Mit Kultur zur Identität
Die ukrainische Kultur befreit sich und das Land von der sowjetischen (Teil 2: Visuelle Kunst)
Die zeitgenössische ukrainische visuelle Kunst begann sich schon vor der Unabhängigkeit der Ukraine herauszubilden. Aber das lief sehr vorsichtig und in kleinem Rahmen. Die Künstler fürchteten, mit dem assoziiert zu werden, was man „der sowjetischen Idee fremd“ nannte, mit dem, was annulliert werden sollte.
So wurde in den 1970er-Jahren das Werk von Iwan Martschuk vom Komitee für Staatssicherheit (KGB) der UdSSR für 17 Jahre verboten. Heute gilt er als einer der teuersten ukrainischen Künstler. Ende der 80er-Jahre verließ er die Sowjetunion, lebte danach in Kanada, Australien und den USA, bis er 2011 er in die Ukraine zurückkehrte.
Das letzte monumentale Kulturdenkmal, das in der sowjetischen Ukraine auf Initiative des Staats vernichtet wurde, war die Gedenkmauer auf dem Kiewer Baikowe-Friedhof. Diese Arbeit ist mit einer Länge von 213 Metern, einer Höhe von 5 bis 16 Metern und insgesamt 2000 Quadratmetern Basreliefs ein ganzer Denkmal-Komplex, den Ada Rybachuk und Volodymyr Melnychenko in mehr als zehn Jahren Arbeit in Kiew geschaffen haben. Die Wand war fast fertig, als am 10. Dezember 1981 die Kommission des Kulturministeriums der ukrainischen SSR empfahl, sie als „nicht den Prinzipien des Sozialistischen Realismus entsprechend“ zu liquidieren.
Fast die gesamte Fläche der Wand wurde mit Beton zugegossen, das heißt, auf genau diesem Friedhof buchstäblich begraben. Erst im Jahre 2021 begann man, die Mauer wieder zu restaurieren.
Fotografie: Abkehr von allem Sowjetischen
Gleichzeitig entwickelte sich sehr vorsichtig die Fotografie, und Ende der 70er-Jahre wurde die Charkiwer Schule der Fotografie gegründet, deren zentrales Postulat auch heute noch lautet: den Zuschauer zu überraschen, zu verblüffen, zu „schlagen“, damit er etwas Wichtiges über die Realität, in der er existiert, versteht.
1971 gründete sich um Jewgenij Pawlow der Fotoclub „Wremja“ (Die Zeit), in dessen Räumen sich die Bewegung des Nonkonformismus entwickelte. Dies bedeutete die völlige Abkehr von allem Sowjetischen, das Konzept eines anderen Wegs, einer eigenen Sichtweise, eines offeneren Denkens. Das geschah sogar unter den damaligen Bedingungen von Propaganda, Zensur und eingeschränkter Gedankenfreiheit.
Eine Fotografie, die beeindruckt und die Wahrheit zeigt, war zwar verboten, aber sie existierte. Und das hat die Kunst der Zeitgenossen in vielerlei Hinsicht beeinflußt, sie haben heute keine Angst mehr, mit der Form oder dem Ausdruck zu experimentieren, sie haben keine Angst mehr, das zu sagen, was sie umtreibt. So kann man jetzt zum Beispiel viele Fotoserien über das Leben der Menschen während des Kriegs sehen, über ihre Erfahrungen mit der Zerstörung des Äußeren und der Zerstörung des Inneren, des oft noch Unausgesprochenen und Unverarbeiteten.
Galerien für die zeitgenössische Kunst
Zu Beginn der Unabhängigkeit gab es in der Ukraine so gut wie keine Galerien oder Museen, welche die verschiedenen Formen zeitgenössischer Kunst ausgestellt hätten. Erst Anfang der 90er-Jahre entstanden vereinzelte Galerien, die ihr erstes Geld noch mit dem Verkauf von Antiquitäten und den Restbeständen des in den Jahren der Perestroika noch nicht ausverkauften Sozialistischen Realismus verdienten.
Wichtige Ereignisse für die ukrainische Kunst waren die Gründung von George Soros‘ Zentrum für zeitgenössische Kunst in Kiew und Odessa, des Kunstarsenals (Mystetskyj Arsenal) und des PinchukArtCentre, Institutionen, die einen Raum schaffen für die Präsentation der eigenen und die Erforschung der internationalen Kunst. Daneben existiert allerdings die sowjetische Schule bis heute weiter, nämlich in Gestalt der Nationalen Union der Künstler der Ukraine.
Mode: Suche nach der eigenen Identität
Grundlegend in der modernen ukrainischen Kunst ist die Frage nach der eigenen Identität: Wer sind wir, welche nationale Identität haben wir, welche Mythen gibt es über diese Identität, und wer sind wir auf der Weltkarte?
Die Aufarbeitung der Vergangenheit von unterschiedlichen Positionen aus nimmt viel Raum ein und beeinflußt die Formierung der Gegenwart. Das kann man sogar in der ukrainischen Mode beobachten, die volkstümliche Motive in das Design alltäglicher Gebrauchsgegenstände einfließen lässt. Das Label Gunia etwa (das heißt soviel wie „huzulische Oberbekleidung“) produziert zusammen mit traditionellem Kunsthandwerk und positioniert jede seiner Kollektionen als eine Art Führung durch die traditionelle Kultur.
Aber daneben interessiert die Künstler auch das Verständnis ihrer eigenen Gegenwart: Gender, Grenzen, das Verhältnis zur digitalen Welt, die Möglichkeit, sich an anderen Orten aufzuhalten und gleichzeitig Teil der Ukraine zu sein. Besondere Bedeutung nimmt das Thema Migration und Vertreibung ein. Die modernen ukrainischen Künstler sind eine Art Sprachrohr ihres Lands in der Welt.
Zu ihnen gehören: Mascha Rewa, die Kostüme für die Londoner Royal Opera fertigt, Boris Michailow, der einzige Ukrainer, dem der „Hasselblad Award“ – für viele der Nobelpreis für Fotografie – verliehen wurde, Illja Tschytschkan, dessen Arbeiten im New Yorker Moma ausgestellt sind. Dann ist da noch Anatoly Kryvolap, dessen Arbeiten die gewieftesten Kunstsammler hinterherjagen. Sein Gemälde „Pferd“ wurde auf der Auktion zeitgenössischer Kunst für die Rekordsumme von fast 200 000 Dollar verkauft. Trotzdem lebt und arbeitet er in der Kiewer Region, wo er zu Hause ist.
Kunst: Nicht mehr Werkzeug der Propaganda
Kunst ist nicht mehr nur ein Werkzeug der Propaganda, wie es das zur Zeit der Sowjetunion war. Jetzt können die Künstler in der Ukraine über ihre Arbeiten einen offenen Dialog mit dem Staat führen und zeigen, was ihnen nicht passt und womit zu leben ihnen widerstrebt.
Ja, die ukrainische Kunst löst sich teilweise im Mainstream auf und folgt den ständig wechselnden Trends. Aber nach wie vor drängt es die ukrainischen Künstler, die lokale Geschichte durch die Kunst zu erforschen: die Städte, in denen sie geboren wurden, die Ereignisse, zu denen sie einen Bezug haben, die immer noch schmerzen oder faszinieren. Durch ihre Kunst verarbeiten die Menschen gründlich ihre Traumata und die Traumata des ganzen Lands.
„Wenn unsere Politiker darüber nachdenken würden, was Anfang der 90er-Jahre in der Kunst passiert ist, würden sie begreifen, wie diese Prozesse richtungsweisend wurden auch für die gesellschaftliche Entwicklung“, sagt der ukrainische abstrakte Künstler Tiberiy Szilvashi. „Ich denke, die Kunst reagiert früher auf Veränderungen in der Gesellschaft.“
Jeder Künstler war immer auf seine Art ein Prophet, weil er, manchmal in spielerischer, hyperbolischer Form, präzise Szenarios der Zukunft entwarf. Wenn man heute die ukrainische Kunst anschaut, lässt sich sagen, dass eines dieser Szenarios die Suche nach einer gemeinsamen Existenz ist. Die Künstler versuchen, die Möglichkeiten des Zusammenlebens neu zu erforschen, die engen Grenzen ihrer Ateliers und Museumssäle zu überwinden, Hierarchien abzuschaffen und als ein einheitlicher Organismus zusammenzuwirken.
Es gibt die Tendenz zum Gemeinschaftsgefühl. Die Bildung von Gemeinschaften wird jetzt höher geschätzt als das Demonstrieren der eigenen Besonderheit und Einzigartigkeit. Und das betrifft nicht nur die Existenz ukrainischer Künstler innerhalb des Lands, sondern auch ihre Kommunikation mit der ganzen Welt. In den Straßen der ukrainischen Städte überall im Land sieht man riesige Street-Art-Projekte, vier Stockwerke hoch. Die Künstler bezeichnen das als Public-Art – öffentliche Kunst im öffentlichen Raum. Auch das ist eine Form, Fragen, die uns beunruhigen, laut zu artikulieren.
Film: Weg von russischen Themen
Die Freiheit als natürliches Recht des Menschen und die Selbstidentifikation als Verwurzelung dieses Menschen in der Welt ist der Kraftstoff der ukrainischen Kunst. Sehr deutlich zeigt das die Entwicklung der Filmindustrie.
In der Ukraine gab es ein sehr gutes Kino, solange Kira Muratowa, Sergei Paradschanow, Alexander Dowschenko und Jurij Illjenko noch Filme machten. Viele Filme, die ukrainische Filmstudios während der sowjetischen Zeit produzierten, waren interessant, avantgardistisch und ganz und gar nicht sowjetisch. Genau deshalb durften viele von ihnen nicht gezeigt werden.
Was später produziert wurde, war den Protokollnormen des Sozialistischen Realismus angepasst. Mit dem Zerfall der Union stellten fünf ukrainische Filmstudios ihre Arbeit ein. Die Geschichte des ukrainischen Films war zuende. In der Ukraine wurden einfach keine Filme mehr gedreht. Genauer gesagt, die Ukraine wurde ein Anhängsel der Produktion für den gemeinsamen postsowjetischen Raum.
Aber das alles änderte sich grundlegend, als das Land sich 2014 von russischen Themen löste. Das ukrainische Kino begann, sich wieder aktiv zu entwickeln, obwohl man wieder ganz von vorne anfangen musste.
Nach den Ereignissen auf dem Maidan, auf der Krim und im Donbass wollten die Ukrainer wieder mehr ukrainisches Kino schauen. Und das hatte Einfluss auf die Produktion. Der Staat begann, die Filmproduktion mehr zu finanzieren und zu unterstützen.
2014 spielte ein ukrainischer Film zum ersten Mal im Verleih Geld ein: Das war der Film „Povodyr“ („The Guide“), der, nebenbei gesagt, jetzt bei Netflix zu sehen ist. Und während das Kinopublikum sich daran gewöhnt, ukrainische Filme auf der großen Leinwand zu sehen, räumen die Autorenfilme ukrainischer Regisseure Preise auf internationalen Festivals ab. Der Film „Plemja“ („The Tribe“) erhielt den „Grand prix de Semaine de la critique“ in Cannes und „Atlantida“ („Atlantis“, 2019) – von Walentyn Wassjanowytsch wurde bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig als „Bester Film in der Sektion Orizzonti“ ausgezeichnet.
Der Film in der modernen Ukraine lässt sich in drei Kategorien einteilen: Unterhaltungsfilme, Festivalfilme und patriotische Filme. Aber jede dieser Kategorien muss an ihrer Qualität und Stimmkraft noch feilen.
Überall Selbstidentifizierung
Der rote Faden, der sich durch die gesamte moderne ukrainische Kunst, durch Mode, Gastronomie und sogar den Alltag zieht, verläuft durch das Moment der Selbstidentifizierung und der Identifizierung der Zugehörigkeit. Während des Kriegs wurde die Kunst in der Ukraine eine unabhängige starke Front, dazu bestimmt, nicht nur zu verteidigen, sondern auch zu dokumentieren, um dem Kind im Inneren jedes Menschen dabei zu helfen, das äußere Geschehen zu verdauen und zu verarbeiten. Dieses Kind hat Angst, es ist schrecklich gekränkt und wütend, aber gleichzeitig will es wissen, wozu das alles geschieht, wo das alles hinführt, was aus ihm und aus dem wird, was er gewohnheitsmäßig sein Zuhause nennt.
Übersetzung aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann
Lesen Sie auch den ersten Teil von Anastasiia Kovalenkos Erkundungen der neuen ukrainischen Kultur: „Mit Kultur gegen den Komplex“. Die ukrainische Kultur befreit das Land von der fremdbestimmten Annahme der eigenen Unzulänglichkeit (Teil 1: Klang und Stimme)