Putins atomarer Psychokrieg

In einer Welt voller Nuklearwaffen sterben diejenigen, die zuerst schießen, als Zweite

von Josef Joffe
Nach dem Atomkrieg
"Wenn Sie einen kleinen Krieg beginnen, seien Sie bereit für den großen." Was also könnte geschehen, wenn Putin tatsächlich eine „kleine“ Atombombe abwerfen würde?

Es vergeht kaum ein Tag, an dem der russische Präsident Wladimir Putin nicht mit dem Atomknüppel wedelt, um die Ukraine und den Westen einzuschüchtern. Ist er verrückt? Vielleicht, denn der Einsatz solcher Waffen würde ein 77 Jahre altes Atom-Tabu brechen.

Seit den Atombombenabwürfen der Vereinigten Staaten auf Hiroshima und Nagasaki wurde das Undenkbare durch rund 200 konventionelle Kriege in Schach gehalten – selbst wenn auf der einen oder anderen Seite Atommächte beteiligt waren. Nur einmal standen die Sowjetunion und die USA kurz vor dem Abgrund – vor genau 60 Jahren während der Kuba-Krise. Warum haben sie sich zurückgezogen, und was sind die Lehren für unsere Zeit?

Erinnern Sie sich daran, wie die Großmächte 1914 in den Ersten Weltkrieg stolperten. Stellen Sie sich dann vor, Kaiser, Zaren und Könige hätten in eine Kristallkugel schauen und die Welt von 1918 sehen können. Zwanzig Millionen Menschen starben, und mit ihnen vier große Reiche: Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland und das Osmanische Reich.

In Russland siegte der Bolschewismus, und bald würde der Faschismus in ganz Europa folgen. Nur der britische Außenminister Edward Grey hatte 1914 Recht: „Die Lampen erlöschen in ganz Europa, wir werden sie zu unseren Lebzeiten nicht mehr brennen sehen.“

Es gibt keine taktische Atomwaffe

Heute, mit einem russisch-amerikanischen Atomwaffenarsenal von 12 000 Waffen, braucht Putin keine Kristallkugel. Er mag denken, dass ein „kleines“ taktisches Gerät kein Armageddon auslösen wird. Aber vielleicht haben seine Generäle nicht gewagt, ihm zu sagen, was taktische Atomwaffen anrichten können.

Die beste Einschätzung stammt vom damaligen US-Verteidigungsminister James Mattis im Jahr 2018: „Ich glaube nicht, dass es so etwas wie eine taktische Atomwaffe gibt. Jede Atomwaffe, die jederzeit eingesetzt wird, ist ein strategischer Paradigmenwechsel.“

Sergej Schoigu, Putins Verteidigungsminister, der wegen Russlands militärischer Misserfolge in der Ukraine jetzt im Abseits steht, sollte seinem Chef Nachhilfe geben. Die Sprengkraft der taktischen Waffen reicht von 0,3 bis 170 Kilotonnen TNT. Die Hiroshima-Bombe hatte nur 15 Kilotonnen und kostete 90 000 Menschen das Leben.

Was würde passieren, wenn Putin tatsächlich eine „kleine“ Bombe abwerfen würde? Die USA könnten nicht wissen, ob es sich nur um einen einmaligen Angriff handelt. Sie würden ihre strategischen Streitkräfte auf DEFCON 2 oder sogar auf die höchste Stufe, DEFCON 1, setzen, die passenderweise „gespannte Pistole“ heißt. Großbritannien und Frankreich würden dies ebenfalls tun – und auch die Russen.

Bomber würden starten; Raketensilos würden ihre Schutzhüllen öffnen. Die Angst würde die Vorsicht verdrängen. Schon eine kleine Fehlkalkulation oder Fehlkommunikation könnte einen strategischen Schlagabtausch auslösen. Wenn Sie einen kleinen Krieg beginnen, seien Sie bereit für den großen.

Madman-Theorie: „Die Rationalität der Irrationalität“

Putins Generalstab sollte amerikanische Kriegsspiele studiert haben. An der Universität von Princeton wurde ein amerikanisch-russischer Schlagabtausch simuliert. Er begann mit taktischen Nuklearwaffen und endete in einem totalen strategischen Krieg. Die Folgen? Neunzig Millionen Tote und Verwundete innerhalb der ersten Stunden. Steigt man eine Sprosse der Eskalationsleiter hinauf, landet man schnell an der Spitze.

Ist Putin dement, wie Fernpsychiater in den Medien vermuten? Spielen wir nicht Dr. Freud, sondern setzen wir auf die „Madman-Theorie“ der internationalen Politik, auch bekannt als die „Rationalität der Irrationalität“. Der große Stratege und Nobelpreisträger Thomas Schelling (ich war sein Student in Harvard) hat ein überzeugendes Beispiel dafür geliefert.

