Ukraine: Spiel mit dem Feuer

John J. Mearsheimer warnt vor unterschätzten Risiken für eine katastropale Eskalation, Foreign Affairs, 17.8.2022

von KARENINA
Ukraine: Gefahr der Eskalation

John J. Mearsheimer warnt vor „unterschätzten Risiken einer katastrophalen Eskalation“ in der Ukraine. Westliche Politikentscheider rechneten damit, dass es zu einem langen (blutigen) Patt an den Fronten kommen und ein geschwächtes Russland schließlich eventuell ein für die USA und die Ukraine vorteilhaftes Friedensabkommen akzeptieren werde, so der Chicagoer Politikprofessor Mearsheimer. Viele könnten sich nicht vorstellen, dass die USA direkt in den Krieg verwickelt werden und Russland Atomwaffen einsetzen könnte.

Mearsheimer sieht diese Risiken und spricht von einer Katastrophe, „deren Ausmaß an Tod und Zerstörung das des Zweiten Weltkriegs übertrifft“. Er nennt auch Gründe für seine Sorge: Angesichts Das gegenwärtige „maximalistische Denken, das jetzt sowohl in Washington als auch in Moskau besteht, gibt jeder Seite noch mehr Grund, auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, damit sie die Bedingungen des letztendlichen Friedens diktieren kann“.

Verbale Aufrüstung

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte im April, die USA wollten Russland so geschwächt sehen, „dass es nicht mehr die Dinge tun kann, die es bei der Invasion der Ukraine getan hat“. Russland soll demnach aus den Reihen der Großmächte verdrängt werden. US-Präsident Joe Biden habe gar angekündigt, der Kriegsverbrecher Putin solle vor ein Kriegsgericht gestellt werden.

Das, so Mearsheimer seien Versprechen, hinter die Washington nicht mehr zurücktreten könne. Man könnte auch sagen: Unnötige Sprücheklopferei.

Andererseits hat auch Russland seine Kriegsziele erweitert: Nach dem ursprünglichen Verlangen einer Garantie, dass die Ukraine nie in die Nato aufgenommen werde, bestünden nun erhebliche territoriale Interessen. „Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, dass Putin dieses Land ganz oder größtenteils zu annektieren beabsichtigt…“

Bidens Regierung wolle das entschlossen verhindern. Aber: Derzeit seien Kiew, Washington und Moskau „fest entschlossen, auf Kosten ihres Gegners zu gewinnen, was wenig Raum für Kompromisse lässt“. Die USA und die Ukraine werden eine neurale Ukraine nicht akzeptieren, so Mearsheimer, und Russland werde die eroberten Gebiete nicht zurückgeben.

Schon heute seien die USA mit einem „heimlichen Netzwerk von Kommandos und Spionen“ (New York Times) in der Ukraine tätig und tief in den Krieg verwickelt. Es sei nur einen kurzen Schritt davon entfernt, „dass seine eigenen Soldaten abdrücken und seine eigenen Piloten auf Knöpfe drücken“.

Erhebliche Eskalationsgefahr

Mearsheimer nennt mehrere Szenarios, welche die USA in den Krieg führen könnten, in dem auch Nuklearwaffen eingesetzt werden:

- Die USA möchten diesen Konflikt schnell beenden (wegen eines größeren Engagements gegen China oder der hohen Kosten) und unternähmen „riskantere Schritte“ (No-fly-zone, kleines Kontingent von US-Bodenkräften), um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen.

- Die ukrainische Armee droht zu kollabieren. In diesem Fall „könnten die USA versuchen, den Trend durch eigenes Eingreifen zu brechen“.

- Washington wird durch ein unvorhergesehenes Ereignis in den Krieg hineingezogen: US-amerikanische und russische Kampfjets kollidieren über der Ostsee, dem folgt eine rasche Eskalation wegen beidseitiger Angst, mangelnder Kommunikation und Dämonisierung des Gegners.

Mearsheimer beschreibt weitere Wege, „durch die sich ein lokaler Krieg in etwas viel Größeres und Gefährlicheres verwandeln könnte“.

Außerdem benennt er drei Umstände, in denen Putin Atomwaffen einsetzen könnte:

- Die USA und ihre Nato-Alliierten treten in den Krieg ein. Dann müsste Russland „einen Großmachtkrieg vor seiner Haustür führen, der leicht auf sein Territorium übergreifen könnte“.

- Die ukrainischen Streitkräfte wären in der Lage, die russische Armee zu besiegen und verlorenes Territorium zurückzuerobern; für Moskau eine existenzielle Bedrohung. Schon um das zu vermeiden, könnte Moskau Atomwaffen gegen die Ukraine richten, die selbst über keine solchen Waffen verfügt. Die USA hätten in diesem Fall kein Interesse, selbst welche einzusetzen.

- In einem langen Patt und ohne Aussicht auf eine diplomatische Lösung könnten die hohen Kosten Putin zum Einsatz von (taktischen) Atomwaffen in der Ukraine veranlassen – zu einem bahnbrechenden Schlag („game-changing blow“). Auch in diesem Fall wäre, so Mearsheimer, die USA wahrscheinlich nicht bereit, adäquat zu antworten.

Mearsheimer will nicht sagen, dass Krieg nicht kontrollierbar wäre, aber das sei nicht einfach. Angesichts der enormen Kosten eines Atomkriegs unter Großmächten sei dennoch lange und gründlich darüber nachzudenken, wohin dieser Konflikt führen könnte.

Immerhin: Diese gefährliche Situation schaffe einen starken Anreiz, eine diplomatische Lösung des Kriegs zu finden, meint Mearsheimer abschließend. Bedauerlicherweise sei eine solche nicht in Sicht. „Die Biden-Regierung hätte mit Russland zusammenarbeiten sollen, um die Ukraine-Krise zu lösen, bevor im Februar der Krieg ausbrach.“  PHK

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