Es gibt keinen „Russenhass“

Hass gegen andere Völker schüren nur Putin und seine Propagandisten. Replik auf Eugen Ruge

Sieht keinen Russenhass: Gerd Koehnen
Wirft Eugen Ruge eine "Verkehrung der Perspektiven und Dimensionen" vor: Gerd Koenen

Eugen Ruges Roman „Metropol“ ist die vielleicht psychologisch genaueste Rekonstruktion des emotionalen und kognitiven Ausnahmezustands, in den die in der geschlossenen Sonderwelt der Internationale lebenden kommunistischen Berufsrevolutionäre – darunter Ruges Großeltern – in der Zeit des Großen Terrors 1937/38 in ihrem Moskauer Exil gerieten. Die Authentizität dieses großartigen Romans liegt in der kindlichen Perspektive des Nachgeborenen, der von seiner geliebten „mexikanischen Großmutter“ Spannendes über den Dschungel, die Schlangen, die Azteken erzählt bekam und als älterer Mann erkennt, dass dies ein Paravent vor einem tieferen Geheimnis war, das die Großmutter mit ins Grab genommen hat: ihre Schreckenszeit in der Menschenfalle Moskau, der sie nur knapp entkam, und ihre mit Denunziationen und Selbstentblößungen gespickte Kaderakte. Der Roman ist ein langer postumer innerer Dialog: „Ich sehe was, was du nicht siehst. Das Spiel hast du mir beigebracht.“

Eugen Ruge ist als Sohn des 1941 in die sowjetische Lagerwelt verbannten Vaters Wolfgang Ruge und einer russischen Mutter aufgewachsen. Das bildete den autobiographischen Hintergrund seines ersten erfolgreichen, auch verfilmten Familienromans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, der mit denselben Protagonisten in der DDR-Dämmerung spielt. Aber nun, im Widerschein des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine und eines Stimmungsumschwungs in der deutschen Politik und Öffentlichkeit, meint Ruge, er „dürfe die ‚Schande‘ meiner Geburt nicht unterschlagen“, also seine russische Mutter nicht verleugnen.

In diesem „Bekenntnis“, ein halber Russe zu sein (was seinen Büchern jederzeit zu entnehmen war), steckt die Insinuation, dass ein aus Osteuropa und der Ukraine herüberschwappender Russenhass auch Teile der deutschen Öffentlichkeit erfasst habe, sodass „man sich kaum traut, an Tatsachen zu erinnern“, wie daran, dass der Große Hunger von 1932/33, der Holodomor, nicht nur die Ukrainer, sondern auch Kasachen, Georgier und Russen getroffen habe. Die ganze, monströse Verbrechensgeschichte des Stalinismus werde mittlerweile auf „die Russen“ geschoben, obschon sie doch selbst unter dem Terror gelitten hatten, und obwohl viele führende Stalinisten einschließlich Stalins und seiner Nachfolger keine ethnischen Russen waren, sondern Letten, Kaukasier, Polen – oder Ukrainer!

Noch schlimmer: Die große russische Literatur von Tolstoi bis Brodsky werde nun als „Literatur der Mörder und Vergewaltiger“ diffamiert – wofür als einziger Beleg allerdings ein Artikel der ukrainischen Autorin Oksana Sabuschko dienen muss. Und den „zweifellos völkerrechtswidrigen, brutalen Krieg“, den Putin jetzt gegen die Ukraine führe, setze man mittlerweile schon unter einem „Narrativ des Großen Bösen“ mit den singulären Verbrechen der Nationalsozialisten, sogar mit dem Holocaust, gleich.

Deutsch-sowjetische Freundschaft und Völkerhass

Diese reichlich monochrome Wahrnehmung (für die man sich schwertut, Belege zu finden) wird man symptomatisch nehmen müssen. Auch ein so ironisch-genauer Beobachter der von der Einheitspartei geprägten DDR-Mentalitäten wie Eugen Ruge entkommt offenbar nicht den eigentümlichen Wahrnehmungsverengungen und Gefühlsverwirrungen, in die ein Teil der verstärkt sich wieder als „Ostdeutsche“ definierenden Bewohner der neuen Bundesländer im Konflikt mit Putins Russland verfällt.

Darin wird eine Melange widerstreitender Sentimente und Ressentimente sichtbar, die in erster Linie einer Entfremdung von der westlich geprägten Mehrheitskultur entspringen dürfte – nicht unähnlich den Gefühlslagen eines Gutteils der zugewanderten „Russlanddeutschen“, die sich per Abstammung oder Lebenskultur ihrerseits als „Halbrussen“ sehen.

