man in der Jugend unweigerlich in Konflikt gerät.
Aber je größer der zeitliche Abstand zur Kindheit wird, fängt sie wieder an, einen zu berühren, denn ihre Melodien haben sich in die Fragmente deiner Kindheit eingeprägt. Wenn diese Musik erklingt, siehst du dich selbst klein, barfuß, sorgenlos, die Eltern jung und glücklich und den Himmel klar und sonnig. So arbeitet die Erinnerung.
Die gleiche Chemie des Gehirns überträgt vermutlich auch irgendetwas an jene Millionen von Russen, die heute wollen, dass die UdSSR zurückkommt. Ihnen erstrahlt ein chemisches Paradies der Nostalgie, das es in Wirklichkeit nie gab. Und besonders deutlich erstrahlt es, wenn die Musik der Kindheit erklingt, deren strahlendster Stern ohne Zweifel Pugatschowa ist.
Die Königin der sowjetischen Popmusik
Tolstoi hat gesagt, er hasse die Musik, denn anders als alle anderen Künste dringt sie unkontrollierbar in deine Seele ein. Sie macht mit dir gegen deinen Willen, was sie will. Wenn Musik erklang, musste er immer weinen.
Der erwachsene Mensch von heute kann wenigstens kontrollieren, welcher Musik er erlaubt, seine Seele zu umspülen, während man die Musik der Kindheit, die Eltern, das Vaterland oder das Imperium, in dem man geboren wird, nicht wählen kann. Als dein Bewusstsein erwachte, wusstest du im Grunde schon, wer Pugatschowa ist, denn ihre Lieder erklangen, als du noch kein Bewusstsein hattest. Dein Verstand konnte zu den Tönen von „Harlekin“ erwachen – ihres ersten verrückten Schlagers, nach dem sie die unhinterfragte Königin der sowjetischen Unterhaltungsmusik wurde und diesen Titel über mehrere Jahrzehnte hielt.
Mit anderen Worten: Pugatschowa ist für Millionen sowjetischer Säuglinge das, was Elvis Presley und Frank Sinatra für meine amerikanischen Altersgenossen sind, die Beatles den Briten oder Abba den Schweden – die Musik der Eltern und der Kindheit. Kaum war in Schweden Abba entstanden, haben die Sowjets Alla gefunden.
Nur mussten Amerikaner, Franzosen, Briten oder Schweden nach dem natürlichen jugendlichen Aufruhr nicht mehr mit den Idolen ihrer Eltern im Konflikt liegen. Doch uns traf dieses Schicksal.
Als die Sowjetunion zusammengebrochen war, war die ganze russische Popmusik mit der imperialen Vergangenheit verbunden, und es war nötig, die ganze Kulturschicht der Kindheit mit ihren Zeichentrickfilmen und Spielfilmen, der Musik und den Witzen aus sich selbst zu verdrängen. Das heißt, alles, was von äußeren Kräften vorgegeben worden war und nicht mit deiner Identität, Nationalität und so weiter verbunden war.
Der ewige Star
Ich kann mich nicht erinnern, je auf Youtube oder Spotify nach Pugatschowas Liedern gesucht zu haben. Ich habe sie auf Reisen durch Russland und andere postsowjetische Länder gehört, und ja – sie haben die Seele berührt, irgendwelche Wellen haben sie überspült, aber die kamen nicht aus der Kindheit, sondern von irgendwo weiter her, wie aus einem anderen Leben. Als wenn du und deine Kindheit verschiedene Dinge wären, das eine aus dem anderen erwachsen, aber nicht identisch.
Andererseits schien Pugatschowa, ähnlich wie Elizabeth II., ewig zu sein. Als dein Bewusstsein reifte, war sie schon ein strahlender Star, während deiner Volljährigkeit war sie noch immer auf dem Zenit, und als du anfingst, selbst alt zu werden, begann sie einen Hochzeitsmarathon. Und nicht einfach Hochzeiten – jede war skandalöser als die vorige.
Ein Bräutigam war achtzehn Jahre jünger als sie, und ganz Russland stöhnte, erschauderte, aber das bremste Pugatschowa nicht – Scheidung und nächste Hochzeit. Beim zweiten Versuch betrug der Altersunterschied 27 Jahre. Es wurden zwei Säuglinge adoptiert, deren Volljährigkeit sie (gebe Gott ihr Gesundheit) mit mehr als achtzig Jahren erleben wird.
All das hielt sie im Zentrum der Aufmerksamkeit und auf dem Olymp des Tratsches. Als sich der Autoritarismus in Russland verdichtet, verhält sie sich zurückhaltend, politisiert nicht. Nachdem am 24. Februar der Krieg begonnen hat, verlässt sie mit der Familie das Land.
Ihre Rückkehr wirkte wie eine Kapitulation
Ihr Mann Maxim Galkin, der berühmteste Stand-up-Comedian Russlands, beendet das Schweigen sofort, spricht über alles klar und scharf und verbaut sich so jeden Weg zurück. Pugatschowa schweigt derweil. Und plötzlich kehrt sie Ende August zur großen Überraschung aller nach Moskau zurück. Ohne Mann, aber mit beiden Kindern. Das Schuljahr beginnt, die Kinder müssten in die Schule, sagt sie zu Journalisten.
