Das Dilemma der SPD

Zeitenwende der SPD: Zerbricht die Partei an ihrer neuen Außen- und Sicherheitspolitik?

von Georg Ismar

Es war hellsichtig, was Heinrich August Winkler im Dezember 2016 der SPD ins Stammbuch schrieb. Im Parteiorgan Vorwärts empfahl der Historiker der Partei: „Geschichte sollte man zu erklären versuchen. Verklären sollte man sie nicht.“

Winkler ist selbst SPD-Mitglied. Abgeleitet von der „legendenumwobenen sozialdemokratischen Ostpolitik“, die unlösbar mit den Namen Willy Brandt und Egon Bahr verbunden sei, habe sich leider mit Blick auf das heutige Russland Wunschdenken statt Realismus breitgemacht. Das war 2016, zwei Jahre nach der Krim-Annexion. Bei den Entwürfen für eine neue Ostpolitik der SPD wirkt es, als hätte der Treiber dieses Prozesses, der Vorsitzende Lars Klingbeil, viel Winkler gelesen. Dieser betonte in der parteiinternen Debatte schon damals, Leonid Breschnew habe in den 1970er-Jahren die Grenzen in Europa vertraglich sichern wollen, Wladimir Putin aber wolle deren Revision – mit Gewalt. Das Prinzip „Wandel durch Annäherung“, das Bahr 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing vorstellte, habe sich bewähren können, weil der wichtigste Partner dafür, die Sowjetunion, zu einer Macht geworden sei, „der es in Europa nicht mehr um revolutionäre Veränderung, sondern um die Wahrung des Status quo, also um die Erhaltung des 1945 geschaffenen Herrschaftsbereiches ging“.

Daher sei Moskau sogar bereit gewesen, dem westlichen Drängen auf Anerkennung bestimmter Menschenrechte zumindest auf dem Papier entgegenzukommen. So in der Helsinki-Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975. Putin aber gehe es um Expansion. Schon Brandt habe die Ostpolitik mit einem Element flankiert, das in Deutschland erst seit Kriegsausbruch wieder langsam dazukommt, eigene militärische Stärke, im Verbund mit der Nato.

Dem wissenschaftlichen Dienst des Bundestags zufolge lagen die Verteidigungsausgaben 1973 bei 3,4 Prozent des Bruttosozialprodukts, stiegen dann auf je 3,5 Prozent 1974 und 1975. Mit Ende des Kalten Kriegs sanken sie in der Kanzlerschaft von Helmut Kohl (CDU) auf 1,5 Prozent. Brandt sei klar gewesen, „dass seine Ostverträge des festen Sockels der Westverträge bedurften, dass es ohne den Rückhalt des Atlantischen Bündnisses keinen deutschen Beitrag zur westlichen Entspannungspolitik geben konnte, dass die Fähigkeit zur Abschreckung und die Bereitschaft zur Verständigung die zwei Seiten ein- und derselben Medaille waren“, so Winkler. Zugleich sei es ein Fehler gewesen, Bürgerrechtsbewegungen wie Solidarność in Polen zu ignorieren, da man es sich mit den Partei- und Staatsführungen nicht verscherzen wollte. Das zerstörte Vertrauen, bis heute.

Auf der falschen Seite der Geschichte

2016 war es der heutige SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der Winkler mit seinem Fraktionskollegen Achim Post im Vorwärts widersprach. Man müsse „mehr Dialog mit Russland wagen“. Es brauche mehr Kooperation, auch für mehr Rüstungskontrolle; zugleich aber auch ein klares Signal an Russland, dass die Unverletzlichkeit der Grenzen nicht verhandelbar sei.

Wenn man so will, hat sich durch den russischen Angriffskrieg mit Verspätung die Winkler-Linie klar durchgesetzt. Die SPD befindet sich in einem schmerzhaften Häutungsprozess, dieses Mal hat man auf der falschen Seite der Geschichte gestanden. „Einige Länder Europas und vor allem Deutschland haben zu lange ausschließlich auf eine kooperative Zukunft mit Russland gesetzt und dabei versäumt, Szenarien für einen anderen Umgang mit Russland zu entwickeln“, heißt es in dem vom Vorstand abgesegneten Entwurf der Kommission Internationale Politik.

Er trägt Klingbeils Handschrift. „Das Festhalten an der Annahme, mit immer stärkeren wirtschaftlichen Verflechtungen langfristig zu einer Demokratisierung und Stabilisierung Russlands beizutragen, war ein Fehler.“ Es gelte nun „Sicherheit vor Russland“ zu organisieren – statt mit Russland. Das ist der zentrale Satz, der historische Bruch mit der bisherigen eigenen Ostpolitik, wenngleich sie sich in der SPD sicher sind, dass auch ein Willy Brandt angesichts von Putins Epochenbruch gar nicht so groß anders gehandelt hätte als heute Kanzler Olaf Scholz.

Auch auf die bisher überhörten osteuropäischen Partner will man mehr zugehen, Klingbeil reist von Kiew zu einer Konferenz nach Warschau, um dort die sozialdemokratischen Parteichefs aus Osteuropa zu treffen. Deutschland solle zudem nach dem Willen der SPD auf internationaler Ebene eine aktive Führungsrolle übernehmen. Doch was soll das konkret heißen?

Deutschland in der bipolaren Welt

Für den Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel ist das Wunschdenken. Merkel, seit 25 Jahren in der SPD-Grundwertekommission, aber kein Parteimitglied, hat seine Probleme mit dem 23-seitigen Papier. Es sei voll von „optimistischer Lyrik“. Die Realität sehe so aus: In Europa nehme der Einfluss der Osteuropäer zu, Polen fühle sich den USA näher als Deutschland. Für Europa und eine stärkere Führungsrolle Deutschlands werde „in der aufziehenden bipolaren Weltordnung viel weniger Platz da sein, als in dem Papier unkritisch angenommen wird“. Zwischen einer bipolaren Welt mit China und Russland auf der einen und den USA und dem Westen auf der anderen Seite werde sich im globalen Süden ein gewichtiges Lager der Blockfreien entwickeln.

Vor allem stelle sich bei dem Konzept die Frage, was Sicherheit „vor Russland“ heiße? Bedeute das nur konventionelle Aufrüstung? Oder auch eine Ausweitung der nuklearen Teilhabe? Solle die Ukraine rasch in die Nato aufgenommen werden, welche Sicherheitsgarantien seien nach einem Waffenstillstand denkbar?

Wenn man das allein für Deutschland ausbuchstabiere, sei man schnell bei den Konflikten, die jetzt schon die Ampel belasten – bei Verteilungskonflikten. „Die SPD ist da in einem spezifischen Dilemma“, sagt Merkel. „Sie fühlt sich dem sozialen Ausgleich verpflichtet, das ist sozusagen ihre DNA. Gibt sie diese auf, verliert sie ihre Identität und vermutlich auch die Wahlen.“

Wenn man Sicherheit vor Russland aber rein militärisch betrachte, würden zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigungsausgaben gar nicht reichen, wozu sich Deutschland bereits verpflichtet habe. „Das wird einen erheblichen Druck auf die Sozialausgaben ausüben.“ Und dies in einer Phase, in der mit hohen Investitionen in den Klimaschutz und den Umbau der Industrie zu rechnen sei, so Merkel. Die großen sozialen Zumutungen müssten finanziell abgefedert werden. „Da wird es Konflikte in der Partei geben, das ist die Sollbruchstelle.“

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 6.3.2023 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München

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