Die Angst vor Putins Atom
Der Atomangriff ist Putins Drohkulisse für den Westen, der sich nicht einschüchtern lassen sollte
Gerade wird sie wieder angefacht, die Angst vor einem Atomwaffeneinsatz Russlands, mit dem Wladimir Putin auf die Rückschläge in der Ukraine reagieren könnte. So hieß es vergangene Woche im Wall Street Journal: „Die Gegenoffensive der Ukraine (...) ist eine wichtige Wende im Krieg, wenn auch nicht ohne Gefahr, da Putin kalkuliert, wie er darauf reagieren wird.“ Die westlichen Regierungschefs müssten sich darauf einstellen, dass er Atomwaffen einsetzen oder versuchen wird, „die Nato direkt in den Konflikt hineinzuziehen“.
Solche Warnungen vor einer Eskalation des Kriegs sind richtig und wichtig. Der Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine wäre ein Tabubruch mit unkalkulierbaren Folgen für alle Beteiligten. Gerade erst hat Marija Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, die USA gewarnt: Wenn Washington die Entscheidung über die Lieferung von Raketen größerer Reichweiten an Kiew treffe, überschreite man damit eine rote Linie. In einem solchen Fall werde man gezwungen sein, „entsprechend zu reagieren.“ US-Präsident Biden wiederum hat Putin in einem Interview seinerseits ausdrücklich vor dem Einsatz von chemischen und nuklearen Waffen gewarnt.
Nicht der Westen, Putin hat rote Linien überschritten
„Entsprechend zu reagieren“, wie Sacharowa es formuliert, kann alles Mögliche bedeuten; interpretiert werden solche Aussagen aber fast immer als Drohung mit Atomwaffen. Und so sollen sie auch verstanden werden. Ein häufiges Argument gegen mehr westliches Engagement in dem Krieg lautet deshalb: Waffenlieferungen könnten Putin „provozieren“ und zu einer solchen Eskalation verleiten.
Die Sorge ist verständlich, aber wahr ist eben auch: Wo die „rote Linie“ verläuft, entscheidet Moskau. Warum sollten nun, nach der Lieferung von Raketensystemen und anderem, modernen Militärgerät, ausgerechnet diese Raketen zu viel sein? Was zu viel ist und was nicht, kann Russland willkürlich bestimmen, um immer wieder neue Schreckensszenarien zu beschwören und die Verantwortungen für sein Handeln den Verbündeten der Ukraine zuzuschieben, die „provoziert“ hätten. Der Westen sollte sich auf dieses Spiel nicht einlassen.
Die russische Regierung versucht in der Regel, sich alle Optionen offenzuhalten – auch, Atomwaffen eben gerade nicht einzusetzen. Denn ein solcher Angriff würde mehr Probleme verursachen als lösen, und das weiß man im Kreml. Die Angst und die Unsicherheit, wie Moskau reagieren wird, sind viel wirkungsvoller als ein wirklicher Einsatz. Der Zweck von Atomwaffen ist seit Jahrzehnten die Abschreckung – und so werden sie von Moskau auch im Krieg in der Ukraine eingesetzt: als Drohkulisse für den Westen.
Die Drohungen sollen den Westen lähmen und dem Konflikt einen bestimmten Spin geben: Denn sie suggerieren auch, dass der große Tabubruch von Russland noch gar nicht begangen wurde; dass man im Westen eigentlich dankbar sein muss, noch nicht in einen Atomkrieg hineingezogen worden zu sein.
Diese Fixierung auf Atomdrohungen wirkt aber geradezu zynisch und realitätsvergessen angesichts neu entdeckter Massengräber in den von Russland besetzten Gebieten oder der wochenlangen Belagerung der Stadt Mariupol, die wahrscheinlich Zehntausende Menschen das Leben gekostet hat. Auf diese Kriegsverbrechen muss der Westen reagieren. Nicht auf kalkulierte Drohungen Moskaus.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 19.9.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München