Europa, der malerische Kontinent
Impressionismus in Russland: Wie das Zarenreich sich der künstlerischen Moderne Europas öffnete
Endlich – muss man sagen! Endlich lassen es die gelockerten Corona-Bestimmungen wieder zu, eine der schönsten Ausstellungen zu besuchen, die lange Zeit nur über ihren vorzüglichen Katalog zugänglich war: die Ausstellung zur Malerei des russischen Impressionismus, die noch bis zum 15. August im Museum Frieder Burda gastiert und dann noch einmal in das Museum Barberini nach Potsdam zurückkehren soll, der ersten Station, die weitgehend dem Lockdown zum Opfer fiel.
Zu sehen sind die wichtigsten russischen Maler und Malerinnen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich der impressionistischen Malerei öffnen und zu den Wegbereitern der russischen Avantgarde werden. Manche Namen, wie den des großen Ilja Repin, kennt man natürlich, oder Jawlenski, der die meiste Zeit in Deutschland verbracht hatte. Auch Malewitsch gehört in den Kanon der modernen, gegenstandslosen Malerei.
Aber fast spannender noch sind jene, die man in dieser Ausstellung entdecken kann: Iwan Kramskoi, einer der Schlüsselfiguren der sich wandelnden russischen Malerei jener Zeit; David Burljuk und sein Bruder Wladimir; natürlich Konstatin Korowin oder Wassili Polenow; die früh gestorbene Olga Rosanowa und der in Auschwitz ermordete Wladimir Baranow-Rossiné. Die Liste der Namen ist lang; und das Deprimierende daran ist, wie fremd sie in unseren Ohren noch klingt. Unser Verhältnis zu Russland, zum Osten ist auch ein Wissensproblem.
Die Wiederholung der Ausstellung in Potsdam ist deshalb eine glückliche Entscheidung der russischen Leihgeber von der Tretjakow-Galerie. Diese Ausstellung hat ein möglichst großes Publikum in Deutschland verdient und sollte nicht einer durch die Pandemie eingeschränkten Wahrnehmung zum Opfer fallen. Denn sie zeigt eben nicht nur ein bis auf wenige Ausnahmen im Westen kaum bekanntes Kapitel der russischen Malerei, sondern zugleich jenes andere, in der europäischen Gegenwart längst angekommene Russland, das es mal gab; das unter den Trümmern des Kommunismus begraben liegt; das in den Jahrzehnten der Teilung Europas vergessen wurde, und sich der Vorstellungskraft vieler unserer heutigen Kommentatoren noch immer entzieht.
Anschluss an Europas künstlerische Moderne
Auf die alte, immer wieder von Neuem gestellte und eigentlich sinnlose Frage, ob Russland überhaupt zu Europa gehöre, hatten diese Künstler schon vor anderthalb Jahrhunderten eine eindeutige Antwort gegeben. Sie hatten den Anschluss gesucht an die künstlerische Moderne Europas und selbstverständlich gefunden. Ihre Werke öffnen sich der neuen Malweise und Bildauffassung, die in ganz Europa entsteht; und sie folgen einer gemeinsamen ästhetischen Grundauffassung, die doch in vielen regionalen Spielarten lebt.
Es sind eben nicht nur die Franzosen, die diesen Stil vorexerzieren; auch wenn uns das eine kanonisierte Kunstgeschichte immer noch in die Lehrbücher schreibt. Es ist ein malerischer Kontinent, der sich da auftut in all seiner Vielfalt und seinen tausend Facetten. Wer darin häufig nur das Epigonale erkennt, hat die eigentliche Modernität dieser Malweise nicht begriffen. Es gab einen niederländischen Impressionismus genauso wie einen deutschen: und man kann sich vielleicht noch streiten, ob man von einem russischen Impressionismus sprechen möchte, oder vom Impressionismus in Russland.
Man kann auf die großen Vorbilder verweisen wie Monet, Renoir und vor allem Cézanne; oder für charakteristischer halten, dass dieser „Stil“ sich in sehr vielen Kunstlandschaften und Malerkolonien manifestiert hat. Diese Moderne war eben nie nur eine urbane, metropolitane Kunst, auch wenn die Bedeutung von Paris für diese Künstlergeneration natürlich unabweisbar ist.
Suche nach dem Eigenen in der Fremde
Wie so viele ihrer Zeitgenossen sind auch diese russischen Maler nach Paris gegangen und haben sich an den großen Vorbildern dieser Stadt orientiert. Wohlgefühlt haben sie sich dort offenbar nicht. Man blieb im Kreis der eigenen Landsleute in einem „Zustand des Nichtgeborgenseins in der Fremde“, wie die russische Kunsthistorikerin Tatjana Yudenkova dieses Lebensgefühl umschreibt. Manchmal habe er inmitten fremden Lebens, klagte der Maler Wiktor Waznezow in einem Brief an einen Freund, „plötzlich das Gefühl, dass um dich herum einfach ein leerer Raum ist mit Figuren ohne Menschen, mit Gesichtern ohne Seele, mit einer Sprache, die nicht ins Ohr geht“.
