Ukraine und das Ende einer Ära
Die Welt steht vor einer Entwestlichung, die Ära der euroatlantischen Überlegenheit endet
Der Ukrainekrieg wird im herrschenden Narrativ als „Zeitenwende“ dargestellt, als singuläres, aus der Geschichte herausgefallenes Ereignis, das weder in einen strukturellen Kontext noch einen konkreten Geschichtsverlauf eingebunden ist. Eigentlich ist das ein Nicht-Denken, das hinter die aufklärerischen Standards zurückfällt, wie sie von der Antike über die europäische Aufklärung und kritische Gesellschaftstheorie bis zum modernen Wissenschaftsverständnis entstanden sind. Es denkt den Krieg in Kategorien biblischer Kometen, die vom Himmel stürzen und der Menschheit Außergewöhnliches verkünden.
Die politische Funktion ist klar: Nur so kann man den russischen Angriff zum moralischen Absolutum erklären und damit einen gesellschaftlichen Konsens erzeugen, der in Kriegszeiten als „Moral an der Heimatfront“ als Machtressource noch wichtiger ist als sonst.
Tatsächlich ist dieser Krieg ebenso wenig vom Himmel gefallen wie die Kriege gegen Jugoslawien oder den Irak – bei dem übrigens die Ukraine mit 1600 Mann das sechstgrößte Truppenkontingent der aus 36 Ländern bestehenden „Koalition der Willigen“ stellte. Tatsächlich ist er Teil einer umfassenderen Konfliktkonstellation, eines historischen Umbruchs der Weltordnung.
Eine Harvard-Studiengruppe hat sie schon vor fünf Jahren mit der Metapher von der „Thukydides-Falle“ bezeichnet. Das bezieht sich auf den Peloponnesischen Krieg als Modellfall (431 – 404 v. Chr.), den der antike Historiker Thukydides beschrieben hatte. Mit dem Krieg ging die Vorherrschaft über Griechenland von Athen auf Sparta über. Die Harvard-Studie hat 20 solcher Fälle im Zuge der Geschichte der letzten 2000 Jahre untersucht. In 16 kam es demnach zum Krieg.
Machterhalt der USA vs. Entwestlichung
Die Logik dahinter: Die etablierten Mächte wollen den Status quo erhalten, die aufsteigenden ihn verändern. Das verschärft Rivalität und Konflikt – auch wenn das kein Automatismus sein muss – Geschichte ist kein alternativlos ablaufendes Uhrwerk.
Die USA haben sich eindeutig entschieden, ihre Hegemonie mit aller Macht zu erhalten: „Amerika muss auf der Weltbühne immer führen. (…) Ich glaube mit jeder Faser meines Wesens an den amerikanischen Exzeptionalismus“, so Obama, und Joe Biden steht ungebrochen in dieser Tradition: „Ich will dafür sorgen, dass Amerika wieder die Welt führt“, weil „keine andere Nation die Fähigkeit dazu hat“.
Demgegenüber ist Ziel Chinas und Russlands eine polyzentrische Weltordnung, wie bereits 2009 beim BRIC-Gipfel formuliert: „Wir wollen eine demokratischere und gerechte multipolare Welt auf der Grundlage des Völkerrechts, der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Handelns und kollektiver Entscheidungen aller Staaten.“
Das ist auch die Position Indiens, durch die neutrale Haltung Neu-Delhis im Ukrainekrieg gegenwärtig deutlich unterstrichen. Der Umbruch läuft auf eine Entwestlichung der Welt und das Ende der euroatlantischen Überlegenheit hinaus. Eine 500-jährige Ära geht zu Ende. Aus Sicht der westlichen Eliten ist das dramatisch.
WeltTrends
"Ukrainekrieg und globale Spaltung"
Juni 2022, Nr. 188
Die USA versuchen, solange sie mit ihren militärischen, ökonomischen und technologische Machtressourcen noch über einen Vorsprung verfügen, die Transformation zu stoppen oder wenigstens hinauszuzögern. Daraus entsteht nicht die einzige, aber die zentrale Dynamik des internationalen Systems. Sie strahlt aus auf die Beziehungen zu China und Russland, die sich bereits vor dem russischen Einmarsch zum Kalten Krieg 2.0 entwickelt hatten, mit Wirtschaftssanktionen, hybrider Kriegführung und Feindbildproduktion. Und sie strahlt aus auf regionale Konflikte – Syrien, Libyen, Jemen, Mali – und natürlich auf die Ukraine.
Die USA versuchen schon lange, die Ukraine als antirussischen Außenposten ihrer Globalstrategie zu instrumentalisieren. Das entspricht einem Grundpfeiler der geopolitischen Doktrin Washingtons, die Zbigniew Brzezinski in „Die einzige Weltmacht“ schon in den 1990er-Jahren auf den Begriff brachte: „Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“
Die ukrainische Eskalationsgeschichte
Die systemischen Rahmenbedingungen des Ukrainekriegs sind eine notwendige, aber keine hinreichende Erklärung für den Krieg. Der systemische/strukturalistische Blick muss ergänzt werden durch eine konkrete Analyse des Verlaufs des historischen Prozesses, das heißt der Eskalationsgeschichte vor dem Krieg. Dass die geopolitische Instrumentalisierung möglich ist, hat seine Ursachen in spezifischen historischen Umständen des russisch-ukrainischen Verhältnisses, die weit in die Zarenzeit zurückreichen.
Der für die aktuelle Konfliktgeschichte entscheidende Ausgangspunkt ist, dass es nach dem Ende der UdSSR an der Peripherie Russlands in 14 neu entstandenen Staaten russische Minderheiten mit entsprechendem Konfliktpotential gab. Russland hat dort das Interesse, die Konfliktquellen zu befrieden und Stabilität an seinen Grenzen zu haben. Dies als Imperialismus zu klassifizieren, ist eine Fehldeutung.
In jungen Staaten gibt es zudem die generelle Tendenz zu starkem Nationalismus. In der Ukraine ist er besonders aggressiv und erhielt nach dem Maidan-Umsturz offiziellen Status. Russisch wurde als Amtssprache verboten, auch andere Minderheiten, wie die ungarische kamen unter Druck einer rigorosen Ukrainisierung. Die geschichtsrevisionistische Erzählung vom sogenannten Holodomor sowie die Heroisierung von Nazi-Kollaborateuren und Verantwortlichen für Judenpogrome wurden zum Nationalmythos. Der Maidan, anfangs nicht ohne Legitimität, geriet bald unter rechtsextreme Hegemonie, das heißt eine Minderheit von gut organisierten und bewaffneten Gruppen bestimmte den Kurs.
Gleichzeitig wurde der Protest geopolitisch instrumentalisiert. Der damalige deutsche Außenminister Westerwelle und die EU-Außenbeauftragte Ashton traten auf dem Maidan auf. Die Qualität eines solchen Vorgangs wird deutlich, wenn man sich umgekehrt vorstellt, der russische Außenminister wäre Redner auf einer linken Demo am Brandenburger Tor.
Am stärksten involviert waren die USA mit der damaligen Botschafterin Victoria Nuland, berühmt geworden durch ihre Verachtung der EU („Fuck the EU“). Eine vernünftige politische Lösung, unter Beteiligung der französischen und deutschen Außenminister, Neuwahlen binnen einiger Monate, wurde durch den Umsturz zunichte gemacht. Dennoch erkannte der Westen das neue Regime in Kiew sofort an.
Auslöser dieser Konfliktetappe war der EU-Assoziierungsvertrag. Das Land war jahrhundertelang Teil des russischen Reichs. Der Vertrag erzwingt aber eine scharfe Kappung historisch gewachsener Verbindungen. Das legitime Interesse Russlands, in einem dreiseitigen Verständigungsprozess auch seine Interessen zu berücksichtigen, wie das zum Beispiel bei der Trennung Großbritanniens von der EU der Fall war, wurde von Brüssel ignoriert.
Der Gegenschlag folgte prompt mit dem Unabhängigkeitsreferendum auf der Krim, rechtlich mit dem Selbstbestimmungsrecht gerechtfertigt, und die anschließende Integration der Halbinsel in die russische Föderation. Die Regie dafür wurde in Moskau geführt. In Zentrum stand dabei das russische Interesse, den Flottenstützpunkt in Sewastopol nicht in die Hände der Nato fallen zu lassen. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass der Hafen der Schlüssel zur militärischen Kontrolle des nördlichen Schwarzen Meeres ist.
In einem informellen Referendum im Donbass, vergleichbar etwa der Abstimmung in Katalonien, erklärten sich Donezk und Luhansk für unabhängig. Die Regierung Poroschenko erklärte daraufhin die Separatisten zu Terroristen und schickte Armee und rechtsextreme Freischärler. Russland unterstützte die Separatisten mit Waffen und Beratern, was schließlich zur militärischen Niederlage Kiews führte.
Die damaligen Kräfteverhältnisse wurden dann in dem Minsker Abkommen (Minsk II) festgeschrieben. Kiew blockierte jedoch von Anfang an dessen Umsetzung. Von seinen westlichen Garantiemächten Frankreich und Deutschland kam außer Worten keine praktische Initiative. Stattdessen begann im Donbass ein Krieg niedriger Intensität, dem 14 000 Menschen zum Opfer fielen. In der Ukraine wird nicht erst seit dem 24. Februar 2022 geschossen.
Die Haltung des Westens zu Minsk II ermutigte Kiew, eine ihm genehme Lösung der Probleme vorzubereiten. Im März 2021 erließ Selensky ein Dekret für einen Aktionsplan, um „die vorübergehende Besetzung“ der Krim und des Donbass zu beenden und erklärte: „Die Nato ist der einzige Weg, um den Krieg im Donbass zu beenden“, ein beschleunigtes Nato-Beitrittsverfahren für die Ukraine wäre „ein echtes Signal an Russland.“
Russlands Doppelstrategie
Die Reaktion Moskaus war jene Doppelstrategie, die der Westen schon länger für sich praktiziert: Dialog und Stärke. So forderte Putin einerseits den Stopp der Nato-Ausdehnung, keine Stationierung von Angriffswaffensystemen an den russischen Grenzen und eine Rückführung der Nato-Infrastruktur auf den Stand von 1997, als die Nato-Russland-Akte vereinbart wurde. Zum anderen ließ er Truppen an der Grenze aufmarschieren.
Die USA verweigerten kompromisslos Sicherheitsgarantien für Moskau und demonstrierten so einmal mehr, dass sie nicht bereit sind, das Prinzip der gleichen und ungeteilten Sicherheit zu akzeptieren, das Kernstück einer friedlichen Koexistenz ist. Darauf folgte dann als Eskalationsstufe neuer Qualität der russische Angriff. Putin rechtfertigt ihn am 21. Februar 2022 in seiner Rede an die Nation mit einer Bedrohungswahrnehmung: „Das nennt man das Messer an der Kehle zu haben.“
Es kann durchaus sein, dass er das tatsächlich so sieht, es kann auch sein, dass es vorgeschoben ist, so wie Tony Blair vor dem Angriff der „Koalition der Willigen“ auf den Irak behauptete, Saddam Hussein könne innerhalb 45 Minuten Mittelstreckenraketen mit biologischen oder chemischen Sprengköpfen abschießen.
Wie auch immer, hier stellt sich ein Grundproblem für das internationale System, nämlich die Rolle von Bedrohungswahrnehmungen und Feindbildern. Polen und Balten fühlen sich von Russland bedroht. Israel fühlt sich vom Iran bedroht. China fühlt sich von den USA bedroht. Der Iran fühlt sich von den USA bedroht. Taiwan fühlt sich von Peking bedroht. Armenien fühlt sich von Aserbeidschan bedroht. Man kann diese Liste noch lange fortsetzen. In allen Fällen kann es sein, dass etwas dran ist, ebenso wie es möglicherweise Propaganda sein kann – oft wohl auch eine Mischung aus beidem.
Bereits vor dem 24. Februar besteht ein Klima des Misstrauens in den internationalen Beziehungen. Das kann man nicht mit Worten abbauen, nach dem Motto „Aber wir wollen euch doch gar nichts tun“, oder „Ist doch in Wirklichkeit nicht so schlimm“, sondern das geht nur durch Taten.
Hier wird die Bedeutung einer Politik vertrauensbildender Maßnahmen deutlich, die Schärfe aus dem System herausnehmen. Wenn Russland meint, die Nato an ihren Grenzen sei eine Bedrohung, was spricht dann eigentlich dagegen, dass die Nato sich von den Grenzen fernhält? Überhaupt nichts. Es sei denn, die Nato verfolgt tatsächlich die Absicht, Spannungen zu erzeugen und Russland unter Druck zu setzen.
Der Publizist Peter Wahl ist Gründungsmitglied der Nichtregierungsorganisationen World Economy, Ecology & Development (WEED, Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung) und Attac.