Das ist weder verwunderlich noch verwerflich, außer dass man erstaunt fragt, wie wenige Spuren die Geschichte ihrer Misshandlung, Diskriminierung und Bevormundung als Minderheit durch die sehr wohl als „russisch“ wahrgenommene Sowjetmacht hinterließ. Oder worin im Fall der DDR-Bewohner das „besondere Verhältnis zu den Russen“ stammt, das ein CDU-Ministerpräsident seinen Bürgern positiv attestierte, obwohl die kasernierten Rotarmisten doch in strikter Segregation lebten und „die deutsch-sowjetische Freundschaft“ wenig mehr als eine ideologisch-phantastische Phrase war. Das soll sie so tief beeindruckt haben, dass sie nun Putin verstehen?

Viel erstaunlicher als diese diffusen Affinitäten ist aber die auch bei Ruge zu konstatierende Verkehrung der Perspektiven und Dimensionen. Misstöne oder Einseitigkeiten in der deutschen oder westlichen Öffentlichkeit oder auch genuin russophobe Äußerungen in ukrainischen oder osteuropäischen Medien und Verlautbarungen, die es natürlich gibt, werden in das überdimensionale Format eines „nützlichen Völkerhasses“ gerückt, der angeblich jetzt allenthalben geübt werde, um Russland endlich niederzuringen und der Ukraine und Europa einen „Sieg“ zu bescheren, der doch nur ein selbstzerstörerischer „Pyrrhussieg“ sein könne.

Wo findet sich Völkerhass? In Russland

Aber wie kann, wer Russland wohlwill, derart verkennen, dass es doch Putin und seine Machtoligarchen sind, die durch diesen irrsinnigen, von mörderischen völkischen Ideologemen befeuerten Eroberungs- und Versklavungskrieg gegen die Ukraine auch ihr eigenes Land mit in den Abgrund reißen? Wieso fehlt jede Empörung darüber, wie dieses Regime seine zwangsrekrutierten Soldaten in sinnlosen Schlachten verheizt, seine besten Köpfe zu Hunderttausenden außer Landes treibt oder gewaltsam zum Schweigen bringt, auch einen Großteil seiner Schriftsteller (die „große russische Literatur“ von morgen), und wie es seine lebensnotwendigen Natur- oder Finanz-Ressourcen vergeudet und plündert?

„Völkerhass“? Wo findet man in deutschen oder westlichen, osteuropäischen oder auch ukrainischen Medien (die man großteils in englischer Übersetzung nachlesen kann) irgendetwas, das den allabendlichen, mörderischen Tiraden der Propagandisten der russischen Fernsehsender, eines Wladimir Solowjow oder einer Margarita Simonjan, auch nur entfernt ähnelte? Findet sich irgendeine Analogie zu den Erklärungen führender Regimepolitiker, in denen die Redeweise gängig wurde, dass der Westen, mit dem man im Grund schon im Krieg stehe, vom „Satanismus“ befallen sei, weshalb man diesen in der Ukraine vernichten müsse, bevor er Russland infiziere?

Wobei das offizielle Ziel der „Entnazifizierung“ die paradoxe Gestalt eines Kampfs gegen die satanische Gay- und Gender-Ideologie angenommen hat, welche (wie Putin in seiner Kremlrede zur Annexion der eroberten Gebiete sagte) dem Aussterben der Menschheit diene und eine gegen Russland und alle gesunden Nationen gerichtete „Massenvernichtungswaffe“ sei? Findet man irgendeine Parallele für die kranken Gedankenspiele des RT-Moderators Anton Krassowski, dass man ukrainische Kinder, die russisch sprechen, aber die russischen Befreier als moskowitische Unterdrücker bezeichnen, ertränken oder verbrennen sollte?

Und was ist es anderes als „nützlicher Völkerhass“ (um Ruges Formulierung zu gebrauchen), wenn der Novosti-Kommentator Sergejzew schon im April schrieb, dass diejenigen, die partout „Ukrainer“ sein wollten, sich damit als von westlichem Ungeist infizierte Verräter am großrussischen Einheitsvolk outeten, die man einer gewaltsamen und über zwei, drei Generationen sich erstreckenden „Entukrainisierung“ unterziehen müsse – eine Ansicht, der Ex-Ministerpräsident und Sicherheitsrats-Ko-Vorsitzender Medwedew beisprang, der bekannte, er „hasse“ die russophoben Ukrainer und wolle sie vernichtet sehen.

Selbst wenn man alle diese Ausfälle als haltloses und zunehmend verzweifeltes Gerede abtun würde – was könnte das Ansehen Russlands gründlicher beschädigen als diese Hassreden, die sich materialisieren in den in Schutt und Asche gelegten Städten der Ukraine; und in einer in Syrien erprobten Strategie der Vernichtung der elementaren Lebensgrundlagen (Wasser, Wärme, Elektrizität) des feindlichen Brudervolks.

Wo Eugen Ruge recht hat

Ruge hat recht, wenn er bemerkt, dass Ukrainer wie andere Osteuropäer im Eifer ihrer „Dekommunisierung“ dazu neigen, die Geschichte des bolschewistischen Terrors und der stalinistischen Säuberungs- und Dekulturierungspolitiken als rein externe, wesentlich russische Fremdherrschaft zu „erinnern“, die den Erfahrungen der nationalsozialistischen Eroberungs- und Versklavungspolitiken vorausging und wieder anschloss.

Und dass sie übergehen, in welchem Grad nicht nur Polen, Letten, Ukrainer oder Georgier in führenden Rollen an der Begründung der Sowjetunion beteiligt waren, sondern wie größere Teile der in Jalta dem sowjetischen Machtbereich zugeschlagenen Bevölkerungen sich den neuen Regimes widerwillig, aber doch gefügt, unter ihnen trotz aller Rebellionen von 1953, 1956, 1968 oder 1980 recht und schlecht über vierzig Jahre dahingelebt, Familien gegründet und Karrieren gemacht haben. Bis 1989 der ganze Block und das sowjetische Vielvölkerimperium primär aus innerer Schwäche, sekundär auch durch eine friedliche Erhebung und demokratische Selbstorganisation der Unterdrückten in Auflösung überging.

Aber die Abschüttelung einer Moskauer Ober- und Fremdherrschaft war das eben doch. Und insgesamt lässt die Geschichte des Kommunismus, und gerade auch die des Stalinismus, wie die des Maoismus auch, sich von der Geschichte Russlands oder eben Chinas als alten, despotisch geführten Großreichen nicht säuberlich abtrennen, so wie Ruge es tut. Man kann sie nicht in das Nirwana eines reinen weltrevolutionären Traums verbannen, der unter großen Opfern schließlich verglüht wäre.

Für den Kreis der professionellen Weltrevolutionäre wie seine Großeltern mag das gegolten haben. Nur war gerade dieser Internationalismus in der Zeit des Großen Terrors schon hoch verdächtig (als Trotzkismus), und ein großer Teil der nach Moskau Emigrierten oder Rückbeorderten starb denn auch in den Moskauer Erschießungskellern oder Lagern.

Was die Sowjetunion von den Nazis lernte

Die Sowjetunion trat – so in der Programmrede, mit der Stalin 1930 die Kollektivierung, Crash-Industrialisierung und Militarisierung des Lands begründete – explizit in die russländischen Großreichstraditionen ein, die ja nie einen russisch-nationalen, sondern stets einen imperialen und kolonialen Charakter trugen wie der neue „Sowjetpatriotismus“ auch. Die multinationale bolschewistische Machtelite war in der Praxis die Erbin einer ähnlich abgehobenen Beamten- und Militärelite des Russischen Zarenreichs, in dem die Masse der ethnischen Russen leibeigene Bauern waren. Und die offizielle, in Riten und staatliche Feiern gefasste Rechtgläubigkeit und welthistorische Mission Russlands als eines „dritten Roms“ hatte einen ähnlich ideologisch-legitimatorischen Charakter wie die neue „marxistisch-leninistische“ Orthodoxie, die Russland eine Avantgarderolle unter den Völkern zuwies.

Auch die Deklaration Moskaus als Zentrum einer kommunistischen Internationale war nur vordergründig ein luftiges Traumgebilde. In der realen Weltpolitik firmierte sie als östlicher Gegenpol der Versailler Siegermächte und einer kapitalistisch-imperialistischen, vom maritimen Kolonialismus des Westens dominierten Welt. Damit bewegte sich „Sowjetrussland“, wie es allgemein genannt wurde, in einer globalen Frontstellung, in der das laut Komintern-Ideologen zu einer westlichen „Industriekolonie“ degradierte, auf Revanche sinnende Deutsche Reich schon in Weimarer Zeit, und erst recht dann in der Zeit des stillen Kriegspaktes vom August/September 1939, eine zentrale Rolle spielte.

In dieser Zeit der Komplizenschaft, und auf andere Weise dann während der tödlichen Verklammerung nach der Wendung des nationalsozialistischen Lebensraum-Kriegs 1941 gegen die Sowjetunion selbst, hat die stalinistische Machtelite an ihrem Gegner fortwährend gelernt, politisch-militärisch, aber auch in ihren Sozialpraktiken. Dazu gehörten auch massive ethnische Bereinigungen, zuerst in den „Nationalitätenoperationen“ des Großen Terrors, dann in den Deportationen Dutzender von „Verrätervölkern“ im „Vaterländischen Krieg“, zu denen zunehmend auch die Juden, die Kosmopoliten, die „Zionisten“ gehörten.

Aber auch die Politiken einer radikalen Ausbeutung und „Umvolkung“ (in deutsch-völkischen Kategorien gesprochen), wie sie in den okkupierten Gebieten Ostpolens und der Westukraine praktiziert wurden, nahmen an den Nazi-Praktiken im Generalgouvernement Maß, von der physischen Vernichtung der alten Eliten in Katyn und anderswo bis zu den Deportationen von Hunderttausenden in die Tiefe des Imperiums. Das Schicksal, das heute der Ukraine zugedacht ist, ist kein anderes als eine Kombination dieser stalinistischen und nationalsozialistischen Politiken zur Auslöschung einer widerständigen Staatsnation wie der Polens, die (in den Worten Molotows) als „hässlicher Bastard des Versailler Vertrags“ von der Landkarte zu tilgen war.

Diese verbrecherische Komplizenschaft von 1939 – 41, die bei Ruge außer Betracht bleibt, ermöglichte es erst, dass Hitlers „treubrüchiger Überfall“ (wieder Molotow) die Sowjetunion in den katastrophalen Zusammenbruch der ersten beiden Kriegsjahre trieb und Hitlers Armeen nach Leningrad und Stalingrad führte, und am Ende des aufgezwungenen, existenziellen, tatsächlich „Vaterländischen Kriegs“ dann die Armeen Stalins nach Berlin und ihn selbst nach Jalta und Potsdam führte, wo er ganz Osteuropa zugeschlagen bekam.

Wie anders sollten die damals Unterworfenen das historisch verbuchen als eine Erfahrung zweier Okkupationen und totalitärer Regimes? Von der „Singularität“ der deutschen geschichtlichen Verantwortung, die den Holocaust einschließt, aber sich darin keineswegs erschöpft, nimmt das überhaupt nichts weg. Auch Russland steckte damit in einer faktischen und mentalen Falle, insofern der imperiale Überbau, von dem es sich schon 1917 nicht hatte emanzipieren können, nach 1945 ein noch monströseres und zugleich illusionäres Format annahm.

Die verpasste Chance von 1989 bis 1991

Der Zerfall von 1989 bis 1991 wäre die Chance gewesen, die „Russländische Föderation“, die ein neues Staatswesen war, kaum anders als die Ukraine oder Kasachstan, zu einem normalen, großen, vielgestaltigen, auf die Entwicklung seiner großartigen Potentiale gestützten, demokratischen Staatswesen unter anderen zu machen. Aber seine neue, putinsche Machtelite will kein anderes Kanada, sondern unbedingt zur dritten Weltmacht an der Seite Chinas gegen die USA und den Westen werden. Durch ihre, mit gruftigen „tausendjährigen“ Ansprüchen begründete Lebensraum- und Volkstumspolitik ruiniert und entehrt sie nicht nur das eigene Land, sondern sie stellt die ganze mühsam geschaffene, fragile Weltordnung infrage.

In diesen Abgrund, der mit „Verhandlungsangeboten“ und selbst halben Kapitulationen schwerlich zu überbrücken ist, wagt Eugen Ruge nicht zu schauen, obwohl er dem Abgrund des Stalinismus, in den er so tief hineingeschaut hat, historisch und ideologisch wieder beklemmend nahe rückt.

Von Gerd Koenen erscheint im Frühjahr bei C.H. Beck der Essayband „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“. Parallel erscheint sein älteres Buch „Der Russland-Komplex“ in neuer, ergänzter Auflage.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 7.11.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Den Beitrag „Völkerhass ist niemals nützlich“ von Eugen Ruge finden Sie ebenfalls auf KARENINA.

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