Trotz Verbots: RT DE sendet weiter
Recht auf freie Meinungsäußerung: Der russische Sender RT DE kann weiter Propaganda verbreiten
Wenn Medien etwas „in eigener Sache“ berichten, verraten sie unter dieser Überschrift, was sich in einer Redaktion wandelt, wer neuer Chef wird oder warum sich das Layout ändert. Wie man Sanktionen der Europäischen Union umgehen kann, ist ein überraschender Inhalt dieser Kategorie. Bei RT DE, dem früheren Sender Russia Today, aber geht es „in eigener Sache“ genau darum. Es folgt eine ausführliche Anleitung, wie und wo RT auch im September noch zu finden ist – dabei sollte das russische Propagandamedium durch einen Beschluss der EU-Kommission vom 1. März in den Mitgliedstaaten nicht mehr verfügbar sein.
Die EU war in Sorge, dass die russischen Desinformationssalven die Debatten in den Mitgliedstaaten beeinflussen könnten. Russland betreibe „eine systematische internationale Kampagne der Medienmanipulation und Verfälschung von Fakten“, begründete die EU-Kommission daher ihr Verbot. Doch mehr als sechs Monate später ist RT weiter präsent.
Wie macht RT das, und warum stoppt niemand diese Desinformationskampagne?
„Russland war auf die Sanktionen definitiv vorbereitet“, sagt Felix Kartte von der Stiftungsinitiative RESET, die sich eigentlich für eine bessere demokratische Kontrolle von großen Internetfirmen einsetzt. Seit Beginn der russischen Invasion aber kämpft Kartte auch noch auf einem anderen Feld. Gemeinsam mit anderen Denkfabriken und Fachleuten initiierte er das Disinformation Situation Center, das den digitalen Feldzug Russlands gegen die Ukraine, aber unmittelbar auch gegen europäische Öffentlichkeiten analysiert. „Russland hat sowohl den Willen als auch die Ressourcen, die Sanktionen zu umgehen.“
Wie das konkret funktioniert, schreiben Kartte und seine Kollegen des Disinformation Situation Center seither regelmäßig auf. Ihre Berichte zeigen die ganze Bandbreite der russischen Umgehungstaktiken, die die Wirkung des Verbots russischer Propagandamedien einschränken: Das Portal Sputnik, das wie RT unter das Verbot durch die EU fällt, nannte sich auf Telegram kurzerhand in „Satellit“ um.
RT wiederum betreibt seine Internetseite weiter und füllt sie tagesaktuell mit Meldungen über eine düstere Welt westlich von Russland: Gaskrise. Massenproteste. Die drohende Überlastung von Kinderarztpraxen in Deutschland.
Nur die Webadresse musste RT DE ein wenig ändern, aber Suchmaschinen finden sie dennoch. Für den Fall der Fälle listet RT Ausweichadressen auf, sollte eine weitere gesperrt werden.
Die russischen Botschaften helfen
Außerdem gelten Sanktionen der EU naturgemäß nur in den Mitgliedstaaten. Wer einen VPN-Zugang nutzt, kann damit aber seine Präsenz virtuell in ein anderes Land verlegen. Das nutzen in Russland Oppositionelle, um auf freie Medien zuzugreifen – in der EU rät RT zum VPN-Gebrauch, um die Propaganda bequem an den Sanktionen vorbeiempfangen zu können.
Schon wenige Tage nach dem Beginn der Invasion zeigte Russland eine weitere, kaum zu sanktionierende Waffe aus dem Arsenal der Desinformation. Weil in den meisten sozialen Medien die Profile von RT nicht mehr zu erreichen waren, sprangen die Accounts der russischen Botschaften ein. Verschiedene Botschaften in verschiedenen Ländern verbreiteten dieselben Lügen – zum Beispiel über die mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Butscha.
Als die russische Botschaft in Berlin behauptete, die Gräueltaten dort seien inszeniert, griff Twitter zu einem unüblichen Schritt und reduzierte die Reichweite einiger russischer Regierungsaccounts. Das bedeutete, dass deren Inhalte nun weniger Lesern angezeigt wurden.
Anders als im Fall der staatlichen Desinformationsschleudern wie RT zögern die Netzwerke aber, die offiziellen Nutzerkonten von Ministerien und Botschaften gänzlich von ihren Plattformen zu nehmen. Vom Verbot umfasst sind sie ohnehin nicht. Und so bleiben sie weiterhin ein Teil der russischen Umgehungsstrategie.
Die Sanktionen verhindern zwar nicht, dass russische Propagandamedien weiter europäische Bildschirme und ihre wahlberechtigten Besitzer erreichen. Aber wirkungslos sind sie nicht. In Brüssel hält man das Verbot durchaus für erfolgreich. Die Reichweite von RT DE schrumpfte vor allem, weil der gleichnamige Fernsehsender nicht mehr in den Untiefen der Senderliste lauert.
Aber auch in Brüssel wurde registriert, wie die Verbreitung russischer Propaganda in den sozialen Medien nach dem Verbotsbeschluss erst zurückging, mittlerweile aber wieder steigt. Die Tendenz ist, dass RT mittlerweile häufig nicht mehr selbst im Stil eines Nachrichtenmediums auftritt und auf eigenen Plattformen seine Falschnachrichten verbreitet, sondern dass das Unternehmen zu einer Art Steinbruch der Desinformation geworden ist.
Wer kann das Verbot durchsetzen?
RT ist nicht darauf angewiesen, dass viele Menschen die eigene, eigentlich verbotene Internetseite aufsuchen – es reicht, wenn die wenigen, die dorthin gelangt sind, die Beiträge dort einsammeln und weiterverteilen wie Quader aus einem Steinbruch, denen man ihre Herkunft nicht mehr ansieht, sobald sie abtransportiert sind. Wenn Privatleute Lügen und Desinformation online verbreiten, hat das meist keine rechtlichen Konsequenzen.
Das Verbot der EU sollte es erschweren, überhaupt an vorgehauene Desinformationsklötze aus dem Hause RT zu gelangen, die sich dann allzu leicht in den sozialen Medien verbreiten lassen und dort potentiell Millionen erreichen. Warum also geht niemand gegen die unter neuer Adresse verfügbare Website von RT vor?
Für die Durchsetzung des Verbots sind die Mitgliedstaaten der EU zuständig. Und die zierten sich lange. Im März sahen sich Bundesinnenministerium und Bundeswirtschaftsministerium auf Nachfrage der FAZ nicht in der Verantwortung und verwiesen auf das Bundespresseamt. Das wiederum teilte mit, es sei nicht dafür zuständig, Sanktionen umzusetzen.
Mittlerweile verweist die Bundesregierung schlicht auf die Staatsanwaltschaften, die für Ermittlungen zuständig seien. Kenntnisse über entsprechende Verfahren habe man aber keine, teilten verschiedene Regierungssprecher der FAZ mit.
Twitter und Facebook schauen weg
Die Unkenntnis der Bundesregierung erstreckt sich auch auf die Betreiber der nur leidlich verkleideten Internetseite von RT DE. Wer dahinterstecke, sei der Bundesregierung nicht bekannt, teilt eine Sprecherin von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) der FAZ auf Anfrage mit.
Aber nicht nur die Bundesregierung schaut nicht allzu genau hin. Auch die Betreiber der meisten sozialen Medien lassen es zu, dass Inhalte von RT dort verbreitet werden. Eine Studie des Institute for Strategic Dialogue (ISD) zeigt, wie RT immer noch versucht, die Stimmung in europäischen Demokratien zu beeinflussen. Die Forscher fanden Artikel auf Englisch, Spanisch, Französisch und Deutsch, in denen über Flüchtlinge aus der Ukraine berichtet wurde – oft im Alarmton einer Gefahr, nimmermüde warnend vor Integrationsproblemen und kombiniert mit der Behauptung, russischsprachige Flüchtlinge würden benachteiligt.
Twitter und Facebook lassen es zu, dass solche Berichte dort verbreitet werden. Laut ISD erreicht RT DE insgesamt weiter ein Millionenpublikum. Felix Kartte sagt: „Desinformation gepaart mit dem Desinteresse von Plattformen, diese einzudämmen, ist eine erhebliche Gefahr.“
Diese Gefahr durch strengere Vorschriften für soziale Medien zu bannen ist ein komplexes Unterfangen. Zwar würden sie RT das Leben schwerer machen. Aber für die EU und ihre Mitgliedstaaten ist das ein schmaler Grat. Viele Beiträge werden zwar mutmaßlich von RT erstellt – die Verbreitung besorgen allerdings auch viele Privatleute, die nicht vom Kreml bezahlt werden, sondern dessen Politik schlicht gutheißen.
Anders als in Russland soll ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in der EU nicht beschnitten werden. Das nutzt RT – zur Propaganda gehört es nun oftmals auch, die Herkunft von Texten und Videos zu verschleiern. Es zirkuliert im Internet Material von RT, das weder Logo noch Autorschaft enthält. RT kann sich das leisten – anders als normale Nachrichtenmedien lebt die Redaktion nicht von ihrem Namen: Der eigenen Sache ist schon gedient, wenn die russische Propaganda ihre Ziele erreicht.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 13.9.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.