Angenommen, jemand taucht auf Ihrer Veranda auf und sagt in aller Ruhe: „Geben Sie mir 20 Dollar oder ich puste mir das Hirn weg.“ Sie wären vermutlich nicht besonders beeindruckt und würden ihm etwas heiße Milch anbieten, um ihn zu beruhigen. Nehmen wir nun an, er kommt zurück, mit großen Augen und Schaum vor dem Mund. Würden Sie ihm nicht lieber das Geld geben, anstatt die Veranda neu zu streichen und Stunden mit der Polizei zu verbringen?

Putin mag zwar Wahnsinn vortäuschen, aber es ist das „rationale“ Spiel mit dem Feuer. Wenn es ihm gelingt, die Ukraine und den Westen einzuschüchtern, wird er viel mehr erreichen als seine versagende Armee. Am 18. September übertraf ihn sein Gefolgsmann, der Duma-Abgeordnete Andrej Gurulew, im staatlichen Fernsehen. „Wir sollten die Ukraine nicht bombardieren, weil wir dort noch leben müssen“, erklärte er, sondern die wirklichen „Entscheidungszentren“ ins Visier nehmen, d. h. Berlin und vor allem London. „Wir könnten Großbritannien in drei Minuten in eine marsähnliche Einöde verwandeln.“

„Das ist zwar Wahnsinn, aber es hat Methode“, dachte Polonius. Der vorgetäuschte Wahnsinn, auch bekannt als „Psychokrieg“, verspricht ein Erfolg zu werden, genau wie bei dem Mann auf Schellings Veranda. Gib vor, die Kontrolle zu verlieren, und du erschreckst dein Ziel bis zur Unterwerfung.

Wie ein Verrückter zu reden, ist das eigentliche Spiel; die Drohung wahr zu machen, ist in einer Welt mit 13 000 Atomwaffen, in der auch Russland zu einer „marsähnlichen Einöde“ werden würde, nicht glaubwürdig. In der Zwischenzeit sind Berichten zufolge 300 000 der besten und klügsten Köpfe Russlands untergetaucht, anstatt in der Ukraine zu kämpfen, seit Putin seine „Teilmobilisierung“ der Streitkräfte eingeleitet hat; ähnliche viele sind nach Beginn der Invasion am 24. Februar aus Russland geflohen.

Biden will eine Eskalation vermeiden

US-Präsident Joe Biden hat in dieser Willensprobe seine eigenen, aber angemessen unkonkreten Drohungen ausgesprochen. Die USA handeln im wahrsten Sinne des Wortes rational, indem sie Sanktionen gegen Russland verhängen und der Ukraine Unterstützung gewähren, aber nicht direkt eingreifen, was einen totalen Krieg auslösen könnte.

Biden hat 17 Milliarden Dollar an militärischer und finanzieller Hilfe bereitgestellt, und weitere sind in Vorbereitung. Die USA stellen auch wertvolle weltraumgestützte Informationen und Gefechtsfeldinformationen zur Verfügung, die es den Ukrainern ermöglichen, eine taktische Überraschung nach der anderen zu erzielen.

Die USA haben hochpräzise HIMARS-Mehrfachraketenwerfer geliefert. Die Reichweite der Raketen beträgt jedoch nur 85 Kilometer. Die USA haben das taktische Raketensystem der Armee mit größerer Reichweite ausgeschlossen, weil es Ziele in 300 Kilometer Entfernung auf russischem Gebiet treffen könnte, ebenso wie Abrams-Panzer und Kampfjets, die sowohl angreifen als auch verteidigen können.

Während Putin den Wahnsinnigen spielt, will Biden eine Eskalation vermeiden. Aber allein die Aussicht, dass Biden diese Entscheidung rückgängig machen könnte, ist ein wertvolles Druckmittel, das Putin innehalten lassen sollte.

Der Westen hat auch die Legitimität auf seiner Seite. In der Ukraine versucht der Westen nicht nur, die Souveränität eines unschuldigen Landes zu retten, sondern auch eines der wertvollsten Geschenke der Nachkriegszeit zu bewahren: eine europäische Ordnung, die nicht mehr auf Eroberung beruht. Es ist der längste Frieden zwischen Großmächten in der blutgetränkten Geschichte des Kontinents.

Ein solch hoher Einsatz untermauert die Ausdauer, den Willen und die Glaubwürdigkeit, trotz explodierender Energiepreise. Selbst die Europäer, die am meisten auf Entspannung setzen, würden nicht wollen, dass russische Armeen an der polnisch-ukrainischen Grenze stationiert werden, geschweige denn, dass die baltischen Staaten von Russland verschlungen werden. Das ist rational und nicht abwegig.

Putin spielt eindeutig den Verrückten. Verrückt ist aber nicht gleichbedeutend mit dumm. Er stolziert und droht, aber dieser Imperialist braucht keine Kristallkugel, um in die Zukunft zu blicken. In einer Welt voller Nuklearwaffen sterben diejenigen, die zuerst schießen, als Zweite.

Josef Joffe, ehemaliger Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, lehrt internationale Politik an der Johns Hopkins School of International Studies. Copyright: Project Syndicate 2022.

Übersetzung: Andreas Hubig

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