Russland: Kunst gegen den Krieg
Viele Künstler haben Russland verlassen, aber noch entsteht mehr kritische Kunst als sichtbar ist
Um die einst vitale informelle Kunstszene in Russland ist es infolge des Angriffskriegs in der Ukraine still geworden. Viele kritische Künstler haben das Land verlassen. Andere, wie die Petersburger Rentnerin Jelena Ossipowa, die mit selbst gemalten Postern gegen den Krieg und das Putin-Regime auf die Straße ging, wurde mehrfach festgenommen.
Die Petersburger Künstlerin Alexandra Skotschilenko, die in einem Supermarkt Preisschilder durch Nachrichten über russische Kriegsgräuel in Butscha und Mariupol ersetzte, sitzt wegen des Vorwurfs, sie habe „Falschnachrichten über die russischen Streitkräfte“ verbreitet, seit März in Haft. Ihr droht eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren.
Regimekritische Künstler aus Russland sind aber weiterhin in den sozialen Netzwerken aktiv – obwohl der russische Staat internationale soziale Medien sperrt und auch deren Nutzung über VPN soweit möglich beschränkt. Der Moskauer Bildhauer und Konzeptkünstler Roman Sakin, der mittlerweile nach Armenien gezogen ist, postet auf seiner Instagram-Seite nur noch kriegskritische, ironisch-subversive Kunst – wie etwa seine Venus aus Watte, eine Anspielung auf das Schimpfwort „Watnik“ (wattierte Jacke), das für minderbemittelte russische Nationalisten gebraucht wird, oder eine mit Frischfleisch gefüllte Dose im militärischen Flecktarn, die suggeriert, mobilisierte Männer seien Kanonenfutter (der russische Ausdruck heißt „Kanonenfleisch“).
Die feministische Multimediakünstlerin Alisa Gorschenina aus Nischni Tagil im Ural postet auf ihrem Instagram-Profil nicht nur Widerstandsparolen, sondern auch hochemotionale Objekt- oder Installationskunst, beispielsweise Fotos von sich selbst in langen Gewändern, auf die in diversen nationalen Sprachen der Russischen Föderation die Worte für „Friede“ oder „Wir sind gegen den Krieg“ aufgemalt sind.
Eine Gruppe russischer Softwareentwickler und Designer gründete das nicht kommerzielle soziale Netz „Grustnogram“ (abgeleitet von „grustno“ – traurig); unter dem Motto „Trauert gemeinsam!“ wandelt diese Seite alle geposteten Fotos und Filme automatisch in Schwarz-Weiß um; statt Likes vergibt man hier gebrochene Herzen, und statt nach Freunden kann man nach „traurigen Landsleuten“ suchen.
Kritische Kunst im Verborgenen
Die populärsten zeitgenössischen Künstler Russlands freilich lassen weder in künstlerischen Arbeiten noch in öffentlichen Wortmeldungen etwas gegen den Krieg verlauten – sei es aus Angst, aus Verzweiflung oder aus mangelndem Enthusiasmus. Im heutigen Russland fehlt es den Kunstschaffenden zweifelsohne an institutioneller Unterstützung oder einem organisierten Netzwerk, von drohenden Strafprozessen wegen „Diskreditierung der russischen Armee“, Prügeln und Haussuchungen durch die brutalen Ordnungshüter ganz zu schweigen.
Doch auch jetzt dürfte in Russland mehr kritische Kunst entstehen, als sichtbar ist – in der Abschottung, im Verborgenen, in der Einsamkeit. Sichtbar und frei ist hingegen jene Kunst, die russische Künstler im Exil schaffen, bisweilen auch im Verein mit ukrainischen Kollegen.
Im April initiierte die russischstämmige Berliner Performance- und Installationskünstlerin Maria Turik eine Protestaktion, zu der einerseits die exilierte Moskauer Theaterregisseurin Anna Demidova, andererseits die aus der Ukraine geflohene Straßenkünstlerin Daniela Nich hinzustießen. Gemeinsam installierten sie vor dem regimetreuen und womöglich gar in Spionageaktivitäten verwickelten „Russischen Haus“ in Berlin ein vier Meter breites, gemaltes Banner, das einen zerstörten Straßenzug in Butscha zeigte.
Von Frankreich aus erregte der Künstler Andrej Molodkin internationales Aufsehen: Er füllte ein in Acrylglas geprägtes Putin-Porträt mit Blut; dieses hatten seine ukrainischen Freunde gespendet, bevor sie in die Ukraine an die Front zurückkehrten. Molodkin erklärte, er wolle damit die Wirkung der Propaganda durchbrechen – die Betrachter seines Werks sollten statt Putins Gesicht nur ukrainisches Blut sehen.
Der wohl bekannteste Exil-Künstler, der sich – im Unterschied zu den berühmten Emigranten Ilja Kabakow oder Viktor Piwowarow – dem Thema des russischen Angriffskriegs stellt, ist der in Frankreich und Deutschland lebende Maxim Kantor. Im Luxemburger Nationalmuseum für Geschichte und Kunst war im Sommer seine Ausstellung „The Rape of Europe“ zu sehen. Mit sechzig karikaturistischen, bitterbösen politischen Gemälden und Zeichnungen klagt Kantor das System Putin an, hält aber auch der gierigen westlichen Kunstwelt einen Spiegel vor, die sich von Putins Gefolge lange die Taschen füllen ließ. Zugleich legt Kantor jedoch Wert auf die humanistische Komponente der russischen Kultur, die, wie er sagt, „innerhalb eines inhumanen Imperiums und im Kampf gegen Versklavung“ entstand.
Jana Talke, geboren in Sankt Petersburg, ist Kunsthistorikerin und lebt in Dallas, USA. Alexander Estis, geboren in Moskau, ist Schriftsteller und lebt in Aarau, Schweiz. 2021 erschien sein „Handwörterbuch der russischen Seele“ bei der Parasitenpresse Köln. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 5.11.2022 in der FAZ erscheinen. Wir danken Jana Takle und Alexander Estis für die Erlaubnis, den Beitrag auch auf KARENINA zu veröffentlichen.