Empört über die Neu-Pazifisten

Der Frömmste kann nicht in Frieden leben, wenn‘s dem bösen Nachbarn nicht gefällt

von Josef Joffe
Pazifistin
"Die Pazifisten blenden die strategische Wirklichkeit aus, wo eine hässliche Asymmetrie klafft." (Josef Joffe)

Das alte Europa hat nach 1945 bis zum russischen Raubzug Glück gehabt: statt Großmachtkrieg der längste Frieden aller Zeiten. In diesem Paradies musste die prinzipielle Friedfertigkeit nicht getestet werden: Herrscht Sicherheit, blüht die Tugend, die sich nicht um Konsequenzen kümmern muss.

Die Hauptprofiteure waren die Deutschen. Die einst verhassteste Nation wurde eine der beliebtesten. Das Schwert wich dem Fließband. Warum „para bellum“ (wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor), wenn der große amerikanische Bruder seine Hand über Westeuropa hielt. Die Macht kam nicht aus Gewehrläufen, sondern aus dem Inlandsprodukt. Die wirtschaftliche Nummer 1 in Europa konnte ihre Interessen leise durchsetzen – als „Friedensmacht“ (Willy Brandt, 1971), die zudem einen moralischen Bonus verbuchen konnte: die Wiedergutwerdung.

Diese gemütliche Welt wankt seit dem 24. Februar 2022. Im russischen Angriffskrieg vor der Haustür mussten Deutschland und Europa Farbe bekennen. Abwehr oder Appeasement? Kuscheln mit Putin oder Kanonen für Kiew? Quälend langsam entschied sich Kanzler Scholz für die „Zeitenwende“ im Sinne tätiger Hilfe. Klarer sprach die Vox Populi. Zwei Drittel wollen nicht, dass die Ukraine „aufhören soll, sich militärisch zu verteidigen, um den Krieg schnellstmöglich zu beenden“: Ebenso viele wollen die eigenen Verteidigungsausgaben steigern.

Doch tief verwurzelte Reflexe verwelken nicht. Ambivalent räsoniert der Philosoph Jürgen Habermas, dass die Ukraine den Krieg einerseits nicht verlieren dürfe; anderseits fordert er „rechtzeitige Verhandlungen“, um die Todesmaschine zu stoppen. Nun der Schwenk: Griffe der Westen „aktiv“ ein, was niemand fordert, drohe der atomare Weltkrieg.

Soll etwa der Schwächere nachgeben?

Was bedeutet „rechtzeitig“, wenn Putin in diesen Tagen stetig eskaliert, die Ukraine plattmacht, um sie seinem Imperium einzuverleiben und die Machtverhältnisse in Europa für sich zu entscheiden? „Schnell an den Tisch“, wenn Putin sein Übergewicht nutzt, heißt weitergedacht: Der Schwächere soll nachgeben, Europa den Aggressor besänftigen.

In den späten Achtzigern predigte die Friedensbewegung „Reden statt Rüsten“ und „Frieden schaffen ohne Waffen“. Wenn aber der Angreifer mehr hat als der Verteidiger, laufen solche Parolen auf Unterwerfung hinaus. Dass ein Sieg Putins Gier befeuert, passt auch nicht in den Katechismus der Rechtgläubigen. Es dominiert das Eigenwohl. Bitte, lieber Wladimir, nicht weiter als bis zur polnischen Grenze!

Wie Wort und Wunsch auseinanderklaffen, enthüllt auch die Rhetorik der neuen Bewegung, die zwei alte Kämpen sich ausgedacht haben: Sahra Wagenknecht vom SED-Nachfolger Die Linke und Alice Schwarzer vom Feministenmagazin Emma. Sie haben ein „Friedensmanifest“ entworfen, das mehr als 600 000 Unterschriften eingeheimst hat. Dann organisierten sie eine Demonstration in Berlin, die das Spektrum von ganz links bis ganz rechts abbildet. Rechte Ultras sind nicht für ihre Friedensliebe bekannt. Sie passen aber in eine Art „nationale Front“, die eine neue Partei hergäbe, jetzt, da die Linke die machtheischende Sahra Wagenknecht nicht mehr goutiert.

Die Parolen der Neu-Pazifisten zelebrieren das Hehre und blenden die strategische Wirklichkeit aus, wo eine hässliche Asymmetrie klafft. Die Invasoren können mit ihren Langstrecken-Geschossen das Land umpflügen, die Ukrainer nicht in gleicher Münze heimzahlen, um Abschreckung herzustellen. Die bittere Logik des Krieges lehrt: Erst Waffengleichheit verspricht ehrliche Verhandlungen aufseiten des Aggressors. Die Friedensmarschierer wollen gar keine Waffen liefern, was Putin nur ermuntern kann.

Derweil baden die Friedensfreunde in selbstloser Fürsorge. Zu beenden sei „das fürchterliche Leid und Sterben in der Ukraine“, doziert Sahra Wagenknecht. Im nächsten Atemzug kommt das Waffenembargo, statt einen „endlosen Abnutzungskrieg mit immer neuen Waffen zu munitionieren“. Übersetzt: Die störrische Ukraine soll die Waffen strecken.

Die nächste Finte ist die Umkehrung von Aggressor und Opfer. Wie in dem Schulhofwitz, wo der Lehrer die Streithähne fragt, wer angefangen habe. Der Kraftprotz weist auf sein Opfer. Die Ukrainer hätten die Attacke provoziert, weil sie in die Nato drängten. Diese russische Propaganda-These hat einen Schönheitsfehler. Mit Rücksicht auf Moskau dachte kein verantwortlicher Politiker im Westen an Kiews Nato-Beitritt – zu provokativ. Die Putin-Versteher fechten solche Feinheiten nicht an. Heute bezichtigen sie Präsident Selensky, weit reichendes Gerät zu fordern, um Russland „auf ganzer Linie zu besiegen“. Wer sich wehrt, hat Schuld.

Der andere böse Bube ist Amerika, habe es doch 2014 den „Maidan-Putsch“ gegen die russlandaffine Janukowitsch-Regierung angezettelt. Tatsächlich war es eine demokratische Massenbewegung, die dem Feuer der Sicherheitskräfte trotzte und den Potentaten ins russische Exil trieb.

Bauernopfer Ukraine?

Alice Schwarzer verweist bei der Schuldumkehrung auf Amerikas „völkerrechtswidrige Kriege“ im Irak und in Afghanistan. Schenken wir ihr diesen Punkt, aber nicht den entscheidenden: Wieso rechtfertigen die Einmärsche der USA den russischen Vernichtungskrieg in der Ukraine, zumal die US-Invasionen Jahrzehnte zurückliegen? Ein Unrecht legitimiert das andere nicht.

Natürlich dürfe die Ukraine kein „russisches Protektorat“ werden, sagt Wagenknecht. Das aber ist Putins Projekt. Wie kann der tausendfache Ruf nach Verhandlungen Frieden schaffen, wenn dahinter ein Bauernopfer namens Ukraine steckt?

Es geht nicht um pazifistisches Ethos, sondern um Eigennutz. Es müsse endlich Schluss sein mit einem Krieg, wo deutsche Panzer und Raketen den russischen Bären reizen. Unausgesprochen: Lass ihn die Ukraine schlucken, und er wird zum Teddy. Schlimm für die Ukraine, gut für uns.

Leider nicht, wie die bittere Erfahrung zeigt. Putins Vorwärtsstrategie läuft seit 15 Jahren. Erst die Überwältigung Georgiens, dann die Einverleibung der Krim und des Donbass, schließlich die Totalinvasion. Leider stimmt die Binse: Wer keinen echten Widerstand spürt, lässt sich nicht besänftigen. Unsere hochintelligenten Friedensfrauen kennen die Story, klammern aber bewusst die Verlockungen aus, die Putin nach der Preisgabe der Ukraine anlachen würden.

Schließlich der Atomhammer, den die Apologeten regelmäßig schwingen, ohne zu checken, dass sie so Putin in die Hände spielen. Er werde mit Atomwaffen um sich werfen, wenn der Krieg sich gegen ihn wende. Hier ersetzt die Angstmacherei die Analyse. Erstens hat Putin selber nie mit der Bombe gedroht; das überlässt er Kriegstreibern wie dem Neofaschisten Alexander Dugin. Zweitens weiß er, dass es keinen begrenzten Atomkrieg gibt, wenn „taktische“ Waffen heute bis zu zwanzigmal stärker sind als die Hiroshima-Bombe.

In Wahrheit geht es wie so oft in der Politik nicht um erhabene Werte, sondern um die Macht im eigenen Land. Pikant ging es auf der Berliner Demo zu, wo hart links und hart rechts gemeinsam aufmarschierten. Das Wörtchen „Querfront“ machte die Runde: die Extreme Seit an Seit. Das ist die andere „Zeitenwende“. Brutal drückt es der Spiegel aus, einst ein verlässlicher Weggenosse der Friedensbewegung: In Wahrheit strebe Wagenknecht eine „prorussische, antiamerikanische, national orientierte Sammlungsbewegung“ an. Hart, aber nicht unfair.

So aber funktioniert Deutschland nach fast 80 Jahren demokratischer Erneuerung nicht. Instinktiv drängt das Wahlvolk in die Mitte, wo auch der amerikanische Schutzschirm steht. Überdies hat das Gros der Wähler erkannt, dass Putin nicht allein die Ukraine im Visier hat, sondern einen Kontinent, der sich ein Menschenalter lang am Frieden laben konnte. In dieser Welt darf Russland kein Aufsichtsrecht erringen.

Josef Joffe lehrt internationale und Sicherheitspolitik an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies. Sein Beitrag ist ursprünglich am 15.3.2023 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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