Gibt es eine Zukunft ohne Putin?
Wie Russland sich von einer Diktatur in ein freiheitliches Land verwandeln könnte
Während Russlands Krieg gegen die Ukraine zu einem typischen Zermürbungskrieg zu werden scheint und noch ein halbes Jahr oder länger dauern könnte, beginnen Aktivisten der russischen Opposition, Überlegungen zur Zukunft des Landes anzustellen. Sie gehen davon aus, dass es zu einer Revolution kommen wird, da ein friedlicher Machtwechsel unmöglich erscheint.
Der frühere russische Ölmagnat Michail Chodorkowski, der nun von London aus das Freie Russland propagiert, veröffentlichte Ende Oktober das Buch „Wie tötet man einen Drachen?“, während der weitaus radikalere frühere Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarjow – der Einzige, der 2014 im russischen Parlament gegen die Angliederung der Krim stimmte – zwei Dutzend seiner ehemaligen Kollegen in Warschau versammelte, um mit ihnen eine Art provisorischer Regierung auszurufen.
Die Anti-Putin-Politiker schlugen eine breite Palette revolutionärer Maßnahmen vor, darunter auch die Ermordung von Präsident Putin, präsentierten aber weder ein kohärentes Bild von einem „zukünftigen Russland“ noch eine klare Idee von den Schritten, die zu einer Besserung der Verhältnisse führen sollten.
Bricht ein Aufstand aus?
Einem Fremden, der Moskau oder St. Petersburg besuchte, mag Russland lange wie ein europäisches Land erschienen sein, das kleinere Reformen bezüglich der Presse- und Meinungsfreiheit und der Achtung der Menschenrechte sowie weitere Schritte hin zu einer wirtschaftlichen Liberalisierung benötigt. Doch die Situation hat sich radikal verändert.
Denn das Land steht vor Herausforderungen wie im Jahr 1916: Es ist erschöpft und verliert den Krieg an der Westfront; der Zar ist realitätsfremd, umgeben von Verschwörungstheoretikern, Priestern und Schamanen; die nationalen Republiken versuchen, sich Gehör zu verschaffen; die Armee zerfällt in regionale Regimenter, ethnische Divisionen und mobilisierte Kriminelle; und die Wirtschaft vermag je länger, je weniger die akuten Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Aufstand, wenn er denn ausbricht, mag möglicherweise so beginnen wie im Februar 1917, als der Zar unter dem Druck von Demonstrationen und Hungerunruhen in St. Petersburg abdanken musste, und wird aber fast zwangsläufig zu einer allgemeinen Revolte und höchstwahrscheinlich zum Zusammenbruch des Lands führen.
Wenn man davon ausgeht, dass Wladimir Putin durch einen Staatsstreich gestürzt wird und auf seine Herrschaft eine provisorische Regierung folgt, ist es klar, dass diese vor Dutzenden kapitaler Herausforderungen gleichzeitig stehen wird.
Kriegsende und Auflösung der Föderation
Erstens wird Russland den Krieg mit der Ukraine beenden müssen. Das heißt, dass die Führung des Lands die russischen Streitkräfte offiziell aus allen Gebieten abziehen muss, die 2014 und 2022 zum unentbehrlichen Teil der Russischen Föderation erklärt wurden. Dieser Schritt verstößt gegen die grundlegende Norm der russischen Verfassung, die besagt, dass kein Element der „Föderation“ aus dieser austreten darf. Der Friede mit der Ukraine wird also zwangsläufig die Grundlagen der russischen Staatlichkeit untergraben.
Die einzige Option, dies zu vermeiden, besteht darin, die Auflösung der Föderation zu verkünden und auf wirklich freiwilliger Basis eine neue Föderation zu gründen, versehen mit einer Aussteige-Option für die Republiken und Regionen. Dieses neue Gebilde sollte als souveränes Land weder finanzielle Verpflichtungen noch Ansprüche gegenüber anderen Nationen übernehmen. Das würde bedeuten, dass die im Ausland eingefrorenen Reserven der Bank von Russland sowie ihre derzeitigen Bestände (mit Ausnahme von Gold und Bargeld, die in Russland aufbewahrt werden), andere gesperrte staatliche Vermögenswerte und die Forderungen der Russischen Föderation gegenüber anderen Ländern als Quellen für die Deckung der Auslandsschulden Russlands dienen könnten, während der Rest als Kriegsreparationen an die Ukraine verwendet werden sollte.
Das Imperium erneuern
Zweitens sollte Russland in eine Art echte Föderation umgewandelt werden, die von unten aufgebaut ist. Es steht zu bezweifeln, dass viele Teile der derzeitigen Russischen Föderation sich abspalten werden, wenn die Zentralregierung diese Option offenhält.
Eine solche Neukonstituierung des ehemaligen Imperiums scheint für die Schaffung einer demokratischen und friedlichen Nation unerlässlich. Russland hat keinen weiteren Bedarf an Ländern und Territorien – es sollte ein überschaubarer Staat werden, der auf der Zustimmung freier Menschen und Bürger beruht.
Das neue Russland wird seinen ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat verlieren und den wichtigsten internationalen Sicherheitsverträgen neu beitreten. Das Vermögen und die Verpflichtungen der russischen Unternehmen sowie der russischen Bürger sollten unangetastet bleiben.
Das neue Gebilde muss auf ganz besondere Weise demokratisiert werden, denn seine Struktur unterscheidet sich von den meisten bestehenden Föderationen, da es sich sowohl aus „ethnischen“ als auch aus „territorialen“ Einheiten zusammensetzt. Russland sollte sich in eine parlamentarische Republik mit einem liberalen Wahlsystem auf der Grundlage von Parteilisten verwandeln. Das Gegengewicht zum Parlament sollte ein Staatsrat bilden, der sich aus allen gewählten Anführern der nationalen Republiken oder Oblaste (Länder) zusammensetzt, die aus ihren Reihen den Präsidenten für eine einjährige, nicht wiederholbare Amtszeit wählen.
Die Regionen sollten alle Möglichkeiten haben, die zentralstaatlichen Wirtschaftsaktivitäten auf ihrem Territorium zu stoppen, regionale Steuern zu erheben und eine eigene Amtssprache zu wählen, die neben der russischen Sprache verwendet werden soll. Der Bundeshaushalt sollte drastisch gekürzt werden, wobei ein großer Teil der Einnahmen aus Öl, Gas und anderen natürlichen Ressourcen in einen vom Staat unabhängigen Fonds fließen sollte, der allen Bürgern Russlands jährlich Zahlungen zusichert.
Im Idealfall sollte Russland zu einem Staatenbund werden, dessen Subjekte ein hohes Maß an Autonomie genießen, der aber durch wirtschaftliche Interessen zusammengehalten wird, wobei das wichtigste Band die Umverteilung der natürlichen, sich aus dem riesigen Ressourcenreichtum ergebenden Renten ist. Sie sollten der gesamten Nation gehören.
Russland entnazifizieren
Drittens muss das Land entnazifiziert werden. Der Krieg mit der Ukraine entstand aus der Hybris eines imperialen Konzepts von „Russentum“, das darauf bestand, dass es ein einziges russisches Volk und ein einziges „historisches Russland“ gibt, das aus Russen, Weißrussen und Ukrainern besteht. Diese Lesart wurde in die Bereitschaft verwandelt, die „abtrünnigen“ Teile Russlands zu erobern und zu unterdrücken.
Der Ukraine-Krieg ist in ähnlicher Weise Putins Krieg, wie der Zweite Weltkrieg Hitlers Krieg war. Eine große Zahl, wenn nicht gar die Mehrheit der Russen ist bereit, einen Vernichtungskrieg gegen die Ukrainer zu führen weil sie meinen, ein „Recht“ dazu zu haben.
Russland sollte sich nicht nur aus der Ukraine zurückziehen, sondern auch die eigene nationalistische Ideologie verurteilen und eine russisch-ukrainische Wahrheitskommission einrichten, die alle von der Vorgängerregierung begangenen Kriegsverbrechen untersucht und alle daran Beteiligten gerichtlich verurteilt. Die Regierung sollte den Verfassungsgrundsatz aufheben, der die Auslieferung russischer Staatsbürger ins Ausland verbietet, wenn es um Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht.
Die derzeitigen Streitkräfte und der Föderale Sicherheitsdienst sollten aufgelöst und neue, der demokratischen Kontrolle unterstellte Militär- und Sicherheitsorgane sollten geschaffen werden. Die Regierung des neuen Russland sollte den gesamten Block der EU-Verordnungen zur Verhinderung von Nazismus, Nationalismus und Hass aufgrund von Nationalität, Ethnie und Geschlecht übernehmen.
Wirtschaftliche Umbau und Privatvermögen
Viertens sollte die neue Regierung die wirtschaftlichen Freiheiten fördern. Zuallererst sollte das Strafrecht für nicht anwendbar auf wirtschaftliche Vergehen erklärt werden, und Gefängnisstrafen sollten durch Geldstrafen ersetzt werden. Polizei, föderale Sicherheitsdienste und andere föderale Behörden sollten sich nicht in kommerzielle Belange einmischen dürfen.
