Lebenskunst fängt in der Küche an
Alles braucht Zeit: Rezepte meiner Großmutter und was ukrainische Gaststätten so besonders macht
Bevor ich mich der ukrainischen Küche zuwende, sollen Sie wissen, wie ich dazu stehe. Ich behaupte nicht, die Gerichte, von denen Sie gleich lesen, seien eine ureigene ukrainische Erfindung, ich werde auch nicht das Urheberrecht darauf beanspruchen. Für mich ist Essen ein menschliches Kommunikationsmittel. Deshalb ist es vollkommen selbstverständlich, dass ein Rezept durch Länder und sogar Kontinente wandert und sich den Bedürfnissen und Geschmäckern der jeweiligen Bewohner anpasst.
Hier soll es um beliebte Speisen und Getränke gehen, die seit vielen Jahrzehnten in der Ukraine auf die Tische kommen. Und es geht darum, wie die gastronomische Tradition sich in den letzten zehn Jahren gewandelt hat.
Das gibt’s in der Ukraine zum Frühstück
„Lebenskunst fängt in der Küche an“, pflegte meine Großmutter zu sagen, sobald sie die Herdplatte anmachte und etwas zum Frühstück kreierte. Und dann ging es los:
Syrniki, süße Pfannkuchen mit Rosinen oder Moosbeeren: Sie werden aus Quark gemacht und mit Schmand, Honig oder Marmelade serviert. Es gibt auch eine salzige Variante: Syrniki aus Schafskäse mit Dill oder Petersilie.
Oder man wickelt einfach Quark mit Schmand und Honig oder Quark mit Rosinen in Bliny ein, hauchdünne Pfannkuchen, ähnlich den französischen Crêpes. Zu solchen Bliny reicht man Bratäpfel mit einer knusprigen Honigkruste und Nüssen.
Wenn Sie im Sommer irgendwo in Cherson frühstücken, gibt es dazu Wassermelone mit Schafskäse und Minze. In der Zentralukraine bekommt man gedämpfte Wareniki – kleine Teigtaschen –, gefüllt mit Kirschen, Heidelbeeren, Buchweizen, Mohn oder Honig, ebenfalls mit Quark, oder eine salzige Variante mit Kartoffeln und Zwiebeln.
In Lwiw serviert man Ihnen Strudel – ein Gebäck aus Blätterteig mit Äpfeln und Zimt. Zum Strudel trinkt man den berühmten Lwiwer Kaffee oder Schokolade; beiden ist in dieser Stadt sogar ein Museen gewidmet. Die Lwiwer Variante des Quarkgerichts sind die Lwiwer Syrniki. Dem Rezept nach ähneln sie dem amerikanischen Cheesecake. Doch sollten Sie einmal Lwiwer Syrniki aus dem Holzofen serviert bekommen, dann verstehen Sie, dass es absolut gar nichts mit Cheesecake zu tun hat. Sie haben einen sehr zarten, zugleich aber intensiven, stark rauchigen Geschmack.
Dann gibt es noch die Oladji, kleine Eierkuchen, möglicherweise Verwandte der amerikanischen Pancakes. Sie schmecken ein wenig säuerlich, weil sie mit Kefir angemacht und dann in Pflanzenöl gebraten werden. Oft gibt man auch saure Beeren in den Teig, zum Beispiel rote oder schwarze Johannesbeeren. Man isst sie am besten, wenn sie noch heiß sind. Es ist ein sehr schnell zubereitetes Gericht.
Das sind auch Faule Wareniki. Wenn Sie keine Zeit haben, die klassischen Wareniki zu machen, mischen sie einfach Quark, Eier, Mehl, Zucker und ein wenig Salz, rollen aus dieser Masse kleine Kugeln und lassen sie etwa fünf Minuten lang in Salzwasser kochen. Man isst sie mit Joghurt oder pur.
Piroggen schmecken zum Frühstück oder zwischendurch. Sehr leckere habe ich im „Jaroslawa“ in Kiew gegessen. Das ist das älteste Streetfood-Restaurant der Stadt, es existiert schon seit 75 Jahren. Und die Rezeptur der Piroggen hat sich in all der Zeit nicht verändert. Es gibt zwei Arten von Teig: klassischen Rührteig und einen mageren Teig aus Sonnenblumenöl und Walnüssen. Die Füllung wechselt je nach Jahreszeit. Im Herbst gibt es Piroggen entweder mit Kürbis, Mohn und Honig, mit frischen Pflaumen, Kirschen und Backpflaumen oder mit Pilzen und Zwiebeln.
Zu diesen Piroggen passt ideal der Uswar, ein in der Ukraine sehr beliebtes Getränk. Man gibt geräucherte Pflaumen und Birnen, getrocknete Äpfel, Hagebutten und ein wenig Zucker in einen großen Kochtopf, bringt ihn zum Kochen und lässt alles ein paar Stunden ziehen, bis es vollständig abgekühlt ist. Uswar und Kompott sind die typischen Getränke im Kindergarten.
Das letzte Frühstück in dieser Liste ist süßer Brei. Gewöhnlich aus Reis, Buchweizen, Haferflocken oder Gries, die in viel Milch gekocht und reichlich mit Honig und Butter angereichert werden. Diesen Brei findet man nicht nur in der Hausmacherküche, sondern auch in Gaststätten, wo die Köche ihn mit diversen Sorten von Käse, Kräutern, Meerkohl oder sauer eingelegten Früchten verfeinern. Jawohl, das alles gehört in den süßen Brei.
Zeit zum Mittagessen
Jeder Ukrainer kocht Borschtsch – der eine einmal pro Woche, der andere einmal alle paar Monate. Genauer gesagt, Borschtsche, denn ein festes Rezept dafür gibt es nicht. Im Jahr 2021 versuchte jemand zu zählen, wie viele Varianten von Borschtsch die Ukrainer sich ausgedacht haben. Ergebnis: 70.
Man könnte sagen, die einzigen feststehenden Zutaten zum Borschtsch seien Rote Bete und Kohl, aber auch das stimmt nicht. Es gibt nämlich auch grünen Borschtsch auf der Basis von Sauerampfer, Brennesseln und gekochtem Ei, von Kohl und Kartoffeln ist darin keine Spur.
Es gibt auch mageren Borschtsch. Er ist rot, wird jedoch nicht in Fleisch-, sondern in Fischbouillon gekocht. Normalerweise nimmt man vorgebackenen Fisch. Aber in Dnipro, im Osten der Ukraine, stellt man eine Bouillon aus gesalzenen und getrockneten Karauschen her, eine Karpfenart. Es gibt sogar vegetarischen Borschtsch mit Pilzen und Bohnen. Meine Großmutter gibt immer ein großes Stück Speck in die Bouillon. In Lwiw wurde vor Kurzem Borschtsch mit Whisky vorgestellt.
Außer der herzhaften Basis muss Borschtsch leicht säuerlich schmecken. Man gewinnt den Geschmack aus unterschiedlichen Produkten: meistens Tomaten, aber es können auch Äpfel, Birnen, Kirschen, Zitronen, Moosbeeren oder Sauerkraut sein. Sehr lecker wird Borschtsch mit Backpflaumen und geräucherten Birnen. Der Borschtsch hat mittlerweile einen solchen Status erreicht, dass man ihn nicht nur in jedem ukrainischen Haushalt, sondern auch in den besten Restaurants bekommen kann.
Aber es ist eine Sache, Borschtsch zu kochen, etwas anderes, ihn zu essen. Das ist eine ganz besondere Zeremonie. Zum Borschtsch gehören leckere Beilagen: schwarzes Roggenbrot, grüne Zwiebeln (Frühlingszwiebeln mit Salz), scharfe Adschika-Sauce, frisch geräucherter oder in Essig und Zwiebelsaft eingelegter Speck, Meerrettich, Knoblauch, Schmand mit Dill. Man kann alles zusammen und durcheinander essen, oder man sucht sich etwas nach Lust und Laune aus.
So sehr lieben die Ukrainer ihren Borschtsch, dass sie die Aufnahme in die Liste des immateriellen UNESCO-Erbes durchgesetzt haben.
Was Ukrainern zum Abendessen schmeckt
An erste Stelle gehören hierher wohl die berühmten Koteletts auf Kiewer Art, eigentlich „Kiewer Frikadellen“, die schon in den fünfziger Jahren zum gastronomischen Symbol der Ukraine wurden. Der Legende nach wurden sie speziell für die feierlichen Empfänge hochgestellter Delegationen erfunden. Die Leute staunten, dass in der Rolle aus Hähnchenfilet mit knuspriger Panade immer eine Überraschung auf sie wartete – heiße Butter mit Dill.
Wenn die Frikadelle gebraten wird, fängt die Butter im Inneren an zu kochen, wodurch das Fleisch saftig und zart wird. Man gibt so reichlich Butter in die Frikadelle, dass sie wie eine zusätzliche Soße ist.
In der häuslichen Küche macht man immer noch Kohlrouladen. Dazu wickelt man Hackfleisch mit Reis, Möhren und Zwiebeln in ein Kohlblatt ein. Man findet auch Sülze – sehr kräftige Fleischbrühe, die beim Erkalten zu einem festen Gelee wird. Man isst sie kalt, für gewöhnlich mit Rettich oder scharfer Tomatensoße.
Ein weiteres typisches ukrainisches Abendessen sind Galuschki, manchmal als Bestandteil einer Suppe, manchmal als eigenes Gericht. Galuschki sind gekochte Teigkugeln, deren Zubereitung der der faulen Wareniki ähnelt. Wenn man die Galuschki nicht in die Suppe gibt, serviert man sie mit gebratenen Zwiebeln, Pflanzenöl und Salz. Das ist die klassische Variante.
In der Westukraine gibt es zwei Hauptgerichte: Banosch und Bogratsch. Banosch ist ein sehr sättigender, in Milch gekochter Maisbrei, dem man Schafskäse, Butter und Schmand beigibt. Sehr fett, aber sehr wohltuend bei kaltem und nassem Wetter.
Den Bogratsch hat man sich bei den Ungarn abgeguckt (ungarisch „Bogrács“). Das ist ein Eintopf aus drei bis fünf Fleischsorten, dazu gehören unbedingt Paprika, Möhren und Zwiebeln. Kartoffeln gibt man nicht immer dazu, denn laut Rezept soll das Fleisch mindestens 60 Prozent des Tellers einnehmen. Das heißt, für Kartoffeln ist manchmal einfach nicht genug Platz. Traditionell kocht man den Bogratsch in einem Kessel über offenem Feuer.
In einem bestimmten Stadtteil von Kiew bereitet man jeden Tag gleich neben der islamischen Moschee Plow, Humus und Tschebureki. Dort versammelt sich die krimtatarische Gemeinde, Menschen aus Usbekistan, Afghanistan, Syrien, Libyen und Palästina. Denn genau an diesem Ort sind diese Gerichte besonders schmackhaft. Sie sind absolut nicht ukrainisch, aber sie bleiben einem so warm in Erinnerung, dass man immer wiederkommen möchte.
Ganz in der Nähe gibt er die köstlichen Falafel von Hassan. Hassan kam vor mehr als 20 Jahren aus dem Irak in die Ukraine, mit Beginn des zweiten Golfkriegs. Seitdem macht er die Falafel nach seinem eigenen Rezept. Das Besondere dabei ist, das Hassan die Zutaten nicht in Pita oder Lawasch legt, sondern in ein halbes Weißbrot, nachdem er das weiche Innere entfernt hat. Eine Portion reicht mir für den ganzen Tag.
Dreierlei Dessert
Natürlich gibt es viel mehr Sorten von Dessert. Ich habe drei ausgewählt, die vollkommen gegensätzliche Traditionen repräsentieren.
Die Kiewer Torte ist ein traditionelles Mitbringsel. Wer Kiew besucht, nimmt eine Kiewer Torte mit nach Hause, und wenn nicht, wird sie auf jeden Fall in Kiew selbst probiert. Zum klassischen Rezept der Torte gehört ein knuspriger Baiserboden und fette, süße Nusscreme mit Cognac. Das ist die am weitesten verbreitete Variante.
Sollten Sie einmal an einer traditionellen ukrainischen Hochzeit teilnehmen, gibt es dort bestimmt ein Karawai, ein fast einen Meter langes süßes Hefebrot. Es wird gekrönt von einem dicken Teigzopf, und man bestreicht es in ganzer Länge mit Eigelb, um ihm eine goldgelbe Farbe zu geben.
Wenn gerade keine Hochzeit stattfindet und man trotzdem ein Karawai backen möchte, erhält es gewöhnlich eine Füllung aus Marmelade oder Mohn. Aber nur wenn Freunde und Verwandte zu Gast kommen, denn einen kleinen Karawai zu backen, das gehört sich nicht, sagt man, und an einem großen hat man alleine lange zu essen.
Zu guter Letzt: die Kutja. Sie kommt aus Griechenland. Wörtlich übersetzt heißt Kutja „gekochtes Getreide“. Das ist ein Dessert nicht für jeden Tag. Früher gehörte dieses Gericht in den traditionellen Kontext der Totenverehrung und wurde nur zu Weihnachten serviert. Kutja ist ein süßer Brei aus Weizen, Reis und Quinoa. Aber darüber hinaus gibt man noch viele andere süße Zutaten in diesen Brei. Es handelt sich also wieder um eine Art Baukasten-Gericht, so wie der Borschtsch. Kutja verfeinert man auch mit Mohn oder mit Chalwa, mit Kürbiskernen, eingelegten Kirschen, getrockneten Aprikosen, getrockneten Weintrauben oder Moosbeeren und unbedingt mit Walnüssen und Honig.
Und womit spült man das alles hinunter?
Die Ukrainer mögen selbstgemachten Alkohol. Allein in meiner Familie gab es schon etwa ein Dutzend Sorten, die sich im Geschmack und im Stärkegrad unterschieden.
Was uns im Herbst als erstes in den Sinn kommt, ist natürlich Wein. Wobei man mit dem gewöhnlichen Wein aus Weintrauben schon niemanden mehr überraschen kann. Viele Länder rühmen sich des exquisiten Geschmacks ihrer lokalen Trauben. Ich möchte hier aber von Rosenwein sprechen.
Meine Großmutter züchtete rosa Rosen mit unglaublich zarten Blütenblättern, die, nachdem sie die Augen lange genug erfreut haben, zum Rohstoff für einen ganz speziellen Wein werden. Die Herstellung ist die gleiche wie bei normalem Wein. Aber der Duft, der während der Verkostung die Luft erfüllt, ist nicht wie bei der Produktion von Alkohol, sondern eher wie in einer Konditorei. Es sind sehr süße Aromen.
Eine andere Variante süßen Alkohols sind die aufgesetzten Liköre. Meistens nimmt man dafür Wodka oder „Samogon“ – Selbstgebrannten –, die ukrainische Variante von Wodka, dazu die Früchte und Beeren, die man am meisten mag: Maulbeeren, ein Mix aus roten und schwarzen Johannisbeeren, Kirschen, Aprikosen, Himbeeren oder Brombeeren. Die frischen Früchte legt man in der kräftigen klaren Flüssigkeit ein und lässt sie ziehen, damit sie ihr Saft und Farbe geben.
Zwei andere interessante Geschmacksexperimente sind Medowucha (von „Med“ – Honig; gesprochen „Mjodowucha“) und Chrenowucha (von „Chren“ – Meerrettich). Der Medowucha ist ein schwachalkoholisches Getränk (5 bis 10 Prozent), der aus vergorenem Honig herstellt wird. In der alten Rus war der „Trinkhonig“ ein bei jedem Gelage obligatorisches Getränk, doch später geriet es in Vergessenheit. Die Wiedergeburt des Medowucha fand in den ersten Jahren der Sowjetmacht statt. Damals nahm die Produktion industrielles Ausmaß an, und jeder Supermarkt bot dieses Getränk an.
Chrenowucha war immer Hausmachersache und ist es bis heute. Man mischt Wodka mit Honig, geriebenem Meerrettich und Zitronensaft und lässt das Ganze ziehen.
Das Besondere an ukrainischen Gaststätten
Alle bisher aufgeführten Gerichte findet man vornehmlich in der häuslichen Küche, obwohl es in jeder Stadt sicher ein Restaurant gibt, das sie nach den klassischen Rezepten oder in eigenen Interpretationen bereitet. Was essen Ukrainer unter der Woche außer Haus? Das Gleiche wie die Menschen in jeder anderen europäischen Stadt: Avocado-Toast, Croissants, Ramen, Rühreier, Pasta, Pizza und so weiter.
Was ukrainische Gaststätten von ihren Zwillingen im übrigen Europa unterscheidet, ist der sorgfältige Service, die ansprechende Optik der Speisen, die Auswahl des Geschirrs und die niedrigen Preise. Kiew ist nicht so touristisch wie zum Beispiel Barcelona, wo die Gäste darum wetteifern, in die guten Lokale zu gelangen. In Kiew dagegen wetteifern die Restaurants um die Gäste.
Die Kultur des Außer-Haus-Essens wurde in den großen Städten der Ukraine erst vor etwa fünf oder sieben Jahren populär. Früher besuchte man ein Restaurant nur zu großen Feiertagen oder an Geburtstagen, aber sicher nicht jeden Tag. Gerade diese Besonderheit gab den Lokalen die Möglichkeit, sich immer wieder selbst zu übertreffen.
Noch immer wachsen in den Städten die Konkurrenz und die Zahl der Orte, die man gerne wieder aufsuchen möchte. Einige Leute ziehen aufs Land und gründen dort Bauernhöfe. Das steht der Massenproduktion diametral entgegen. Dort kümmern sich die Leute nicht um Marketing, bauen keine Verkaufs- oder Vertriebsstrategien. Sie haben eine aufrichtige Liebe zu ihrer Arbeit. Es gibt Höfe, die Spargel ziehen, andere stellen Ziegen- und Schafskäse her, oder Konfitüre aus grünen Tomaten, Rosenblättern, Heidelbeeren und Lavendel, es gibt lokale Tofuproduzenten und sogar einen Schnecken-Hof.
In der Ukraine gibt es ein sehr großes Potenzial und Entwicklungsmöglichkeiten in den verschiedensten Bereichen. Aber das hat sie selbst erst vor Kurzem verstanden. Alles braucht Zeit, um zu wachsen und starke Wurzeln zu bekommen.
Übersetzung aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann