Russland und der Westen

Russland: Spiel ohne Regeln verhindern

Moskaus Rückzug vom prowestlichen Kurs war unvermeidlich, Europa bleibt gespalten, internationale Verantwortung bleibt

Russland USA
Im Dauerzwist und doch zu Zusammenarbeit verpflichtet: Russland und die USA

Zurückblickend auf die drei letzten Jahrzehnte der schwierigen und widersprüchlichen Geschichte Russlands stellt sich unwillkürlich die Frage: Inwieweit war der Verlauf der bilateralen Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen vorherbestimmt?

Gab es andere, alternative Szenarios für die Entwicklung dieser Beziehungen, die weniger Meinungsverschiedenheiten und Konflikte zwischen den beiden Seiten und eine breitere und stabilere Zusammenarbeit gezeitigt hätten? Oder war die strategische Spaltung zwischen Russland und seinen westlichen Partnern von Anfang an historisch unvermeidbar, und die Frage war lediglich, wann und in welcher konkreten Form dieser Bruch vonstatten gehen würde?

Wahrscheinlich werden Historiker und Soziologen, Politiker und Journalisten noch lange über die Zusammensetzung der subjektiven und objektiven Faktoren streiten, die letztlich bewirkt haben, dass Russland auch noch nach dreißig Jahren nicht zu einem organischen und integralen Bestandteil des „kollektiven Westens“ geworden ist. Ich halte den Rückzug des Kremls von seinem konsequenten „prowestlichen“ Kurs vom Anfang der 1990er-Jahre für historisch unausweichlich.

Frustrierter Nationalismus, Skepsis gegen Liberalismus

In vielen postsozialistischen Staaten Zentral- und Osteuropas, auch in denen, die sich mehr als erfolgreich in die euroatlantischen Sicherheits- und Entwicklungsmechanismen integrierten, verzeichnete man den Anstieg eines frustrierten Nationalismus, eine wachsende Skepsis gegenüber liberal-demokratischen Werten und wiederholt aufgeheizte Zwistigkeiten mit den Ländern des „alten Westens“. Was jedoch Russland betrifft, konnte man selbst in den besten Zeiten der Zusammenarbeit mit dem Westen schwerlich darauf hoffen, dass das Land ein vollwertiges und diszipliniertes Mitglied der Europäischen Union werden könnte oder sich vollständig in die militärischen Strukturen der Nordatlantikallianz einfügen würde.

Nichtsdestotrotz war es zu einem bestimmten Zeitpunkt, mit ein wenig Fantasie, durchaus vorstellbar, dass Russland sich aktiv an der Arbeit der politischen Institutionen der NATO beteiligen würde, ohne zugleich zwangsläufig Teil der militärischen Strukturen des Blocks zu werden, ähnlich wie Frankreich in der Zeit zwischen 1966 und 2009. Desgleichen konnte man sich durchaus ein Russland vorstellen, das die Türkei bei der normativ-rechtlichen, der kulturellen und der politischen Annäherung an die Europäische Union sehr rasch ein- oder sogar überholte.

Was möglich gewesen wäre

Man hätte sich Moskau in der Rolle Warschaus vorstellen können, das, wann immer es gerade passt, seine „Besonderheit“, seine „Andersartigkeit“ in Bezug auf das „alte“ Europa hervorkehrt, ohne sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, sich in der Rolle des „ewigen Opfers“ des europäischen Egoismus und der Undankbarkeit darzustellen, nicht aber als Gegner der gemeinsamen Familie der europäischen Völker und Staaten. Das heißt, unter günstigen Bedingungen hätte Russland sehr wohl die Rolle eines „anderen Westens“ beanspruchen können, mit seiner einzigartigen Spezifik, mit seinem eigenen besonderen Platz im euroatlantischen Raum, mit einem komplexen Repertoire bilateraler Beziehungen zu den anderen westlichen Ländern, gleichwohl aber mit dem dezidierten Bewußtsein seiner Zugehörigkeit zur „westlichen Welt“.

All das wäre vermutlich nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich gewesen. Dazu hätte es von beiden Seiten während der letzten 30 Jahre nur ein wenig mehr an Weisheit, Beharrlichkeit und Geduld bedurft sowie mehr Bereitschaft zu Kompromissen.

Die Länder des Westens hätten sich bereit zeigen können, mehr politisches Kapital in gemeinsame europäische Institutionen zu investieren, statt sich nur auf die geographische Erweiterung der eigenen exklusiven Strukturen zu fixieren, die ihnen aus der vergangenen Epoche des Kalten Kriegs geblieben waren.

Russland seinerseits hätte sich ernsthafter der historischen Aufgabe der Versöhnung mit seinen Nachbarn im Baltikum und Zentraleuropa widmen können, wodurch aus verbissenen Gegnern Moskaus zwar sicher nicht energische Lobbyisten der russischen Interessen in Brüssel geworden wären, aber wenigstens wohlwollende Beobachter der russischen Transformation.

Die Chance auf die Bildung eines einheitlichen euroatlantischen Raums von Vancouver bis Wladiwostok wurde jedenfalls unwiederbringlich verpasst.

Tempi passati: Ein Zurück ist nicht möglich

Aus heutiger Sicht spielt es keine Rolle mehr, wann genau der strategische Bruch zwischen Russland und dem Westen unumkehrbar war – 2014, als die chronische ukrainische Krise in eine akute Phase eintrat, oder schon sechs Jahre davor während des bewaffneten Konflikts im Südkaukasus. Viel wichtiger ist es festzuhalten, dass der Westen, dass Russland, dass die Welt insgesamt nicht mehr dieselben sind wie vor dreißig, zwanzig oder auch nur zehn Jahren.

Ein Zurück in diese Zeit kann es schlicht nicht geben – das globale Kräfteverhältnis hat sich in den vergangenen Jahren radikal verändert, die ganze Agenda der Weltpolitik hat sich verändert, es hat schwerwiegende Verschiebungen in den nationalen Prioritäten sowohl in Moskau als auch in vielen westlichen Hauptstädten gegeben. Man kann die Geschichte nicht zurückspulen, beide Seiten müssen sich nach vorne bewegen, nicht rückwärts.

Es geht nicht nur um die Ukraine

Es gibt die Auffassung, das größte Hindernis auf dem Weg einer Versöhnung zwischen Russland und dem Westen sei das ungelöste Problem mit der Ukraine. Wenn es beiden Seiten plötzlich durch ein himmlisches Wunder gelingen sollte, die Situation vor 2014 wiederherzustellen, können alle übrigen Uneinigkeiten und Widersprüchlichkeiten zwischen den Seiten sowohl in Europa als auch in den anderen Regionen der Welt ziemlich schnell und relativ schmerzlos ausgeräumt werden.

Dem könnte man zum Teil zustimmen, denn immerhin ist die Ukraine jetzt seit fast schon acht Jahren der Hauptgegenstand des Zwists zwischen Moskau und den westlichen Hauptstädten. Aber es geht eben, wie mir scheint, nicht nur um die Ukraine.

Zwischen Russland und dem „kollektivem Westen“ existieren, wie vor drei Jahrzehnten auch, gewichtige Unterschiede im Hinblick auf die geographische Lage, die historische Erfahrung, die tiefverwurzelten Traditionen und insbesondere im Hinblick auf die soziale Psychologie. 1991 glaubten viele, diese Unterschiede leicht überwinden zu können – mit dem nötigen politischen Willen und dem Bestreben zur Zusammenarbeit.

Fundamentale Divergenzen der Sicht auf die Welt

Aber wie die vergangenen dreißig Jahre zeigten, haben uns diese Hoffnungen getrogen. Diese Unterschiede zwischen Russland und dem Westen prägen bis heute das allgemeine Weltbild und die politische Logik beider Seiten, was es so schwierig macht, bei vielen konkreten Problemen zu Kompromissen zu finden.

Zwischen Russland und dem Westen (das gilt zumindest für die Ebene der politischen Eliten, in gewissem Maße aber auch für die Gesellschaft im Allgemeinen) existieren grundsätzliche Divergenzen in Bezug auf die fundamentalsten, wichtigsten Fragen der gegenwärtigen und künftigen Weltordnung. Was ist richtig und was falsch konstruiert in unserer Welt? Was ist gerecht und was ist ungerecht im internationalen System? Was ist legal und was illegal? Wie sollte die neue Weltordnung beschaffen sein, und wer sollte die Verantwortung für ihren Aufbau tragen?

Diese Divergenzen werden überlagert von den Vorstellungen im Westen und in Russland von der fundamentalen und sich stetig vertiefenden Schwäche der anderen Seite:

Im Westen wird man nicht müde, von der Fragilität und Primitivität der russischen Wirtschaft zu sprechen, von der technologischen Rückständigkeit Russlands in vielen Schlüsselbereichen, von der akuten demographischen Krise.

In Russland lässt man sich keine Gelegenheit entgehen, festzustellen, dass viele Gesellschaften des Westens sich in einem Zustand der Spaltung oder der Fragmentierung befinden, dass das soziale Vertrauen gegenüber den staatlichen Institutionen sinkt, dass der Westen wirtschaftlich immer mehr hinter dem sich dynamisch entwickelnden China zurückbleibt.

Daher fühlen sich weder der Westen noch Russland veranlasst, den ersten Schritt auf den anderen zuzugehen. Beide gehen davon aus, dass die Zeit die andere Seite zwingt, Konzessionen zu machen.

Weil das so ist, hat jede Hoffnung auf eine wie auch immer „endgültige“ Versöhnung zwischen Russland und dem Westen in absehbarer Zukunft kaum eine Grundlage. Erst die Geschichte wird zeigen, wessen Einschätzung der internationalen Beziehungen, der Welt im Ganzen und seiner Rolle in dieser Welt besser begründet ist.

Das Mögliche tun, um Risiken zu reduzieren

Bis dahin aber können Russland und seine westlichen Partner vor allem darüber zu einer Einigung kommen, wie man die Kosten so weit wie möglich senkt und die Risiken reduziert, die mit der aktuellen Konfrontation zusammenhängen, die noch lange Zeit anhalten könnte. Was selbstverständlich eine Zusammenarbeit in Fragen nicht ausschließt, die die beiderseitigen Interessen betreffen.

Beide Seiten könnten sich auf Maßnahmen zur Stabilisierung der militärpolitischen Lage in Europa verständigen, einschließlich der Wiederaufnahme der abgebrochenen Kontakte zwischen den Militärs Russlands und der NATO auf unterschiedlichen Ebenen, die Eindämmung der Gefahr unbeabsichtigter Vorfälle zu Land, zu Wasser und in der Luft und die Bestätigung der sich aus der im Jahr 1997 unterzeichneten NATO-Russland-Grundakte ergebenden gegenseitigen Verpflichtungen. Große Bedeutung hätte auch ein beidseitiges Moratorium über die Stationierung von Raketen mittlerer und kurzer Reichweite in Europa, sowie Maßnahmen beider Seiten zur Verringerung militärischer Aktivitäten entlang der Linie, wo Russland und NATO sich unmittelbar gegenüberstehen.

Die Stabilisierung der Lage in Europa ist nicht gleichbedeutend mit der Bildung eines Systems der kollektiven Sicherheit; Europa wird in politscher und militärischer Hinsicht noch sehr lange gespalten sein. Aber sogar ein gespaltenes Europa könnte ein sicherer und komfortablerer Ort für alle Europäer sein, wenn es gelänge, die „roten Linien“ abzusprechen, die beide Seiten nicht überschreiten dürfen. Stetige Förderung des Vertrauens zwischen dem Westen und dem Osten des Kontinents könnte dazu beitragen, sich sogar noch ambitioniertere Ziele zu setzen – zum Beispiel eine Reform und gleichzeitige Erhöhung des Status der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Wo Zusammenarbeit möglich ist

Möglich, mehr noch, dringend notwendig wäre zugleich eine Zusammenarbeit im Bereich der Energiewende, bei der Überwindung der Corona-Pandemie, bei der Prävention des politischen Extremismus und internationalen Terrorismus, bei der Steuerung von Migrationsprozessen und bei der Erschließung und beim Schutz der arktischen Region und anderer Bereiche, in denen sich die Interessen beider Seiten vollständig oder teilweise decken.

Entscheidungen, die in Moskau und Berlin, in Washington und Brüssel getroffen werden, dürfen nicht nur von den politischen Kräfteverhältnissen in den jeweiligen Machtzentren oder den möglichen Reaktionen der öffentlichen Meinung auf diese Entscheidungen bestimmt werden; sondern mindestens genauso von der Einsicht in die strategischen Herausforderungen, Möglichkeiten und Prioritäten, vor denen beide Seiten stehen. Je weiter wir in die Zukunft zu blicken bereit sind, desto mehr Bereiche finden wir, in denen die Interessen Russlands und des Westens übereinstimmen.

Außerdem dürfen beide Seiten bei relevanten außenpolitischen Entscheidungen nicht nur die eigenen Interessen berücksichtigen, sondern auch die Interessen des gesamten Systems der internationalen Beziehungen. Weil die Zerstörung dieses Systems im Endeffekt sowohl für Russland als auch für den Westen nichts Gutes zur Folge hat.

Die taktischen Siege einer der beiden Seiten überwiegen nie die strategischen Kosten, die durch eine allgemeine Destabilisierung des Weltsystems, den Zerfall der internationalen Organisationen, der Erosion des internationalen Rechts entstehen, kurz, mit dem Übergang zu einem „Spiel ohne Regeln“ und einem Spiel „Jeder gegen Jeden“ in der Weltpolitik.

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