Die Schnecke erobert Neuland

Slow Food, die neue Arche des Geschmacks, entdeckt inzwischen auch in Russland

Unverzichtbar in Russland auch bei Slow Food: Gurken

#13 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt er der russischen Küche nach.

Die Ortswahl war Programm. Regionales Programm. Nicht in Moskau oder Sankt Petersburg, sondern im idyllischen und überschaubaren Susdal, der Partnerstadt Rothenburgs, wurde 2018 Slow Food Russia gegründet. Damit ist eine Bewegung, die Ende der 1980er-Jahre in Piemont entstand und die die westliche Ernährungsmentalität umgekrempelt hat, auch im größten Land der Welt angekommen.

Slow Food formuliert ein Unbehagen angesichts des kulinarischen Identitätsverlusts durch amerikanische Burgerketten und standardisierte Kost der Lebensmittelindustrie und ist damit höchst erfolgreich. Gut, sauber, fair sollen Produkte sein. Handwerkliche Qualität und damit verbundenes immaterielles Kulturwissen sollen wieder eine Chance haben.

Indem man die Einzigartigkeit traditionell erzeugter regionaler Lebensmittel hervorhebt, generiert man Aufmerksamkeit, Nachfrage und nicht zuletzt auch die Bereitschaft, einen Preis zu zahlen, der das wirtschaftliche Überleben kleinerer Hersteller rettet. Statt Einheitsbrei Diversität pflegen, schützen, bewahren: Slow Food ist es zu verdanken, dass aromareiche alte Apfelsorten wieder nachgefragt werden, dass fast ausgestorbene Rassen wie Mangalitza-Wollschwein, Murnau-Werdenfelser-Rind oder Kärntner Zackelschaf wieder gezüchtet werden. Oder dass wieder mehr Zitronenbauern in Amalfi sich die Mühe machen, ihre Steillagen zu bewirtschaften und damit eine der schönsten Kulturlandschaften Italiens zu erhalten.

Selbst eingemacht, gebacken, gesalzen

Dieses Small-is-beautiful-Programm ist in einem Land wie Russland, das lange durch große Lebensmittelkombinate, Einheitskost und Stolz auf immer ertragreichere Neuzüchtungen geprägt war, eine Provokation, erfordert Umdenken. Andererseits kann es an die vielen bäuerlichen Märkte und das weitverbreitete Wissen um Selbsteingemachtes, Selbstgebackenes, Selbsteingesalzenes anknüpfen. Und es trifft den nostalgischen Zeitgeist, der gern vorsowjetische Rezepte ausgräbt.

26 Convivien, 26 Ortsvereine haben sich gebildet: vom kaukasischen Elbrus-Gebiet bis zur fernöstlichen Halbinsel Kamtschatka, vom Baikalsee bis zum Ural, vom südsibirischen Altai-Gebirge bis Sankt Petersburg, von Murmansk bis Moskau soll sich ein „neuer Goldener Ring“ aufgeklärter Genießer spannen und eine kulinarische Landkarte ihrer Region erstellen.

Es muss nicht immer Kaviar sein

Ein besonderes Anliegen ist Slow Food die Arche des Geschmacks. Für nicht Bibelkundige: Wie Noah einst während der Sintflut die Vielfalt der Fauna rettete, indem er Tierpaare auf seine Arche lud, will man vom Aussterben bedrohte Nutzpflanzen, Nutztierarten und Zubereitungstechniken retten. Diese Archeprodukte sind oft wegen ihrer Seltenheit und ihres besseren Geschmacks die Delikatessen von morgen.

Und es muss nicht immer Kaviar sein (der allerdings auch des Schutzes bedarf): Die Gurkennation Russland hat mehrere Sorten ogurzy in die Arche aufgenommen, darunter die kleine seit dem 13. Jahrhundert bekannte Muromskij-Gurke, die wieder mehr Gärtner rund um Susdal anbauen und die alljährlich bei einem Gurkenfestival gefeiert wird.

Rar in russischen Läden

Viele der aufgelisteten Produkte sind schwer erhältlich. Slow Food-Lebensmittel sind eine absolute Rarität in unseren russischen Läden. Aber es ist spannend, sich ein Geschäft vorzustellen, in dem man die Wahl hätte zwischen Rote-Rüben-Kwass, Ebereschenmarmelade und einer Lieblingsnascherei Tolstojs: getrocknete Pastila aus Apfelpuree mit Eischnee, am besten aus einer Manufaktur im für seine Kremlmauern berühmten Kolomna.

Für sibirisches Fischöl dürfte die Nachfrage hierzulande bescheiden ausfallen. Aber ein Steak vom langgehörnten Ukrainischen Grauvieh, das den Vergleich mit Charolais oder toskanischem Chianina nicht scheuen muss, kann schon reizen. Und schwarzes Ostersalz, getrocknetes Rentierfleisch oder Wildblutwurst aus dem fernöstlichen Oblast Amur würde ich sofort kaufen, schon aus purer Neugierde.

Slow Food: Genießen statt schlingen

Das Symbol von Slow Food ist die Schnecke; sie steht für langsames Genießen, für Tischgemeinschaft statt des Hinunterschlingens von Fastfood. Sie steht für das Wissen, dass guter Wein, guter Schinken, gute Salzgurken langsam reifen müssen.

Noch steckt Slow Food Russia in den Kinderschuhen. Die Website ist nur spärlich bebildert, die Vertriebswege müssen erst aufgebaut werden. Wenige der Restaurants, die sich in der Chef Alliance den Zielen der Bewegung verpflichtet haben, betreiben eigene Homepages, weniger noch zweisprachige. Das Gefühl für die enorme Bereicherung, die die Wiederentdeckung und Bewahrung des kulinarischen Erbes bedeutet, und für die wirtschaftlichen Chancen, die sich dadurch für individuelle Start-Ups auftun, muss erst in Russland wachsen.

Aber ein Anfang ist gemacht, um vom ewigen Pelmeni-Borschtsch-Wodka-Klischee der russischen Küche wegzukommen. Die Speisen, die uns Slow Food verrät, könnten zum Anlass werden, Russland nicht nur wegen seiner Klöster und Zarenpaläste, seiner Flüsse, Seen und Gebirge, seiner Opernhäuser und Ballett-Aufführungen zu besuchen und so kulinarischen Tourismus fördern.

Lesen Sie weitere Beiträge unseres Gastrosophen Peter Peter in der Rubrik Leben/Kulinarisches.

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