Deftige Diffamierung Andersdenkender
Die Debatte unter Analytikern und Aktivisten über die Ukraine-Politik eskaliert bedenklich
Sieben Monate nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine nimmt in Deutschland die Neigung ab, sich ohne moralisierende Herablassung mit den Argumenten derjenigen auseinanderzusetzen, die eine unkontrollierbare Eskalation des Konflikts befürchten. Dies trifft auf Politiker zu, aber auch auf Journalisten und Analysten des Kriegsgeschehens. Nicht wenige von ihnen mutierten von kühlen Beobachtern zu heißblütigen Aktivisten.
Exemplarisch ließ sich dies kürzlich in einer Fernsehdebatte zwischen dem grünen Abgeordneten Anton Hofreiter und dem Hallenser Politikwissenschafter Johannes Varwick beobachten. Hofreiter, vor allem aus moralischen Gründen einer der lautesten Befürworter der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, traf da mit dem realpolitisch argumentierenden Hochschullehrer Varwick auf seinen Antipoden. Seit Kriegsbeginn fordert dieser ein Einfrieren des Konflikts aus Furcht vor unkontrollierbarer Eskalation.
Dagegen lassen sich viele gute Gründe anführen – nicht zuletzt der Grund, dass es die Ukraine heute nicht mehr gäbe, wäre man Varwicks Vorschlag von Anfang an gefolgt. Hofreiter entschied sich für einen anderen Weg. Im Gespräch beschuldigte der sich zunehmend empörende Grüne seinen Gesprächspartner, nach „Putins Drehbuch“ zu agieren und damit dessen auf Einschüchterung abzielende nukleare Drohungen bestenfalls nicht zu durchschauen. Unausgesprochen stand der Vorwurf im Raum, Putins nützlicher Idiot zu sein. Als satisfaktionsfähig wollte Hofreiter Varwicks Warnungen nicht zulassen.
„Fragile Männlichkeit“, „Ruf ruiniert“
Mit seinen personalisierten Attacken steht der Grüne längst nicht allein. Auch viele eigentlich besonnene und analytische Köpfe neigen immer mehr zur personalisierten Attacke. Gegen die Dynamik der sozialen Netzwerke sind auch sie nicht gefeit. Für den Applaus der Gleichgesinnten bleibt die Fairness oft auf der Strecke.
So spricht etwa der renommierte Militärexperte Carlo Masala mit Blick auf den Philosophen Richard David Precht und den Soziologen Harald Welzer, die in einem gemeinsamen Buch den angeblichen Tunnelblick der Medien auf die Ukraine kritisieren, von „Typen, die ohne die Medien kaum jemand kennen würde“. Beide litten unter „fragiler Männlichkeit“.
Auch der Gründer der Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne, Ralf Fücks, wird persönlich. Varwicks gegen Außenministerin Baerbock erhobenen Bellizismus-Vorwurf konterte er auf Twitter so: „Der Mann kennt kein Halten mehr.“ Und: „Ist der Ruf erst ruiniert…“
Natürlich, prominente Kritiker deutscher und westlicher Waffenlieferungen wie etwa die Schriftstellerin Juli Zeh oder die öffentlichen Intellektuellen Richard David Precht und Harald Welzer können sich über mangelnde mediale Aufmerksamkeit nicht beklagen. Und weder gibt es ein Recht darauf, von Widerrede unbehelligt zu bleiben, noch fordern sie es ein. Doch wie zuvor schon in der Corona-Krise treten viele Vertreter der Mehrheitsmeinung wie Angehörige einer Gesinnungsgemeinschaft auf und unterstellen im Umgang mit abweichenden Meinungen schlechte Motive, wo sie die Chance nutzen könnten, sich herausfordern zu lassen.
Noch weiter als der Grünen-Politiker Hofreiter ging der scheidende ukrainische Botschafter in Deutschland Andri Melnik. Dieser drohte Varwick wegen dessen Positionen kürzlich auf Twitter ganz unverhohlen mit dem Haager Tribunal, bezeichnete ihn als „Kreml-Propagandisten“ und „Putin-Gehilfen“. Die Münchner Osteuropa-Historikerin Franziska Davies – selbst eine scharfe Kritikerin Varwicks – und einige andere retteten die Ehre ihrer Zunft und nannten diesen präzedenzlosen Angriff auf die Meinungsfreiheit absurd und inakzeptabel. Die akademische Solidarisierung mit Varwick blieb insgesamt aber sehr verhalten.
Ganz anders im Fall der für eine stärkere Unterstützung der Ukraine eintretenden Berliner Außenpolitik-Analystin Claudia Major. Das ehemalige SED-Parteiblatt Neues Deutschland hatte die seit Kriegsbeginn medial omnipräsente Expertin jetzt in einem Beitrag in eine Reihe mit den Alldeutschen aus der Kaiserzeit gestellt.
Der Vorwurf war gewissermaßen die Umkehrung des Hofreiterschen Vorwurfs an Varwick: Die eine wie der andere werden quasi als Auftragsanalytiker und intellektuelle Erfüllungsgehilfen im Dienst des amerikanischen beziehungsweise russischen Imperialismus diffamiert. Binnen weniger Stunden stellten sich viele ihrer Kollegen hinter die Expertin. Zu Recht.
Im Fall Varwick war das, wie gesagt, aber anders. Offenbar wird in Deutschlands analytischer Klasse mit zweierlei Maß gemessen, hat die akademische Community ihre blinden Flecken.
Ein gelingender Diskurs gerade in polarisierten Zeiten setzt voraus, dass die Mehrheit sich für das freie Wort der Minderheit einsetzt. Wie schon in der Corona-Krise ist die formale Meinungsfreiheit das eine, sind die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit das andere. Die sozialen Kosten der abweichenden Meinung werden von den Hofreiters, Melniks und aktivistischen Akademikern derzeit massiv in die Höhe getrieben.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 30.9.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung