Nato muss Rüstungskontrolle vordenken

Weshalb die Allianz die Rüstungskontrolle zum Kern ihres strategischen Konzepts machen muss

Frieden und Abrüstung sind möglich, deutet die "Non Violence"-Skulptur von Carl Frederik Reuterswärd vor dem UN-Hauptgebäude in New York an.

Unter Donald Trump konnte die Nato schon froh sein, einfach nur zu überleben. Tatsächlich hat der französische Präsident Emmanuel Macron 2019 gewarnt, das Bündnis werde bald „hirntot“ sein. Beim ersten persönlichen Treffen der amerikanischen Verbündeten mit US-Präsident Joe Biden in dieser Woche herrschte deshalb allgemeine Erleichterung.

Aber die Nato muss immer noch zeigen, dass sie ihre Probleme nicht nur mit ihren Muskeln lösen kann, sondern auch mit ihrem Gehirn. Und es wäre intelligent, dabei mit der Rüstungskontrolle anzufangen.

Bei diesem Thema kann die Nato auf stolze Errungenschaften zurückblicken: Bereits 1957, bei der Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in London, hat sie ihr erstes Programm für nukleare Abrüstung vorgestellt. Sogar in der schlimmsten Zeit des Kalten Kriegs hat sie versucht, sich mit dem Warschauer Pakt auf ausgewogene Rüstungskontrollmaßnahmen zu einigen. Und 1987 hat sie US-Präsident Ronald Reagan dabei unterstützt, das US-sowjetische Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen auszuhandeln.

So wiederum konnten die Bündnispartner die Anzahl der zur Verteidigung der Nato eingesetzten Nuklearwaffen verringern. Seit dem Ende des Kalten Kriegs wurden diese Bestände zu über 85 Prozent abgebaut.

Nato hat die Rüstungskontrolle vernachlässigt

In letzter Zeit hingegen scheint die Nato das Thema der Rüstungskontrolle zu vernachlässigen. Ihr Generalsekretär Jens Stoltenberg kann nur so weit gehen, wie ihn die dreißig Nato-Verbündeten lassen. Er betont, Rüstungskontrolle liege bei der Nato „in der DNA“. Aber zuletzt hat das Bündnis das Thema so behandelt, als sei es kein Leitprinzip, sondern eher eine Fußnote. Stoltenbergs Rede zur Rüstungskontrolle bei der Nato-Konferenz vom Oktober 2019 deutet darauf hin, was falsch gelaufen ist:

Zunächst hat Stoltenberg die Nato-Verbündeten gedrängt, den Atomwaffensperrvertrag zu retten und umzusetzen – den Grundstein internationaler nuklearer Zurückhaltung. In diesem Bereich haben die Nato-Mitglieder ihren Worten keine Taten folgen lassen. Im Gegenteil: Beispielsweise hat Großbritannien gerade die Obergrenze seines Nuklearwaffenarsenals erhöht, was den anderen Nato-Nuklearmächten (und den von ihnen beschützten Ländern) die Behauptung erschwert, sie würden sich weiter an die Prinzipien dieses Vertrags halten.

Zweitens rief Stoltenberg die Nato-Mitglieder auf, die Programme zur Nuklearwaffenkontrolle neuen Realitäten anzupassen. Aber die einzigen Leitlinien, die er anbot, waren reaktiv: Das Bündnis solle „auf die neue russische Raketenbedrohung auf defensive, maßvolle und koordinierte Weise reagieren“.

Russische Vorschläge zur Rüstungskontrolle ignoriert

Nicht nur hat die Nato keine neuen Ideen, sondern hat auf wiederholte russische Rüstungskontrollvorschläge entweder mit Schweigen reagiert oder sie pauschal abgelehnt. Diese Position wird den Ruf der Allianz inner- und außerhalb ihres Einflussbereichs wohl kaum verbessern. Warum sollte man nicht moralisch punkten, indem man dem Kreml Rüstungskontrollvorschläge macht oder zumindest erklärt, was an den russischen Vorschlägen falsch ist?

Natürlich war Stoltenbergs dritter Punkt, die Nato müsse ihren Rahmen dahingehend modernisieren, dass er russische, Nato-interne und andere europäische nichtnukleare Militäraktivitäten umfasst (entsprechend dem sogenannten Wiener Dokument). Und 2020 machte die Allianz einige Vorschläge, die von Vertretern Russlands abgeblockt wurden. Aber kaum jemand weiß davon, weil sich die Nato nicht laut genug für Rüstungskontrolle einsetzt, um in diesem Bereich glaubwürdig zu wirken.

Und schließlich hat sich Stoltenberg für zusätzliche Regeln und Standards im Bereich der neuen Technologien stark gemacht. Nur sind seit seiner Rede fast zwei Jahre vergangen. Wo bleiben die Vorschläge der Nato?

Die Bündnispolitiker behaupten, sie ließen die Tür für einen bedeutungsvollen Dialog mit Russland offen, haben dazu aber keine ernsthaften eigenen Ideen beigetragen. Stattdessen bevorzugen sie es, einfach nur auf die Russen zu warten und damit ihrem Gegner die Initiative zu überlassen.

Rüstungskontrolle ist gut für alle Seiten

Ich betrachte Stoltenberg als Freund und weiß, dass er weiter gehen würde, wenn ihn die Nato-Mitglieder lassen würden. Zu versuchen, unter dreißig Verbündeten mit unterschiedlichen Ansichten einen Konsens zur Rüstungskontrolle zu finden, ist keine beneidenswerte Aufgabe. Aber nun kann die Nato wieder durchatmen und hat keine Entschuldigung mehr dafür, ihren Worten keine Taten folgen zu lassen.

Darüber hinaus ist die nukleare Rüstungskontrolle wieder modern: Die USA und Russland haben sich geeinigt, den New-START-Vertrag um weitere fünf Jahre zu verlängern, und die Biden-Regierung hat ihren Wunsch nach weiteren Rüstungskontrollmaßnahmen geäußert. Früher waren Rüstungskontrollverhandlungen einer der verlässlichsten Bereiche, in denen Gemeinsamkeiten mit Russland gefunden werden konnten.

Um diese Tradition wiederzubeleben, müssen die europäischen Nato-Verbündeten der Biden-Regierung einen Teil der intellektuellen Last abnehmen. Definitionsgemäß ist Rüstungskontrolle für alle, die daran teilnehmen, eine Win-Win-Situation. Richtig umgesetzt bedeutet sie mehr Stabilität, bessere Abschreckung, weniger Risiken und geringere Kosten.

Rüstungskontrolle muss Kernstrategie werden

Angesichts dessen muss die Nato die Rüstungskontrolle zum Kernpunkt des neuen Strategischen Konzepts machen, das sie im kommenden Jahr verabschieden will, damit die stetigen Erhöhungen der europäischen Verteidigungsausgaben nicht zum Treibstoff eines neuen Rüstungswettlaufs werden. Sie sollte eine Abteilung für Rüstungskontrolle gründen, um neue Ideen über die Zukunft dieses Prozesses zu fördern und die Risiken und Möglichkeiten neuer Technologien einschätzen zu können. Und sie sollte zwischen den nuklearen und nicht-nuklearen Staaten einen weltweiten Dialog beginnen.

Anstatt sich ewig zu verschanzen, muss die Nato eigene Vorstellungen entwickeln, damit sie glaubwürdig auf die Vorschläge ihrer Gegner reagieren und ihre Führungsrolle erneuern kann. Die Rüstungskontrolle wiederzubeleben ist der Schlüssel für ihre kollektive Verteidigung – und der Beweis, dass sie von ihrer Nahtod-Erfahrung ins Leben zurückgekehrt ist.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.
Copyright: Project Syndicate, 2021.

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