Warum Putin den Krieg braucht

Es gibt drei vielversprechende friedliche Mittel, das Putin-Regime zu schwächen

von Reiner Eichenberger und David Stadelmann
Putin
Frieden? Mit Putin kaum möglich. Das Regime setzt wohl auf einen langanhaltenden Krieg.

Wer die Kriegs- und Eroberungsziele Russlands verstehen und Handlungsalternativen entwickeln will, muss die Anreize Wladimir Putins und seines Regimes berücksichtigen. Sie entspringen der politischen und wirtschaftlichen Situation Russlands. Ihre Analyse lässt uns schließen: Mittlerweile ist der Krieg das Ziel.

Putin und die Seinen konnten Russland in den letzten zwanzig Jahren nicht zu einer wachstumsstarken Marktwirtschaft entwickeln. Stattdessen setzte Russland auf die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und nahm immer mehr autoritäre und mafiöse Züge an. Die Erträge dieser Strategie sind begrenzt und abhängig von den Weltmarktpreisen für Rohstoffe. Diese steigen nicht anhaltend – erst recht dann nicht, wenn die globalen Dekarbonisierungsbemühungen erfolgreich sind.

Langfristiges Wohlstandswachstum ist deshalb ohne Liberalisierung und Demokratisierung kaum möglich. Doch diese brächten dem Regime wohl den Untergang: Es verlöre wichtige Unterstützer, weil ihre Profite nicht mehr von ihrer Regimenähe, sondern von wettbewerbsfähigen Leistungen abhingen. In freien Wahlen drohte dem Putin-Regime die Abwahl. Und Demokratie gäbe vielen Politikern Anreize, regionale Interessen vor diejenigen des Kremls zu stellen, was wohl wie um 1990 zur Sezession weiterer Teile von Russland führen würde.

Die schwache wirtschaftliche Entwicklung bedroht die Macht des Regimes. Zum einen leidet sein militärisches Potenzial. Zum anderen schmilzt sein Rückhalt bei den Bürgern. Ihre Ansprüche werden vor allem durch Vergleiche mit ihnen sprachlich, kulturell oder familiär nahestehen Ländern geprägt. Deshalb war eine wirtschaftlich erfolgreiche und demokratische Ukraine ein Schreckgespenst für das Putin-Regime. Sie hätte den Bürgern Russlands klar und verständlich gezeigt, wie schlecht sie regiert werden, und sie hätte wohl schon bald der russischen Opposition als Zufluchtsort und Brutkasten gedient.

Zwar schädigen die Sanktionen die russische Wirtschaft massiv. Aber gerade das stärkt das Regime im Innern.

Wieso der Krieg Putin nützt

Mit dem Angriffskrieg hat sich das Putin-Regime seiner Bedrohung vorläufig entledigt. Ein schneller Kriegserfolg mit Unterstellung der Ukraine unter eine Marionettenregierung des Putin-Regimes hätte dessen Popularität in Russland für einige Jahre gesichert – ähnlich wie nach der Krim-Annexion. Aber auch ein anhaltender Krieg stärkt die Macht des Putin-Regimes im Inland mehrfach:

Erstens schädigt er die Ukraine sowie das Verhältnis zwischen russischen und ukrainischen Bürgern so sehr, dass die Ukraine wohl für viele Jahre kein für das Putin-Regime gefährlicher Vergleichsmaßstab wird.

Zweitens hilft er, die Opposition im Inland zu unterdrücken. Überwachung und Abstrafung von Oppositionellen fallen dank Informations-, Sicherheits- und Notstandsgesetzen leicht.

Drittens gibt er dem Putin-Regime neue Möglichkeiten, unzuverlässige Mitstreiter und Gegner zu entsorgen und sich selbst zu bereichern – Geschäfte mit Ausrüstung der Truppen sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.

Viertens bringt er in vielen Bereichen eine Verknappung der Versorgung. Das macht die Bevölkerung vom Regime abhängiger und erlaubt eine noch engere Kontrolle der Wirtschaft.

Fünftens wirkt die gegen die Ukrainer gezeigte Brutalität als Abschreckung für nach mehr Autonomie strebende russische Regionen.

Sechstens erlaubt der Krieg, alles in verführerische Narrative zu verpacken, angefangen beim „Sachwalter russischer Interessen“ bis zum „großen vaterländischen Krieg“.

Diese wirken, nicht weil die Bürger sie naiv glauben, sondern weil sie sie glauben wollen. Denn wer unter dem Putin-Regime leben muss und in der Ukraine Verwandte und Freunde verliert, sucht Erzählungen, die dem Leiden Sinn geben. Folglich bewirken Kriege selten offenen Widerstand in der Bevölkerung, sondern eher ein „rally around the flag“, sprich: eine Unterstützung der Regierung.

Westen mehrt Nutzen des Kriegs für Putin

Die Reaktionen des Westens drohen den Nutzen des Kriegs für das Regime zu mehren. Zwar schädigen die Sanktionen die russische Wirtschaft massiv. Aber gerade das stärkt das Regime relativ zu seinen internen Gegnern und den Bürgern.

Erstens erschweren Sanktionen Importe sowie die Aktivitäten ausländischer Firmen. Davon profitieren die inländischen Anbieter. Doch sie gehören oft Regime-Mitgliedern oder werden von ihnen mit kontrolliert.

Zweitens verschaffen Sanktionen dem Regime einen Freipass, selbst die Importe und Exporte zu beschränken und Ausnahmebewilligungen gezielt an Freunde zu vergeben.

Drittens ermöglichen die Preisunterschiede zwischen dem Inland und dem Weltmarkt riesige Schmuggelgewinne. Dank den Sanktionen kann das Regime die illegalen Ein- und Ausfuhren gut kontrollieren.

Viertens verkaufen ausländische Firmen, die sich aus Russland zurückziehen, ihre Einrichtungen und Beteiligungen. Über die notwendigen Geldmittel und Bewilligungen zum günstigen Kauf der offerierten Beteiligungen verfügen vor allem regimenahe Kreise.

Fünftens werden der persönliche Austausch mit und die Auswanderungsmöglichkeiten in den Westen eingeschränkt, was die Bürger noch stärker dem Regime ausliefert.

Sechstens wird der freie Handel mit dem Westen durch einen staatlich eng begleiteten Handel mit anderen Ländern ersetzt, etwa mit China. Das ist für die Regierungen der beteiligten Länder interessant und lukrativ.

Siebtens spielen auch gezielte „smart sanctions“ dem Putin-Regime in die Hände. So machen Reise- und Finanztransaktionsverbote die mit Sanktionen belegten Oligarchen und Unterstützer des Regimes von diesem nur noch abhängiger.

Wenn diese Überlegungen stimmen, dürfte das Putin-Regime auf einen langanhaltenden Krieg setzen, um seine eigene Macht in Russland zu erhalten. Ein Friede, der eine solide Grundlage für eine freie, demokratische und prosperierende Ukraine bildet, ist deshalb mit Putin kaum zu erreichen – aber auch nicht mit einem verwandten Nachfolgeregime.

Das Regime direkt schwächen

Was also tun? Zu versuchen, die besetzten Gebiete mit noch mehr westlicher Rüstungshilfe oder gar Truppen zurückzuerobern, kann scheitern und ist im Interesse des Putin-Regimes. Es würde ihm erlauben, Niederlagen und Erfolge als Teil eines vaterländischen Kriegs zur Wiederbefreiung der ja schon annektierten Gebiete zu verherrlichen sowie für viele Jahre militärische Spannung und Abschottung zu kultivieren und so an der Macht zu bleiben.

Die friedliche Alternative ist, das Putin-Regime gezielt zu schwächen. Dazu bieten sich – auch für neutrale Staaten – drei Wege an.

Kronzeugenregelungen. Mutmaßlichen Tätern könnte die Möglichkeit geboten werden, sich vom Regime loszusagen und sich ins Ausland abzusetzen und wichtige Informationen über das Handeln des Regimes preiszugeben, die in Rechtsverfahren vor internationalen Gerichten zur Verurteilung der Schuldigen beitragen. Um die richtigen Anreize zu setzen, müsste ihnen Straffreiheit oder ‑minderung sowie die Legalisierung eines Teils ihres angehäuften Reichtums gewährt werden, so dass sie ein neues Leben beginnen können. Diese Strategie entspricht einer Kronzeugenregelung, wie sie im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und die Mafia erfolgreich ist. Sie sollte auch gegen mafiöse Regime wirken.

Emigrationsförderung. Die Emigration von für das Regime besonders systemrelevanten Personen könnte aktiv gefördert werden. Der Handlungsspielraum russischer Forscher, IT-Spezialisten und Mitglieder der Intelligenzia ganz allgemein sollte fruchtbar erweitert werden, damit sie sich einfacher vom Regime lossagen können. Ihnen soll die Möglichkeit gegeben werden, mit ihren Füßen gegen den Kreml zu stimmen. Sobald glaubwürdige Auswanderungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, werden diese auch genutzt. Eine echte Exit-Alternative fördert auch den Mut zur Kritik im Inland. Zur Not kann man eben auswandern.

Humane Behandlung von Kriegsgefangenen. Die russische Armee und die Macht des Putin-Regimes könnten durch humanitäres Engagement des Westens für Kriegsgefangene geschwächt werden. Wenn Soldaten glauben, dass sie in Gefangenschaft human behandelt werden, sind sie eher bereit, die Waffen niederzulegen. Kriegführende Parteien können eine humane Behandlung nur schwer glaubwürdig versprechen.

Daher könnten nicht am Krieg beteiligte Staaten der Ukraine anbieten, gefangene russische Soldaten für die Dauer des Konflikts im Ausland in Obhut zu nehmen. Sie könnten so unter humanen Bedingungen das dann wohl deutlich schneller nahende Kriegsende abwarten. Neutrale Staaten könnten das humanitäre Angebot besonders glaubwürdig und wirksam machen, sollten es aber natürlich beiden Parteien offerieren.

Dieses Vorgehen schwächt vor allem die Seite mit den schlechter motivierten Truppen und den besseren Desertionsmöglichkeiten, also in einem völkerrechtswidrigen Eroberungskrieg zumeist den Angreifer – insbesondere wenn die Hoffnung keimt, dass das Regime, das den Krieg befohlen hat, mit diesem dereinst endet.

Reiner Eichenberger ist Professor für Theorie der Wirtschafts- und Finanzpolitik an der Universität Freiburg (Schweiz) und Forschungsdirektor von Crema Schweiz; David Stadelmann ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Research Fellow von Crema und Projektmitarbeiter bei Ostrom Workshop (USA).

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 8.3.2023 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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