Der Krieg ist ein Chamäleon
Wie der wechselhafte Verlauf des Kriegs auch den Blick auf die Ziele verändert hat
Stellt der Ukraine-Krieg die Ausnahme von der Regel dar, derzufolge im „Europa der Postmoderne“ der „klassische Staatenkrieg ein historisches Auslaufmodell“ als robuste Prognose für das 21. Jahrhundert gelten kann? „Damit ist nicht gesagt, dass es überhaupt keine zwischenstaatlichen Kriege mehr geben werde, aber die Grundzüge des politischen Geschehens wird dieser Kriegstyp kaum noch beeinflussen.“
2007, als der Politikwissenschaftler Herfried Münkler dies schrieb, existierte auf dem europäischen Kontinent hinreichende Stabilität. Die weltpolitische Betrachtung insgesamt jedoch musste zahllose regellose kriegerische Gewaltakte als sogenannte neue Kriege oft hilflos zur Kenntnis nehmen.
Zwar hatte Russlands Präsident Wladimir Putin 2007 auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz rhetorisch am Schachbrett der Pariser Charta-Ordnung von 1991 gerüttelt. Doch der fünftägige kriegerische Konflikt zwischen Russland und Georgien fand erst ein Jahr später statt. Hinsichtlich Kriegsdauer, Waffeneinsatz, Kampfintensität, territorialer Begrenztheit und Opferzahl, so schrecklich jeder einzelne Verlust immer auch ist, handelte es sich dabei allerdings nicht um einen klassischen Staatenkrieg.
Dieses Charakteristikum trifft hingegen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar zu. Zweck, Ziel und Instrumente der Moskauer Kriegsführung fokussieren nicht nur die Zerstörung der klassischen Staatlichkeit, sondern zudem ihre kulturelle und identitäre Vernichtung.
Nicht überraschend bewertet das auf dem Madrider Gipfel beschlossene neue strategische Konzept der Nato Russland nun als die „größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum“. Mit dieser sicherheitspolitischen Kernaussage zieht die Allianz weitere klassische Staatenkriege mit Russland als Aggressor in Betracht.
Kriegsverlauf und Waffenhilfe
Friedrich Hegel erklärte philosophischen Erkenntnisgewinn mit der Metapher der „Eule der Minerva“, die „erst mit der einbrechenden Dämmerung“ zum Flug ansetzt. Damit brachte er bildhaft zum Ausdruck, dass zu erklärende Phänomene nur nach Entwicklungsabschluss zu deutet sind. Ein ähnliches retardierendes Moment der Erkenntnis macht Carl von Clausewitz im Wesen des Kriegs fest, den er als „ein wahres Chamäleon“ bezeichnete, „weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert“.
Vor diesem Hintergrund stehen die europäischen militärischen Unterstützungsprogramme für die Ukraine auf dem Prüfstand. Waren die Quantitäten und Qualitäten der Lieferungen dem Kriegsverlauf angemessen, wurde der Chamäleoncharakter des Kriegsverlaufs richtig erkannt und dem mit entsprechenden Quantitäten und Qualitäten der Lieferungen entsprochen? Die Beurteilungen in Kiew und den europäischen Hauptstädten klaffen dazu weit auseinander.
Mantraartig betonen die westlichen Regierungsspitzen, dass die Waffenzufuhr nicht zur Kriegspartei führt. Doch mit Blick auf die zurückgehaltenen Waffentypen ist die Beurteilung doch nicht mehr so eindeutig. Dies scheint aber weniger die völkerrechtliche Bewertung zu betreffen als die potenzielle politische Folgeeinschätzung durch den Kreml. Moderne westliche Panzer fallen darum unter die Tabugrenze.
Noch sollte man einschränkend sagen. Schaut man sich nämlich im Zeitraffer die deutschen Waffenvorbehalte an, die Schritt um Schritt aufgegeben wurden sowie die russischen Eroberungsfortschritte, dann erscheint auch die Panzerlieferung nur noch eine Frage der Zeit. Der Krieg ist eben ein Chamäleon.
Der SPD-Parteivorsitzende, Lars Klingbeil, forderte Ende Juni in einer Grundsatzrede: „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben... Deutschland steht immer mehr im Mittelpunkt. Wir sollten diese Erwartungen erfüllen... Führung bedeutet, sich seiner Rolle bewusst zu sein. Sich nicht wegzuducken, andere einzusammeln.“ Es ist zu erwarten, dass Polen und die baltischen Staaten Klingenbeils Aussage auf die Waagschale der Zustellung von deutschen Kampf- und Schützenpanzern für die Ukraine legen werden.
Deutschland positioniert sich noch in Ambiguität. „Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen, und die Ukraine muss bestehen.“ Das ist die Haltung von Bundeskanzler Olaf Scholz.
Außenministerin Annalena Baerbock geht weiter: „Natürlich darf Russland diesen Krieg nicht gewinnen, sondern muss ihn strategisch verlieren.“ Was gewinnen oder verlieren konkret bedeutet, wird bewusst nicht ausbuchstabiert.
Folgen eines baldigen Waffenstillstands
Gleichzeitig fordern Intellektuelle einen sofortigen Waffenstillstand. Im letzten Satz des jüngsten Aufrufs wird „verlangt, dass wir … alles tun, damit ein baldiger Waffenstillstand und die Aufnahme von Friedensverhandlungen möglich werden – und alles unterlassen, was diesem Ziel entgegensteht“. Damit schließt sich implizit der Kreis wieder zur westlichen Waffenlieferung, die einer Waffenruhe entgegenstehen.
Aus russischer Sicht bedeutete ein sofortiger Waffenstillstand Zeit für die politische Konsolidierung der territorialen Besetzungen, für notwenige militärischen Umgruppierungen und logistische Stärkung, Beendigung der Lieferung moderner Waffen an die Ukraine sowie in Ruhe abwarten zu können, welche außenpolitischen Auswirkungen die Midterm-Wahlen in den USA im November zeitigen werden. Vor allem jedoch würde eine Waffenruhe signifikanten Einfluss auf die Ausgestaltung ihrer Sicherung ermöglichen.
Und dennoch gibt es keine validen Hinweise, dass der Kreml für ein jetziges Schweigen der Waffen zu gewinnen ist. Nach seiner Lagebeurteilung kann er noch weitergehende territoriale und damit politisch-strategische Gewinne erzielen.
Der Kriegsablauf begünstigt Russland in hohem Maße: Der Westen liefert Waffen nicht in der Zahl und Modernität, die dem eingesetzten Äquivalent auf der Gegnerseite entspricht. Zudem versichert die Nato immer wieder, dass sie als Bündnis nicht aktiv eingreifen werde. Das verschafft Moskau vielfache Optionen für seine Kriegsstrategie.
Die aus russischen Stellungen in Belarus oder von Schiffen im Schwarzen Meer auf ukrainische militärische und zivile Infrastruktur mehr oder weniger gezielt gefeuerten Systeme bleiben mangels Fähigkeiten zur Gegenwehr folgenlos. Russland kann deshalb dauerhaft, nur begrenzt durch sein Potenzial, die Zerstörung allein schon auf diese Art fortsetzen. Die Staaten der Allianz wollen nämlich aus Sorge vor Moskaus potenzieller Eskalationsbereitschaft bis zum taktischen Nukleareinsatz, so wenig wahrscheinlich er auch zu unterstellen ist, Kiew keine Waffen mit ebenso hoher Reichweite überlassen, welche die Abschussbasen auf russischem Gebiet zerstören könnten.
Diese Selbstabschreckung fließt in das Kriegskalkül des Kremls ein. Zugleich steckt darin auch die Problematik von Misperzeptionen. Die dortigen Strategen könnten nämlich von folgendem Szenario ausgehen: Auf einen sehr begrenzten konventionellen Angriff auf einen baltischen Staat würden sie diesen mit der gleichzeitigen Androhung des Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen flankieren. Das Kalkül wäre, die USA wären nicht bereit, für Tallinn, Riga oder Vilnius Washington atomar auf die Waagschale zu legen. Der Westen würde aus Angst vor der Eskalation wie im Ukraine-Krieg hier ebenfalls zurückschrecken.
Die Aussage von Bundeskanzler Scholz, Deutschland werde „jeden Quadratzentimeter" des Nato-Territoriums verteidigen, ist ein honoriges politisches Statement und soll Berlins Verlässlichkeit unterstreichen. Gleichwohl wäre die Frage nach den Mitteln zu stellen, mit Blick auf die Aussage von Heeresinspekteur Alfons Mais: „Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“
Wie beurteilt Washington den Krieg?
Der Nato-Artikel 5 verpflichtet zwar zum Beistand. Die Allianzmitglieder entscheiden jedoch selbständig, auf welche Art und Weise sie Unterstützung und Hilfe leisten wollen. Eine festgelegte, bindende militärische Beistandsleistung existiert nicht.
Wie beurteilt Washington den Krieg in der Ukraine? Gegenwärtig scheinen zwei geostrategische Denkschulen zu konkurrieren. Das Verteidigungsministerium favorisiert eine macht- und geopolitisch dominierte Politik, Russland auf lange Dauer und auf mehreren Ebenen niederzuhalten, um die eigenen Kräfte auf den Hauptrivalen China zu konzentrieren. Militärische Aufrüstungsprogramme und Truppenstationierungen in Europa nach den Blaupausen des Kalten Kriegs, jedoch in geringerem Umfang, würden die Hauptpfeiler bilden. Russland soll hiernach langfristig politisch, ökonomisch und militärisch geschwächt und damit für China als strategischer Partner nicht mehr so attraktiv werden.
Der Nationale Sicherheitsrat und die Nachrichtendienste zielen dagegen mit Rüstungs- und Rüstungskontrollpolitik darauf, die russische regionale Invasionsfähigkeit einzuhegen. Die Schwerpunkte liegen gleichermaßen auf Abschreckung wie Diplomatie. Rüstungskontrollpolitisches Beispiel als Basis könnte der KSE-Vertrag von 1992 sowie das Anpassungsübereinkommen von 1999 sein.
In beiden Szenarios verdeutlicht der Schattenriss die US-Außen- und Sicherheitspolitik der Regierung Biden in Europa: Politik der Stärke. Großbritannien und die Staaten in Ostmittel- und Nordeuropa werden insbesondere das erste Modell betonen, Russlands Schwächung. Deutschland und Frankreich hingegen bevorzugen das zweite Modell: Diplomatie und Rüstungskontrolle. Die Midterm-Wahlen und der bald darauf startende US-Wahlkampf werden am Szenariotisch die Karten neu legen.