Ein anderer Satz verbreitet sich durch die russischen Portale: „Ich mache Ordnung in den Köpfen.“ Als eine der Ersten kommt sie, um sich vom verstorbenen Gorbatschow zu verabschieden, mit leichtem Sarkasmus gibt sie es den russischen Propagandisten zurück, die sie und ihren Mann angreifen. Und all das sieht aus wie eine Niederlage: wie ein Versuch, den mit der Ausreise aus Russland begonnenen Protest gegen den menschenfressenden Krieg – wenn auch stolz – zu beenden, sich nach und nach wieder im Vaterland zu legitimieren, die Augen davor verschließend, wohin es sich bewegt.
So enttäuschend schien diese Rückkehr für mich, der ich alles von außen beobachte. Sie und ihr Mann waren ohne Zweifel das berühmteste russische Paar, das Russland aus Protest verlassen hatte.
Ein Russe versuchte mir zu erklären, dass sie mit ihrer Rückkehr den Kreml herausfordere. Ungefähr so: Ich bin Pugatschowa, die Königin der Herzen, was könnt ihr mir tun? Ich lebe und werde leben, wo und wie ich will.
Ich habe das nicht geglaubt. Ich hielt das für eine Kapitulation. Aber dann vergehen nicht ganz drei Wochen, und zum ersten Mal seit der Existenz des Internets beginne ich meinen Tag in Vilnius damit, dass ich Pugatschowas Lieder in voller Lautstärke abspiele.
Was sie sagte, ist heute sehr mutig
Was ist passiert? Auf den ersten Blick nichts Besonderes. Pugatschowa hat darauf reagiert, dass das russische Justizministerium ihren Mann zum „ausländischen Agenten“ erklärt hat. Sie antwortet mit einem einfachen Post auf Instagram, der weit entfernt ist von der Schärfe, mit der sich viele Kritiker des Kreml-Regimes äußern:
„Ersuchen an das Justizministerium der Russischen Föderation. Ich bitte darum, mich in die Reihen der ausländischen Agenten meines geliebten Lands aufzunehmen, denn ich bin solidarisch mit meinem Mann, einem ehrlichen, anständigen und aufrichtigen Menschen, einem echten und nicht käuflichen russischen Patrioten, der dem Vaterland ein Aufblühen und friedliches Leben wünscht, Freiheit des Worts und eine Beendigung des Sterbens unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zum Ausgestoßenen machen und das Leben unserer Bürger erschweren. Alla Pugatschowa“
Wären das die Worte von irgendjemand anderem gewesen, wäre es nicht zur Explosion von Kommentaren im Netz gekommen. Aber das hat ein Mensch geschrieben, der immer noch direkten Zugang zu den Herzen mehrerer Generationen von Russen hat, diejenige, deren Stimme im Bewusstsein von Millionen ihre Kindheitserinnerungen, Leidenschaften der Jugend, erste Küsse begleitet und die illusionäre Nostalgie für die Sowjetzeit, die in der Erinnerung so viel mehr Licht hervorruft, als dort wirklich war.
Ja, in diesem Post ist kein Wort über die Leiden der Ukraine, die getöteten Zivilisten, die bombardierten Städte, aber man muss die Hörerschaft verstehen, an die sich diese Worte richten, und die Umstände, unter denen sie veröffentlicht wurden. Pugatschowa sagt das nicht aus dem sicheren Ausland, sondern nach der Rückkehr in das von Repressionen terrorisierte Russland. Sie hat ihre Kinder mitgebracht, den verletzlichsten Teil von jemandem.
Das zu sagen, was sie gesagt hat, ist im heutigen Russland sehr mutig, und ich fürchte mich sogar davor, darüber zu spekulieren, wie das für sie endet, ob die Usurpatoren im Kreml es wagen, ihre Hand gegen die wirkliche Königin der russischen Herzen zu erheben. Wie dem auch sei, sie hat damit all den schweigenden russischen Stars ein starkes Beispiel gegeben, dass es an der Zeit ist, keine Angst mehr zu haben und nicht mehr sklavisch vor dem Grau mit Schulterklappen auf die Knie zu gehen, das entschieden hat, farbig zu werden, indem es sich mit Blut in die Geschichte einschreibt.
Es ist gut möglich, dass diese Geschichte keine Fortsetzung findet. Die Antwort des Kremls auf alle solche Funken der Hoffnung ist immer die gleiche – neuer Schrecken. Sie haben schon die Mobilmachung verkündet. In Russland herrscht nackte Panik, man versucht die Nächsten aus dem Land zu bringen, die zum Dienst einberufen wurden. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse wird schon versucht, Pugatschowa der Diskreditierung der russischen Streitkräfte zu beschuldigen. Und vielleicht wird sie morgen oder übermorgen, nach Drohungen gegen sich selbst oder ihre Kinder, sich von ihren Worten lossagen.
Aber für mich persönlich kann niemand mehr jenen Morgen ungeschehen machen, als ich zu Hause ihre Schlager laufen ließ und sich erstmals im reifen Alter wieder jenes sowjetische Kind mit meinem heutigen Ich verband. Es hat sich gezeigt, dass jene ferne Zeit, als ich auf die Welt kam, nicht ganz so hoffnungslos war. Am Himmel schien damals ein Stern, dessen Klarheit und Licht auch heute noch erfreuen kann.
Marius Ivaskevicius, geboren 1973, lebt als Schriftsteller in Vilnius. Auf Deutsch ist von ihm der Roman „Die Grünen“ (Athena Verlag) erschienen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 26.9.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
Aus dem Litauischen von Reinhard Veser.