Privateigentum sollte für jede Art von Vermögenswerten erlaubt sein, einschließlich Land, Rohstoffvorkommen, Flughäfen und Eisenbahnen, Straßen und jeder Art von Unternehmen, inklusive militärischer. Der Bundeshaushalt sollte nicht mehr als ein Drittel der gesamten Haushalteinnahmen und nicht mehr als 3 bis 5 Prozent klassifizierte Ausgaben umfassen.
Große Vermögen der bisherigen Staatsangestellten und ihrer Angehörigen sollten eingefroren werden, bis die Wege und Quellen seines Erwerbs geklärt sind. Gibt es keine vernünftige Erklärung, sollten sie beschlagnahmt werden. Offshore-Eigentum sollte innerhalb eines Jahres nach Beginn der Umstrukturierung verboten werden.
Was das Schicksal der Bürokraten und Verwaltungsbeamten der Ära Putin angeht, wäre es wohl besser, auf Korruptionsverfahren zu verzichten (die einzige Strafe wäre die Beschlagnahme der genannten Vermögenswerte). Aber alle Handlungen von Polizei- und Sicherheitsbeamten, Staatsanwälten und Richtern sollten untersucht werden, die im Sinne der damals in der Russischen Föderation geltenden Gesetze rechtswidrig waren.
Versöhnung mit dem Westen
Das wichtigste Ziel einer Reform Russlands jedoch muss, fünftens, eine tiefgreifende Versöhnung mit dem Westen sein. Russland sollte eine einseitige Visafreiheit für die Bürger der USA, der EU und aller OECD-Staaten einführen. Es sollte allen ausländischen Investoren das Eigentum zurückgeben, das seit 2014 verstaatlicht oder von russischen Unternehmen übernommen wurde.
Alle russischen Bürger sollten den gleichen Zugang zu Positionen im öffentlichen Dienst und zu gewählten Ämtern haben, unabhängig von ihrer doppelten Staatsbürgerschaft, von Aufenthaltsgenehmigungen, die von anderen Ländern ausgestellt wurden, sowie vom Besitz von Vermögenswerten und Geldern in ausländischen Gerichtsbarkeiten.
Die Regierung sollte ihr Bestes tun, um so viel wie möglich von der Wirtschaftsgesetzgebung der EU zu übernehmen und Russland in die Rolle eines zweiten Norwegen zu versetzen, das zwar nicht Teil der Union ist, aber ihre Vorschriften respektiert, ihre Industriestandards akzeptiert und sich an die Urteile des Europäischen Gerichtshofs bindet.
Eine Reform Russlands ist unmöglich ohne eine teilweise „Entsouveränisierung“, die entfernt an jene erinnert, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg durchlaufen hat.
Diese Punkte sind von größter Bedeutung, da keine postdiktatorische oder postimperiale Gesellschaft jemals in der Lage war, demokratische Reformen ohne eine Integration in eine Gemeinschaft demokratischer Nationen durchzuführen. Würde man Russland unter noch so demokratiefreundlichen Führern sich allein überlassen, würde es in weniger als zwei Generationen zu seinem imperialen und totalitären Habitus zurückkehren.
Abschließend sei festgehalten: Alle, die davon sprechen, dass die Reformierung Russlands eine recht einfache Aufgabe sei, unterschätzen das Ausmaß des russischen Aus-der-Zeit-gefallen-Seins. Das heutige Russland ist ein halbfeudaler, nationalistischer Staat, der von einem aggressiven Drang nach Expansion besessen ist. Es kann daher nicht reformiert, sondern nur „wiederhergestellt“ werden.
Und selbst wenn dies gelingt, wird die Umwandlung des gegenwärtig faschistischen Staats in eine moderne, nach westlichen ethischen Grundsätzen organisierte Gesellschaft nicht Jahre, sondern Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Sie wird nur dann zu einem glücklichen Abschluss kommen, wenn nicht nur eine neue Generation von russischen Politikern und Behörden bereit ist, sich der Herausforderung zu stellen, sondern es auch die westlichen Nationen für wert und wichtig befinden, die Russen in ihren Bemühungen um eine grundlegende Transformation ihrer Gesellschaft aktiv zu unterstützen.
Wladislaw L. Inosemzew ist ein bekannter russischer Ökonom. Er ist Sonderberater des Memri-Projekts für russische Medienwissenschaft sowie Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau. – Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 21.11.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung