Nach dem Krieg weiter mit Putin?
Militärische Niederlagen, Indien und China wenden sich ab, aber Putin wird den Krieg fortsetzen
Es gibt Siege, die rasch vergessen sind, und es gibt Siege, die den Krieg verändern. Die Rückeroberung Chersons und der westlich des Dnipro gelegenen Gebiete gehört zur zweiten Kategorie. Die Ukrainer haben damit den Russen endgültig den Weg nach Odessa verbaut. Auch Mikolajiw, Zentrum der Marine und der Werften, ist außer Gefahr.
Vor allem muss Moskau ein strategisches Kriegsziel aufgeben: die Kontrolle der ukrainischen Küste und die Vorherrschaft über das Schwarze Meer. Nichts ist erfolgloser als die Erfolglosigkeit. Am G-20-Gipfel auf Bali war der Kreml isoliert, weil sich selbst Indien und China von ihm abwandten.
Die Niederlage im Süden und die Vertreibung seiner Streitkräfte aus weiten Gebieten im Osten bedeuten für Putin eine Zäsur. Er, der sich als Retter Russlands und Herausforderer des Westens sieht, schrumpft auf das Format eines militärischen Dilettanten. Der Ukraine-Krieg ist sein Krieg, und spätestens jetzt weiß er, dass er ihn nicht gewinnen wird. Wie lange kann er seinen Feldzug gegen jede Vernunft also noch fortführen?
Die Antwort ist ernüchternd. Wenn der Zar es will, dauert das Morden noch lange an. Helfen tausend Granaten nicht, helfen zweitausend. Russland hat seine Kriege stets im Vertrauen auf seine schier unermesslichen Ressourcen geführt: so viel Raum, dass sich der Gegner bis zur Erschöpfung verausgabte; so viele Leiber, dass die Rote Armee trotz gewaltigen Verlusten die Wehrmacht vor Moskau stoppte und in Stalingrad vernichtete.
Ukraine: Abhängig von der Hilfe des Westens
Russland ist ein Meister des Abnützungskriegs, des kontrollierten Rückzugs und des Ausharrens. Mit der Frontbegradigung bei Cherson verschafft es sich überdies eine günstige Ausgangsposition für das zweite Kriegsjahr. Der Dnipro bildet jetzt ein natürliches Bollwerk.
Putins Streitkräfte können sich auf den Donbass konzentrieren und als realistisches Ziel etwa die Eroberung der ganzen Oblast Donezk anpeilen. So völlig unplausibel ist daher die Annahme nicht, dass Moskau mit seinen Reserven die Oberhand behält gegen einen Feind, der gänzlich von der Hilfe Dritter abhängt – von Waffenlieferungen wie von finanziellen Transfers.
In der Hoffnung, dass der Sieg den ukrainischen Waffen gehören möge, sieht der Westen vor allem die Verluste Moskaus und die Schwierigkeiten, Nachschub und Soldaten aufzutreiben. Die als „Teilmobilisierung“ verbrämte Menschenjagd zeichnet tatsächlich ein denkbar ungünstiges Bild der russischen Verteidigungsfähigkeit.
Putin hingegen dürfte sich überlegen, wie lange die Koalition seiner Gegner hält. Er wird hoffen, dass bei den nächsten Wahlen in den USA die Karten neu gemischt werden und ein republikanischer Präsident Kiew weniger enthusiastisch unterstützt als Joe Biden.
Es wäre nicht die erste Auseinandersetzung, in der eine Allianz klein beigibt, weil die Bündnispartner ihre Haltung ändern. Historisch betrachtet, sind die Beispiele erfolgreicher Koalitionskriege nicht allzu zahlreich. Solche Überlegungen mögen Wunschdenken sein, aber das ist letztlich unerheblich. Was zählt, ist, dass solche Fantasien im Kreml das Blutvergießen beträchtlich in die Länge ziehen können.
Der Westen schätzt seine Gegner oft falsch ein
Immer wieder unterschätzt der Westen Gegner, weil er sich nicht in deren Vorstellungswelt zu versetzen vermag. Im Pentagon mochte niemand glauben, dass die Taliban trotz totaler Unterlegenheit nicht aufgeben, sondern ihre Schwäche in eine Stärke verwandeln würden. Mit Leidensbereitschaft und Willensstärke bezwangen sie eine Hightech-Armee. Der Westen redet viel über Resilienz, andere praktizieren sie.
Die Unterschiede zwischen Gesellschaften offenbaren sich gerade in der Art der Kriegsführung. Die USA betreiben immensen Aufwand, um verwundete Soldaten zu versorgen. Im Irak oder in Afghanistan hatte ein Infanterist selbst bei schweren Verletzungen eine hohe Überlebenschance, weil er ausgeflogen und optimal betreut wurde. In den Gesellschaften des Westens hat das Individuum einen hohen Stellenwert. In Russland ist das nicht so.
Russische Offiziere planen ihre Schlachten unter weitgehender Nichtachtung ihrer Untergebenen. Berichte, wonach Reservisten aufgefordert wurden, ihr Verbandsmaterial selbst zu kaufen, sind schon deshalb glaubwürdig, weil in früheren Feldzügen selbst einfachste Medikamente, sterile Spritzen und Binden Mangelware waren.
Das liegt nicht nur an unzulänglicher Logistik, sondern auch an der Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben.
Eine Gesellschaft, die in Friedenszeiten an endemischer Gewalt leidet, besonders in staatlichen Einrichtungen wie Armee und Gefängnissen, führt auch ihre Kriege mit roher Gewalt. Das ist nicht nachhaltig, funktioniert aber erstaunlich lange.
Soziale Netzwerke führen zwar dazu, dass selbst Soldaten aus dem hintersten Sibirien in Windeseile bekannt machen können, wie ihre Einheit an der Front verheizt wird. Was in Westeuropa einen Aufschrei auslösen würde, trifft in Russland auf unterschwellige Resignation.
Jedermann rechnet damit, dass sich der Staat stumpfsinnig und brutal verhält, weil er sich immer so verhalten hat. Ein Novum sind die Berichte über Vernachlässigung und grausame Behandlung der eigenen Soldaten also nicht.
Für Putin geht es um Machterhalt
Manche Beobachter klammern sich an das Szenario einer zweiten Oktoberrevolution. Der Erste Weltkrieg fegte das Zarenreich hinweg; warum soll Putin nicht dasselbe Schicksal erleiden? Drei Überlegungen sprechen dagegen.
Der Ukraine-Krieg wird nicht wie 1917 mit dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung und der Besetzung russischen Territoriums enden. Die Nato unterstützt Kiew nur bei der Befreiung ukrainischen Bodens, ein Vordringen auf russisches Gebiet lehnt sie ab. Ein Kollaps von Putins Herrschaft durch einen Schock von außen ist daher unwahrscheinlich.
Zweitens lässt sich keine oppositionelle oder gar revolutionäre Kraft erkennen, die das Ancien Régime stürzen könnte. Putin, der Bewunderer der Sowjetunion, muss keine neuen Bolschewisten fürchten. Viele Russen dürften zwar inzwischen die „Spezialoperation“ ablehnen. Aber ihr Protest bleibt stumm oder äußert sich in einer für die Clique im Kreml ungefährlichen Weise, etwa durch Emigration.
Drittens stand für Putin der Machterhalt schon vor dem Krieg an oberster Stelle. Der Krieg ist für ihn nur eine unter vielen Bedrohungen. Im Gegensatz zu der bolschewistischen und der chinesischen Parteidiktatur ist Herrschaft im postsowjetischen Russland rein persönlich. Ohne den Mann an der Spitze bricht sie zusammen. Es existiert nicht einmal eine Erbfolge. Der Herrscher muss jederzeit wachsam sein, damit er nicht Opfer einer Palastintrige wird.
Bereits Boris Jelzin verbrachte seine zweite Amtszeit damit, einen Nachfolger zu suchen, der ihm und seinem Clan Immunität garantieren konnte. Er fand ihn in Putin. Dieser löst das Problem nun auf seine Weise, indem er den Repressionsapparat massiv ausbaut.
Nach dem Krieg weiter mit Putin?
Zu Friedenszeiten hätte die Häutung eines autoritären Regimes zur Diktatur Widerstand hervorgerufen, aber im Krieg lässt sich das leichter durchsetzen. Der Überfall auf die Ukraine erlaubt es Putin, seine Herrschaft zu zementieren. Es ist so etwas wie ein Kollateralnutzen. Rücksicht auf die Volksmeinung nimmt er nicht mehr, wie das zynische Schauspiel der Teilmobilisierung zeigt.
So scheint es nicht absurd, anzunehmen, dass Putin die Option Stalin anstrebt – eine Alleinherrschaft auf Lebenszeit. Ein Zurück gibt es für ihn nicht, auch kein unbeschwertes Rentnerdasein auf der Krim. Alles ist möglich, gerade in einem Land, das einen Potemkin und seine Dörfer hervorbrachte.
Es wäre verfrüht, auf ein baldiges Ende der Ära Putin zu setzen. Das heißt allerdings, dass man eines Tages wird mit ihm verhandeln müssen. So unerträglich der Gedanke an ein Nachkriegsrussland mit Putin erscheint, so realistisch ist er.
George Bush wies Saddam Hussein nach der Invasion in Kuwait in die Schranken, stürzte ihn aber nicht. Das war klüger als der von seinem Sohn begonnene zweite Irakkrieg.
Darin liegt eine doppelte Lehre: Der Westen muss die Ukraine in jeder Weise unterstützen, um die Invasoren zurückzuschlagen. Ohne militärische Stärke kein Waffenstillstand. Zugleich sollte er bereit sein für eine Ordnung auf der Basis des dann aktuellen Frontverlaufs.
Moskaus Sicherheitsinteressen verdienen Anerkennung, das darf aber nicht wie 2014 auf Kosten Kiews gehen. Es gibt keinen dauerhaften Frieden ohne weitsichtige Diplomatie.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 18.11.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung