Margarita Simonjan: Putins Propagandistin
Die Chefpropagandistin des Kremls sorgt für den „alternativen Blick zum westlichen Mainstream“
Sie hat die Arme verschränkt, schaut in die Runde, nickt. Das macht sie oft, wenn sie im Fernsehen auftritt. Margarita Simonjan ist seit der russischen Invasion in der Ukraine ein Dauergast in den politischen Talk-Sendungen des russischen Staatsfernsehens. Wobei der Begriff „politische Talk-Sendung“ irreführend ist. Politische Diskussionen gibt es hier nicht. Um Meinungsaustausch geht es auch nicht. Die Gäste hinterfragen selten die Positionen der anderen, oft brüllen sie sich an.
Immer dominiert ein aggressiver Grundton, auch wenn er in der gemäßigten Stimmlage einer Margarita Simonjan daherkommt. Neben der 42-jährigen Chefredakteurin des russischen Auslandsenders RT wirken die anderen in der Runde – Männer meist – nicht selten klein und kleinlaut. Und das, obwohl sie stehen und Simonjan wegen ihrer Rückenschmerzen stets sitzt.
Warum Russlands Präsident Wladimir Putin bei seiner jüngsten Rede – es war eine hasserfüllte Abrechnung mit den USA nach seiner Unterzeichnung des russischen Landraubs von vier ukrainischen Regionen – so oft von Kolonialismus gesprochen habe? „Ja, weil es um Neokolonialismus geht“, sagte Simonjan vor wenigen Tagen in der Show „Das Recht, zu wissen“ des Senders TWZ, der mehrheitlich der Moskauer Stadtregierung gehört. „Sie wollen weiter Ressourcen rauben, die Mentalität eines ganzen Volks ändern, zu dem sie ohne jegliche Einladung gekommen sind. Sie können sich nicht damit abfinden, dass Menschen verschieden sein können.“
Nein, Simonjan sprach nicht über Russland, das „ohne jegliche Einladung“ in die Ukraine einfiel und den so „Befreiten“ vorschreiben will, wie sie zu leben hätten: in Russlands „historischer Gerechtigkeit“, nach Russlands „traditionellen Werten“. „Sie“, das ist in Simonjans Augen, wie in vieler Augen innerhalb der russischen Elite, der Westen, das sind die USA.
„Wir werden uns wehren, um das zu bewahren, was wir für die Normalität halten. Wir wollen nicht unter Verhältnissen leben, in denen Muttermilch verboten ist, in denen Behörden einem die Kinder wegnehmen, nur weil sie ihre Mama „Mama“ nennen. Lasst uns leben, wie wir wollen“, sagte sie, die Arme weiterhin verschränkt.
Es war die typische Verdrehungsstrategie russischer Staatsmedien. Die typische Aneinanderreihung von Umdeutungen, Halbwahrheiten und Lügen einer Frau, die innerhalb und außerhalb Russlands als Chefpropagandistin des Kremls gilt – und stolz darauf ist.
Plötzlich kämpft sie für Bürgerrechte
Lügen aber, so erklärte Simonjan kürzlich in der Sendung ihres Ehemanns Tigran Keosajan, ebenfalls Medienmacher im Land, Lügen führten stets zu falschen Entscheidungen. „Hört auf zu lügen, überall, in den Behörden, in den Ministerien, in den Einberufungsämtern.“ Gewieft und schamlos gibt sie nun, da Russland unter dem Chaos seiner sogenannten Teilmobilisierung ächzt, die jeder im Land als „Vollmobilisierung“ begreift, die Kämpferin für Bürgerrechte.
Sie sammelt Geschichten von eklatanten Fehlentscheidungen, von alleinerziehenden Müttern, die eingezogen werden, von kranken Rekruten, von viel zu alten Reservisten. Nicht weil sie plötzlich ihr Herz für Menschen und den humanen Umgang mit ihnen entdeckt hat. Sondern weil sie will, dass die „militärische Spezialoperation“, wie Russland seinen Krieg in der Ukraine offiziell bezeichnet, die Unterstützung im Volk nicht verliert – trotz Unordnung und Willkür.
Auf allen ihren Kanälen spielt sie gekonnt mit der Unzufriedenheit über die Einberufung im Volk und fordert eine professionelle Kampfführung. „Es gibt Schlimmeres als der heroische Tod für sein Land, für seine Wahrheit. Es gibt keinen anderen Ausweg als den Sieg“, sagte sie im Sender TWZ – und klang dabei wie Putin, den sie „Woschd“ nennt, Führer, wie einst auch der sowjetische Schlächter Stalin genannt worden war.
Den Präsidenten hält sie für ihren „Natschalnik“, ihren Chef, und zeigt damit, in wessen Auftrag sie als Journalistin arbeitet. Sie nennt das „ehrlich“.
USA: Obsession von Putin und Simonjan
In ihrer Radikalität versteht es Simonjan, die Balance zwischen Volksnähe und Kreml-Ergebenheit zu halten. Atomwaffen hält sie für ein legitimes Mittel, die Interessen des eigenen Lands zu vertreten. Gleichzeitig aber postet sie bei Instagram – in Russland als „extremistisch“ eingestuft und nur über Umwege zu erreichen – ihre Lieblingsrezepte. Amerikanische Suppe, Carpaccio, mexikanischer Salat. Die Welt auf Simonjans Küchentisch.
Doch mit der Welt hat die 42-Jährige ein ziemlich dickes Hühnchen zu rupfen. In erster Linie mit den USA. Dass sie amerikanische Privatlehrer für ihre drei kleinen Kinder beschäftigt, spielt dabei keine Rolle. Es passt eher in das Bild der Scheinheiligkeit russischer Eliten: Man schimpft auf den verhassten Westen, schickt seine Kinder dennoch auf die internationalen Schulen im In- wie im Ausland. Oder lässt sich und seine Angehörigen in westlichen Spitälern gesund pflegen.
Die USA sind eine Obsession des russischen Präsidenten wie auch seiner Staatspropagandisten. Auch Simonjan versäumt es in keiner Sendung, zu erwähnen, dass Amerika jedem anderen Land in der Welt Dinge aufzuzwingen versuche, die dieses Land nicht brauche. Die USA, wo sie einst als Jugendliche ein Austauschjahr in Bristol, New Hampshire, verbrachte, seien schuld an jedem Übel in der Welt. Diese Sicht der Dinge lässt sie auch bei RT verbreiten und nennt es „alternativen Blick zum westlichen Mainstream“.
Mit 25 Chefin des Propagandasenders RT
Simonjan ist als Tochter armenischer Eltern in Krasnodar im Süden Russlands geboren. Immer wieder verweist sie auf ihre ärmliche Herkunft. In der Schule bekam sie Bestnoten, studierte in ihrer Heimatstadt Journalismus und wurde durch die Berichterstattung über die Geiselnahme in einer Schule in Beslan, bei deren Erstürmung durch russische Einsatzkräfte im Jahr 2004 mehr als 300 Menschen getötet wurden, einem breiten Publikum bekannt. Sie stieg schnell auf, wurde mit 25 Jahren zur Chefin von RT ernannt, später auch zur Chefredakteurin des staatlichen Medienunternehmens Rossija Segodnja.
Mit mehr als 2000 Mitarbeitern verbreitete RT jahrelang Nachrichten auf Englisch, Arabisch, Französisch, Spanisch und Deutsch. Simonjan sieht den Sender als „Verteidigungsministerium“ samt Mediensoldaten, jederzeit bereit für einen Krieg. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat die EU RT Sendeverbot erteilt und setzte die Senderchefin auf die Sanktionsliste. Simonjan polterte daraufhin und sah die Pressefreiheit bedroht.
Für Russland selbst fordert die Einpeitscherin, das Verbot der Zensur aus der Verfassung zu streichen. „Ohne die Kontrolle über Informationen kann ein großer Staat nicht existieren“, sagt sie und hat, nicht zuletzt durch ihre derben Sprüche, eine große Fangemeinde im Land. Eine, die sich gerade in den vergangenen Tagen an sie wendet, als sei sie ein Friedensengel. Mit dem Spruch: „Margo, hilf uns!“
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 7.10.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung