Krieg in der Ukraine

Kein Interesse an Diplomatie?

Frieden ist nur durch beiderseitige Konzessionen möglich, Diplomatie könnte der Ukraine sogar nutzen

von Ralf Havertz
Diplomatie: Reden und schreiben statt schießen

Zu den fundamentalen Aufgaben der Diplomatie gehört die Verhinderung und Lösung von Konflikten. Es gibt in der Geschichte viele Beispiele für geglückte Diplomatie: Die Ostpolitik Willy Brandts hat während des Kalten Kriegs einen bedeutenden Beitrag zur Entspannung in Europa geleistet. Das gleiche gilt für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Es ist daher fatal, wenn Diplomatie für das Gegenteil missbraucht wird, für die Anheizung und Verschärfung von Konflikten. Nichts anderes konnten wir in den letzten Wochen in den Reaktionen der westlichen Diplomatie auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine beobachten.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock spricht davon, Russland „ruinieren“ zu wollen. Es handelt sich dabei um eine Rhetorik, die der Linie der amerikanischen Außen- und Kriegspolitik folgt, der zufolge Russland im Ukrainekrieg so sehr geschwächt werden soll, dass es für lange Zeit nicht mehr in der Lage sein wird, einen Angriffskrieg ähnlich dem in der Ukraine zu führen.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hatte entsprechende Bemerkungen gemacht. Es ist eine Sache, die Ukraine in ihrem Versuch zu unterstützen, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen; es ist eine ganz andere Sache, Russland langfristig ökonomisch und militärisch schwächen oder gar „ruinieren“ zu wollen.

Diese neuen Ziele gehen weit über die legitime Verteidigung des ukrainischen Territoriums hinaus und geben dem Krieg in der Ukraine eine neue Dynamik. Sie steuern deutlich auf eine Eskalation hin, mit der die Nato schrittweise immer weiter in diesen Konflikt hineingetrieben wird – mit der möglichen Konsequenz ihrer offenen Beteiligung an dem Krieg als kriegführende Partei.

Die Welt stand noch nie so nah am Abgrund wie in diesen Tagen, und es ist die Diplomatie, die zu dieser Situation ihren Beitrag geleistet hat. Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zur Beendigung des Konflikts wurden bisher, soweit das öffentlich bekannt ist, zweigleisig geführt. Auf dem ersten Gleis haben sich hochrangige Delegationen beider Seiten in Weißrussland getroffen. Das zweite Gleis bestand aus Treffen auf Außenministerebene.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba und sein russischer Amtskollege Sergei Lawrow haben sich auf Vermittlung der türkischen Regierung hin zweimal in der Türkei getroffen, zunächst am 10. März in Antalya und danach am 28. März in Istanbul. Auf beiden Seiten hat es bislang kaum eine substanzielle Bewegung in den Verhandlungspositionen gegeben.

Die Russen haben an ihrem Katalog mit Maximalforderungen bezüglich der Ukraine festgehalten, während die ukrainische Seite den Russen nicht wirklich entgegengekommen ist, einmal abgesehen von Präsident Wolodymyr Selenskys öffentlichen Überlegungen zur Neutralität der Ukraine, die aber nicht als Teil eines Angebots auf dem Verhandlungstisch gelegen hatten.

Sprachenrechte als Konzession

Im diplomatischen Einmaleins für eine erfolgreiche Verhandlungsführung gibt es bestimmte strategische Verhaltensweisen, mit denen Fortschritte in der Konfliktlösung erreicht werden können. Dazu gehört die Einsicht, dass man bereitwillig Dinge aufgeben kann, an denen man entweder ohnehin kein hohes Interesse hat oder die man sowieso verloren hat und daher der anderen Seite anbieten kann, ohne große Einbußen hinnehmen zu müssen.

Was die ukrainische Seite Russland hätte anbieten können, ist die Abtretung der Krim, denn die hat sie de facto verloren. Es ist völlig illusorisch zu glauben, dass Russland die 2014 annektierte Krim wieder an die Ukraine zurückgeben wird.

Noch unwahrscheinlicher wäre der Erfolg des Versuchs einer militärischen Rückeroberung der Krim. Tatsächlich wäre beiden Seiten damit gedient, die rechtliche Stellung der Krim ein für alle Mal zu klären. Warum hat dieses Angebot nicht auf dem Tisch gelegen?

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in:

WeltTrends
"Ukrainekrieg und globale Spaltung"
Juni 2022, Nr. 188

Potsdamer Wissenschaftsverlag
72 Seiten
Zeitschrift
5,80 Euro
ISBN 978-3-947802-661
Zum Verlag

Ein anderes Angebot, das die ukrainische Seite hätte machen müssen, wären Rechte der mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung in den Donbass- und Luhansk-Regionen zur Nutzung von Russisch als offizieller Sprache. Man muss hierzu in Erinnerung rufen, dass es die ukrainische Regierung war, die 2019 Russisch als offizielle Sprache verhindert und der großen russischsprachigen Minderheit im Lande und speziell in den Donbass/Luhansk-Regionen Ukrainisch als Amtssprache aufgezwungen hat.

Das Gesetz, das zu diesem Zweck erlassen wurde, trägt den schönen Titel „Gesetz zur Unterstützung der Funktionen der ukrainischen Sprache als Staatssprache“. Diese Versagung von Minderheitenrechten kann durchaus als gegen Russland gerichtete Provokation interpretiert werden.

Der Militärexperte Jacques Baud hat völlig recht, wenn er diesen Schritt mit einem hypothetischen Szenario vergleicht, in dem die schweizerische Regierung den italienischsprachigen und französischsprachigen Schweizern die Verwendung ihrer Muttersprache als Amtssprache untersagt. Der öffentliche Aufschrei als Reaktion auf einen solchen Schritt wäre groß – nicht nur in der Schweiz. Und es wäre mit Sicherheit von einer Diskriminierung von Minderheiten die Rede.

Warum soll so ein Schritt in Ordnung gehen, wenn ihn die ukrainische Regierung gegen die russischsprachige Bevölkerung in den Donbass- und Luhansk-Regionen unternimmt? Sprachrechte für die russischsprachige Bevölkerung hätten eine Konzession der ukrainischen Seite sein müssen. Aber nichts dergleichen ist passiert.

Eine Lösung des Konflikts ist nur durch Konzessionen von beiden Seiten möglich. Nur auf der Grundlage von Konzessionen kann eine Kompromissformel gefunden werden, die schließlich zu einer Friedensvereinbarung führt. Das Argument, die russische Seite dürfe für ihre Aggression nicht belohnt werden, ist nachvollziehbar, führt aber in den Verhandlungen zur Beendigung dieses Konflikts nicht weiter.

Russland diplomatisch unter Druck setzen

Zusammengenommen hätten die Anerkennung der Krim als russisches Territorium, die Anerkennung von Russisch als offizielle Sprache in den Donbass- und Luhansk-Regionen, die Verpflichtung der Ukraine auf Neutralität und die Akzeptanz eines nichtnuklearen Status der Ukraine ein starkes Verhandlungsangebot dargestellt, das die russische Seite unter Druck gesetzt hätte, sich von ihren Maximalforderungen fortzubewegen und ihrerseits Konzessionen zu machen. Mit den aufgezählten Punkten wäre die ukrainische der russischen Seite in einigen Bereichen entgegengekommen.

Die bloße Unterbreitung eines ernstzunehmenden Verhandlungsangebots seitens der Ukrainer hätte auch zu einem Waffenstillstand oder zumindest zu einer Feuerpause beitragen können. Selbst wenn die russische Seite sich auf so ein Angebot hin nicht bewegt hätte, wäre es doch zum Vorteil der ukrainischen Seite gewesen, solche Konzessionen zu unterbreiten, weil sie sich damit – im Gegensatz zur russischen Seite – als verhandlungs- und damit friedenswillig erwiesen hätte.

Aber möglicherweise glaubt man in Kiew, dass man eine solche moralische Besserstellung nicht braucht, weil man ohnehin auf der besseren und gerechteren Seite steht. Zu diesem Bild tragen die Berichte von Gräueltaten, die von der russischen Seite an der ukrainischen Zivilbevölkerung begangen wurden, ebenso bei wie die Heldenmythen, die um den ukrainischen Präsidenten Selensky und um die ukrainische Armee gestrickt werden.

Die amerikanischen Beteuerungen, man wolle sich in die ukrainischen Positionen hinsichtlich potenzieller Gebietsabtretungen nicht einmischen und respektiere die Entscheidung der ukrainischen Regierung, keine territorialen Konzessionen an Russland machen zu wollen, sind scheinheilig:

  1. So sind die USA bereits sehr tief in den Konflikt involviert: als militärische Ausbilder, Berater, Finanziers, Lieferanten sowie als militärischer Aufklärungsdienst, der die ukrainische Seite mit Echtzeit-Informationen hinsichtlich russischer Truppenbewegungen, -stationierungen und Schiffspositionen versorgt.
  2. In anderen Regionen der Welt (siehe Mittlerer Osten) sind die Amerikaner nicht gerade zimperlich gewesen, wenn es um die Einflussnahme auf ausländische Regierungen ging. Sie üben sich nun in nobler Zurückhaltung, weil die Weigerung der ukrainischen Seite, über Gebietsabtretungen überhaupt nur zu reden, ihren eigenen Interessen entspricht.

Ziel: Langfristige Schwächung Russlands

Wer an einer langfristigen Schwächung Russlands interessiert ist, dem kann an einem raschen Verhandlungserfolg und einer bald zu schließenden Friedensvereinbarung nicht gelegen sein. Denn der Krieg in der Ukraine ist das Mittel für die angepeilte militärische und ökonomische Schwächung Russlands. Ein baldiger Friedensschluss würde weite Teile des russischen Militärs intakt lassen und wahrscheinlich eine Abmilderung der gegen Russland gerichteten wirtschaftlichen Sanktionen zur Folge haben.

Damit würde auch die schnelle Abkehr Europas von russischen Rohstoffen, insbesondere von russischem Gas und Öl weniger dringlich werden. Die ganze strategische und wirtschaftliche Neuausrichtung des Westens und die Verbannung Russlands in den Paria-Status würden damit in Frage gestellt.

Inzwischen ist die Diplomatie völlig zusammengebrochen. Es wird nicht mehr gesprochen, es wird nur noch geschossen. Im Westen herrscht Einigkeit darüber, dass man den Konflikt militärisch lösen will. Darauf weist das exorbitante Budget von 33 Milliarden US-Dollar hin, das seitens der Regierung Biden Ende April zur militärischen, ökonomischen und humanitären Unterstützung der Ukraine beschlossen wurde.

Wer davon vor allem profitieren wird, ist die amerikanische Rüstungsindustrie. Die Rüstungsindustrien in anderen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, wo die Regierung eine deutliche Aufstockung des Rüstungsetats beschlossen hat, werden ebenfalls einen starken Anstieg staatlicher Aufträge verbuchen.

Wenn die Weichen einmal auf Krieg und Eskalation gestellt sind, ist davon nur schwer wieder loszukommen – auch wegen der wirtschaftlichen Dynamiken, die mit der allgemeinen Aufrüstung in Gang gesetzt werden. So ein militärisch-industrieller Komplex – ein treffender Begriff, der von dem früheren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower mit warnendem Fingerzeig für die enge Verbandelung von Rüstungsindustrie und Militär eingeführt wurde – ist ein gefräßiges Tier, das kontinuierlich gefüttert werden will.

Mitte Mai haben Kanzler Scholz und der französische Präsident Macron eine Initiative zur Wiederbelebung des Verhandlungsprozesses angekündigt. Man kann nur hoffen, dass konkrete Angebote auf den Tisch gelegt werden, ohne die eine erneute Aufnahme von Gesprächen unwahrscheinlich ist.

Fazit: Kein Interesse an baldiger Lösung?

So wie die westliche Diplomatie zurzeit agiert, kann der Eindruck entstehen, dass an einer baldigen diplomatischen Lösung des Konflikts kein Interesse besteht, dass man sich mit dem Krieg nicht nur abgefunden, sondern sich bewusst für ihn entschieden hat. Die Außenpolitik stellt sich damit bewusst in den Dienst der Eskalation, tut also genau das Gegenteil von dem, was man von einer vernünftigen Außenpolitik erwartet.

Wir haben es also mit einer Militarisierung der Außenpolitik zu tun. Im Westen hängt man dem Phantasma an, die Ukraine könne den auf ihrem Territorium geführten Krieg gegen Russland gewinnen. Wer glaubt, ein Krieg gegen Russland sei zu gewinnen, vergisst, dass es sich dabei um eine der beiden größten Atommächte der Welt handelt oder nimmt selbstverständlich an, dass der Krieg sich weiter auf den Gebrauch konventioneller Waffen beschränken wird.

Sollte Russland vom Westen in der Ukraine weiterhin vorgeführt und in die Enge getrieben werden, ist das aber keineswegs selbstverständlich. US-Präsident Joseph Biden hat in Richtung des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit drohender Gebärde gesagt: „Du weißt nicht, was auf dich zukommt.“ Genauso wenig aber weiß der Westen, was auf ihn zukommt.

Der Politikprofessor Ralf Havertz lehrt an der Keimyung University, Daegu, Südkorea.

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