Asyl für russische Deserteure?

Demokratische Gesinnung ist keine Voraussetzung, um in Deutschland aufgenommen zu werden

von Oliver Maksan
Russischer Soldat, bald Deserteur?

Soll Deutschland russischen Kriegsdienstverweigerern Asyl gewähren? Der Rechtsprofessor Winfried Kluth über die rechtlichen Voraussetzungen und die Frage, ob russische Deserteure auch dann Chancen haben, wenn sie sich zuvor zustimmend zum Angriff auf die Ukraine geäußert hätten.

Herr Professor Kluth, zahlreiche deutsche Politiker fordern jetzt die Aufnahme von Russen, die nicht in der Ukraine kämpfen wollen. Sieht der Jurist hier Hürden?

Winfried Kluth: Das kommt darauf an. Grundsätzlich führt nicht jede Form der Kriegsdienstverweigerung zu einer asylrechtlichen Anerkennung. Völkerrechtlich hat jeder Staat das Recht, eigene Staatsangehörige zum Wehr- oder Kriegsdienst heranzuziehen.

Auch für einen Angriffskrieg wie jetzt gegen die Ukraine?

Als Orientierung kann hier eine Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2015 dienen. Demnach verläuft die Grenze dort, wo die Wahrscheinlichkeit besteht, dass die zum Kriegsdienst verpflichteten Personen an Kriegsverbrechen teilnehmen müssen. Und nach allem, was wir über die russische Kriegsführung in der Ukraine wissen, besteht ja eine hohe Wahrscheinlichkeit, an Verbrechen mitzuwirken. Denn die sind nach unserem jetzigen Wissen ja an vielen Orten passiert. Diese Mitwirkung muss gar nicht unmittelbar erfolgen. Das hat der EuGH ausdrücklich festgestellt, weil es bis dahin unklar war.

Das heißt?

Es genügt, wenn man mittelbar mitwirken müsste, etwa als Fahrer oder sonst in der militärischen Logistikkette. Das Gericht hatte den Fall eines US-Soldaten im Blick, der als Mechaniker nicht am Irak-Krieg der USA 2003 teilnehmen wollte, in dem es ja auch zu Kriegsverbrechen gekommen sein soll. Aus Sicht des EuGH genügte es also, als Mechaniker eines Helikopters am Krieg teilnehmen zu müssen, um Asyl in Deutschland zu erhalten. Im Fall russischer Kriegsdienstverweigerer wäre dies deshalb auch so.

Das heißt umgekehrt aber doch auch, dass russische Soldaten dann keine Chance auf Asyl hätten, wenn sie „nur“ einen völkerrechtswidrigen Krieg führen müssten, aber keine Verbrechen begangen würden.

Ein rechtswidriger Angriffskrieg alleine würde nach bisheriger Rechtsprechung wohl nicht ausreichen, auch weil die Beurteilung oft umstritten ist. Jedenfalls besteht hier keine Rechtsklarheit. Der EuGH bezog sich aber nicht darauf, sondern auf die Wahrscheinlichkeit, an Kriegsverbrechen teilnehmen zu müssen.

Rechtlich scheint die Sache klar zu sein. Warum besteht dann trotzdem politischer Handlungsbedarf?

Politischer Handlungsbedarf besteht bei der Frage der Einreise nach Deutschland. Um von Russland nach Deutschland zu gelangen, ist ein Visum erforderlich. Die Bundesregierung könnte jetzt entscheiden, humanitäre Visa für Kriegsdienstverweigerer zu gewähren, damit sie dann in Deutschland ein Asylverfahren durchlaufen können. Bislang tut Deutschland dies in der Regel nicht. Wer etwa in Syrien einen Antrag aus diesem Grund stellt, der wurde in der Regel abgelehnt. Insofern wäre das ein Politikwechsel.

Mit möglicherweise weitreichenden Folgen auch für andere Länder?

Ja, man müsste sich dann in Zukunft auch anderen Ländern gegenüber konsequent so verhalten.

Wäre die Furcht vor Strafe bei Wehrdienstverweigerung auch ein Asylgrund?

Nicht zwangsläufig. Eine normale Sanktion wird völkerrechtlich zugelassen, weil ja anerkannt wird, dass ein Staat seine Bürger grundsätzlich zu Verteidigungszwecken verpflichten kann. Relevant wird es nach den Maßstäben der Genfer Flüchtlingskonvention dann, wenn die Strafe unverhältnismäßig hoch ist oder willkürlich verhängt wird.

Ist das in Russland der Fall? Im Zuge der Teilmobilisierung wurde jetzt ja auch das Strafrecht für Deserteure verschärft. Diese müssen jetzt mit bis zu zehn Jahren Haft rechnen.

Vermutlich ja. Das müsste durch einen Rechtsvergleich mit dem Strafmaß in Staaten, die die Menschenrechte achten, festgestellt werden.

Angenommen, jemand wäre nicht grundsätzlich gegen den russischen Krieg, hat ihn vielleicht auch begrüßt, will aber nicht selber kämpfen: Hat er dann sein Asylrecht in Deutschland verwirkt?

Nein. Frühere Meinungsäußerungen entkräften nicht per se das spätere Argument, nicht an Kriegsverbrechen mitwirken zu wollen. Außerdem muss den Personen die Möglichkeit eines Meinungswandels zugestanden werden. Allerdings würde im Asylverfahren die Ernsthaftigkeit des Gesinnungswandels geprüft.

Und wenn jemand an der Zustimmung zum Krieg festhielte nach dem Motto: Den russischen Krieg gegen die Ukraine finde ich noch immer legitim, nur die dort begangenen Verbrechen lehne ich ab?

Das hätte ebenfalls eine genauere Prüfung zur Folge. Kriegsverbrechen abzulehnen, würde sich aber schon sehr zugunsten der betreffenden Person auswirken. Das wiegt schwer.

Der deutsche Justizminister Marco Buschmann meinte jetzt, dass in Deutschland herzlich willkommen sei, wer Putins Weg hasse und die liberale Demokratie liebe. Ist denn eine demokratische Gesinnung Voraussetzung, um in Deutschland aufgenommen zu werden?

Nein. Das ist kein Kriterium der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie der EU. Beiden geht es nicht um den Schutz der Demokratie, sondern um den der Menschenrechte einer Person. Das wäre ja sonst auch mit Folgeproblemen verbunden. Wir haben hier in Deutschland viele Personen aufgenommen, die nicht für eine Demokratie in ihren Ländern eintreten. Einziger Ausschlussgrund ist, wenn die Person schon selbst fundamentale Verbrechen begangen hat.

Die Äußerung des Justizministers hat damit keine juristische Relevanz?

Nein.

Die Innenministerin Nancy Faeser zeigte sich jetzt offen, russische Deserteure aufzunehmen. Es handele sich aber immer um Einzelfallentscheidungen. Kann davon dispensiert werden?

Nein, das europäische Asylsystem verlangt zwingend Einzelfallprüfungen. Beim vorübergehenden Schutz, den Flüchtlinge aus der Ukraine genießen, gilt das nicht, weil es ausdrücklich so vorgesehen ist. Da genügt die Zugehörigkeit zur Personengruppe, für die der vorübergehende Schutz gewährt wird. Wenn man das für russische Staatsbürger nicht auch so macht, dann wären Einzelfallprüfungen nötig.

Dazu gehört stets auch eine Sicherheitsüberprüfung. Es wäre ja denkbar, dass Russland andernfalls die Lage nutzen würde, um Agenten einzuschleusen.

Genau. Sinn und Zweck des Visaverfahrens ist auch, die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu wahren.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 23.9.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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