Welche Faktoren Sicherheitspolitik beeinflussen
Wieso Russlands Außenpolitik Misstrauen erntet und aus einem Partner ein Feind wurde
Bei der Suche nach den Gründen für die politische Zerrüttung zwischen dem politischen Westen und Russland hat Wladislaw Inosemzew sozialpsychologisch den Blick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin als subjektiven Faktor gelenkt.
Für Andrei Kortunov hätten hingegen beiderseitig mehr Empathie und Kompromissbereitschaft der heutigen Entfremdung entgegenwirken können. Von ihm identifizierte „Fundamentale Divergenzen der Sicht auf die Welt“ lesen sich als objektiver Faktor.
Fragen nach den Wurzeln und ihren Implikationen nicht miteinander vereinbarer Werte-, Interessen- und Ordnungsvorstellungen von Staaten werden in den Sozialwissenschaften im Forschungsfeld der Strategischen Kultur untersucht. Diese spiegelt wie eine DNA die gesellschaftliche, politische, normative und ökonomische Identität eines Staats vor dem Hintergrund seiner kollektiven historischen Erfahrungen, Werte, Weltbilder sowie Traditionen und modelliert damit auch seine außen- und sicherheitspolitische Ausrichtung.
Die maßgeblichen außen- und sicherheitspolitischen Konstanten in den Strategischen Kulturen von Deutschland und Russland ergeben kursorisch folgendes Bild:
Institutionalismus und Liberalismus bilden das strategisch-kulturelle Korsett der politischen Eliten in Deutschland. Stichwortartig steht es für Berechenbarkeit, Politik vor Macht/Zurückhaltung bei militärischen Einsätzen, Zivilmacht, Souveränitätsachtung in den internationalen Beziehungen, Präferenz für Mächtegleichgewicht, Dialogprimat, Kompromissorientierung und multilateralem Win-win-Interesse.
Die russländische politische Klasse ist, verankert in der Tradition autoritärer Herrschaftsstrukturen, strategisch-kulturell antiliberal und neorealistisch geprägt. In die politische Gestaltung übersetzt bedeutet das eine niedrigschwellige machtpolitische Bereitschaft zur Bewahrung der als bedroht perzipierten eigenen Souveränität und Sicherheit. Die Überbetonung von Sicherheit wird als geschichtlich begründet dogmatisiert und mündet in einem politischen Denken von Nullsummen, regionalen Machtprojektionen und Einflusssphären aufgrund „historisch privilegierter Interessen“ einer Großmacht.
Sicherheitspolitik ist schwer wandelbar
Sicherheitspolitische Strategische Kulturen sind langlebig und nur schwer wandelbar. Zwei Beispiele:
Der Interim-Präsident Dmitri Medwedew versuchte 2008 mit seinem „Vorschlag für einen euro-atlantischen Sicherheitsvertrag“ eine Revision der europäischen Sicherheitsarchitektur einzuleiten. Er scheiterte im strukturellen Dickicht disparater westlicher und russischer Interessen, Positionen, Perzeptionen.
In einem ihrer letzten Auftritte als Bundesverteidigungsministerin forderte Annegret Kramp-Karrenbauer eine sicherheitsstrategische Kulturwende in Deutschland. Die Aufnahme dieses Staffelstabs durch ihre SPD-Nachfolgerin ist nicht zu erwarten. Das würde zur Zerreißprobe in der SPD-Fraktion führen. (Dabei gehen konservative Experten in renommierten europäischen Think Tanks mit ihren Postulaten einer Korrektur von „Deutschlands außenpolitische(r) Kultur“ noch viel weiter.)
Russland: Großmacht oder Weltmacht?
Zar Alexander III. wird der Satz zugeschrieben: „Russland hat nur zwei Freunde in der Welt – seine Armee und seine Flotte.“ Das galt auch für die Sowjetunion. Weltmachtstatus erwirkte sie nur mit ihrer Nuklearrüstung und einer als Proletarischer/Sozialistischer Internationalismus kaschierten Geopolitik in der Dritten Welt.
Vetorecht im UN-Sicherheitsrat und Nuklearwaffen besaßen aber auch Frankreich und Großbritannien und waren zudem noch potente Ökonomien mit Soft-power-Fähigkeiten. Bundeskanzler Helmut Schmidt dequalifizierte die UdSSR vor diesem Hintergrund zu einem „Overvolta mit Atomwaffen“.
Heute ist Russland als atomarer Petrostaat unbestritten die solitäre Großmacht in Europa. Putin strebt jedoch an, zu einem von den USA anerkannten politisch-ebenbürtigen Global Player zu reüssieren; vergleichbar mit dem Großmachtstatus auf dem Wiener Kongress 1814/15 für die top dogs des damaligen internationalen Systems und dem Anspruch, die eigene Machtsphäre autoritativ ordnen zu können.
Barack Obamas Spott nach der Annexion der Krim im März 2014, Russland sei nur eine Regionalmacht und agiere „nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche“, war faktisch, diplomatisch und strategisch-denkend falsch. Die Abwärtsspirale von der russischen Denkfigur eines potenziellen Nato-Beitritts (Jelzin/Dezember 1991 und Putin/Februar 2000) zu einem kontinuierlich wachsenden reziproken Misstrauen und politischer Entfremdung unter beiden Präsidenten hatte bereits 2007 die russische Politologin Lilija Ševcova eindrucksvoll beschrieben.
Strategischer Partner – Sicherheitspartner – Sicherheitsopponent
Der „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit” zwischen dem gerade geeinten Deutschland und der UdSSR vom 9. November 1990 ist ein Musterbeispiel des Umbruchs von vormaliger tiefer Gegnerschaft zur Strategischen Sicherheitspartnerschaft. Von nicht minder hoher Symbolkraft erstellte der Europäische Rat am 4. Juni 1999 eine Russland-Strategie. Mit vielen geplanten operativen Inhalten bekannten sich die EU-Staats- und Regierungschefs dazu, „dass die Zukunft Russlands wesentlicher Bestandteil der Zukunft des Kontinents und für die Europäische Union von strategischem Interesse ist“. Aber eine Sicherheitspartnerschaft konnte Brüssel Moskau mangels normativer sicherheitspolitischer Kompetenzen nicht anbieten.
Zum faktischen Sicherheitspartner der USA wurde Moskau durch 9/11. Bushs Kampf gegen den Terrorismus unterstützte Putin rhetorisch und mit praktischer Hilfe: So durften die USA Truppen in den an Afghanistan grenzenden vormaligen sowjetischen Republiken stationieren, Moskau brachte Waffen zur afghanischen Nordallianz und kooperierte nachrichtendienstlich.
Allerdings instrumentalisierte Moskau die Hilfe auch für die eigene Kriegsführung in Tschetschenien. Mit den Worten des russischen Militärexperten Aleksander Golz: „Das war ein ziemlich geschickter Zug von ihm [Putin, die Red.], der den tschetschenischen Separatismus ganz, ganz schnell auf das gemeinsame Gleis des internationalen Terrorismus gehoben hat.“
Nach der Krim-Besitznahme und den militärischen Unterstützungen der Separatisten in der Ostukraine erklärte das EU-Parlament im Juni 2015, Russland könne nicht mehr als „‚strategischer Partner‘ behandelt oder betrachtet werden“. Und vier Jahre später heißt es in der Globalen Strategie der EU vom Juni 2019 schnörkellos: „Russia, which remains a strategic challenge for the EU.”
Wer fühlt sich bedroht und warum?
Die Absicht, zu bedrohen, führt ins Leere, wenn sie nicht mit Fähigkeiten unterlegt ist. Umgekehrt bleibt die Fähigkeit, potenziell Schaden anzurichten, folgenlos, wenn keine Absicht existiert. Bedrohungsabsicht und Bedrohungsfähigkeit konstituieren demnach einen objektiven Bedrohungsmodus, der beim Adressaten Bedrohungsperzeptionen auslöst. In der Sicherheitspolitik werden darum Bedrohungsvorstellungen im Bezugssystem zwischenstaatlicher Beziehungen mit der Formel Absicht x Fähigkeit = Bedrohung dargestellt.
Fallstudien aus der empirischen Sozialforschung offenbaren jedoch das Phänomen, dass auch nicht-intendierte Bedrohungen, dennoch zu Bedrohungsperzeptionen führen können. Das passiert dann, wenn die Politik von Staat A und insbesondere seine Schadensfähigkeit von Staat B mit den politischen Zielvorstellungen und Verhaltensweisen des Staates A verglichen werden.
Auf die russisch-ukrainischen Beziehungen übertragen: Unterstellt, Moskau beabsichtigt tatsächlich keinen militärischen Angriff gegen die Ukraine, so wirken die russischen Manöver und Streitkräftemassierungen im Rückraum der Grenze gleichwohl bedrohend, weil Russlands Zielvorstellungen (Negierung einer ukrainischen Nation) und bisheriges Handeln gegenüber Kiew das möglich erscheinen lassen. Ergo: Auch Zurschaustellung von Fähigkeiten ohne Angriffsabsicht kann als Bedrohung gewertet werden und soll implizit Politik wirksam sein.