Der trotzdem als notwendig empfundene Umweg dieser Künstler über Paris als dem Synonym der modernen Zeiten folgte einem altbekannten Muster: dass man die Erfahrung der Fremde braucht, um das eigene wieder zu schätzen. Die großen russischen Maler haben dann später auch nicht in impressionistischer Manier gemalt; sie haben ihre eigene Moderne erfunden. Das neue Malen, das Malen en plein air war ohnehin von der jeweiligen Umgebung nicht zu trennen; der Duktus war neu; die Farben, das Licht, die Stimmung blieben der eigenen Landschaft verbunden. Vielleicht ist die Vorstellung ihrer Landschaft auch erst durch die Maler entstanden.
Öffnung des zaristischen Russlands nach Europa
Wie sehr das zaristische Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich der künstlerischen Moderne Europas zu öffnen begann, hat der große Russlandkenner Orlando Figes in einem beeindruckenden Buch beschrieben. Als das Schlüsseldatum wählte er den 3. November 1843, als die damals weltberühmte Sopranistin ihr russisches Debüt als Rosina im „Barbier von Sevilla“ in Sankt Petersburg gab. Russland war, wie Figes schreibt, das letzte der großen europäischen Länder, das der neuen „Begeisterung für die italienische Oper“ erlag.
Aber ohne Anteil zu bekommen an dieser neuen musikalischen und wenn man so will: Popkultur, da war man sich am zaristische Hofe sicher, würde dem russischen Weltreich etwas ganz Entscheidendes fehlen: „Es gäbe keinen Brennpunkt für Opulenz, Prunk und kultivierte Zerstreuung.“ Zar Nikolaus war bereit, dafür ein Vermögen zu bezahlen.
Entscheidend für die Ausbreitung dieser neuen Vergnügungskultur war das neue Transportmittel, die Eisenbahn, und ein sich rasch über den ganzen Kontinent ausbreitendes Schienennetz. Pauline Viardot und ihr Ehemann Louis mussten die 1600 Kilometer von Berlin nach St. Petersburg noch mit der Schnellpost und dem Pferdewagen zurücklegen. Aber es dauerte nicht mehr sehr lange, bis auch das russische Reich oder zumindest seine aufstrebenden Metropolen, Teil jener neuen rasch zirkulierenden Kunst- und Warenwelt wurden, die das Gesicht des modernen Europas geformt hat.
Barbarisches Russland? Modernes Russland!
Jenes über die Zeiten hinweg kolportierte Bild eines barbarischen, halbasiatischen Landes hatte mit der Realität des modernen Russlands bald nichts mehr zu tun. Es ist damals vollends zum nostalgischen Genre geworden. Bezeichnenderweise sind auch die „Aufzeichnungen eines Jägers“, die als das russischste Werk des zu seiner Zeit wohl berühmtesten russischen Dichters, Iwan Turgenjew, gelten, eben nicht in den russischen Wäldern entstanden, sondern vor allem in Courtavenel, wie Orlando Figes bemerkt, dem Landhaus der Viardots südöstlich von Paris.
Diese Aufzeichnungen wurden innerhalb kürzester Zeit in die wichtigsten europäischen Verkehrssprachen, ins Deutsche, Französische und Englische übersetzt. Wiewohl auch umgekehrt die Verlage in Russland die europäische Literaturproduktion in großem Stil übernahmen.
Das waren die Zeitumstände, in die jene neue Generation junger russischer Maler hineinwuchs, die sich von der althergebrachten Bildauffassung und den Ausbildungsmethoden ihrer akademischen Lehrer losgesagt hatten. Es war wohl auch kein Zufall, dass der Aufstand jener Gruppe der begabtesten Sankt Petersburger Kunstakademiestudenten unter Führung des Malers Iwan Kramskoi, die sich später Peredwischniki, die „Wanderer“ nannten, just in jenes Jahr 1863 fiel, in dem sich in Paris die vom Pariser Salon abgewiesenen Künstler in einem eigenen Salon des Refusés zusammentaten.
Gemeinhin gilt das als die Geburtsstunde der künstlerischen Moderne. Sie war eine gemeinsame ästhetische Antwort auf die sich wandelnde Welt, aber auch die Unterschiede in der Wahrnehmung dieser Welt wurden bald deutlich.
Die moderne russische Malerei erscheint insgesamt „erzählerischer“ als die der impressionistischen Zeitgenossen in Frankreich, und für die russischen Maler blieb der Impressionismus ein Stil neben vielen anderen auch (ART in Words). Insofern engt jene gerne erzählte Geschichte von der Irritation Wassily Kandinskys beim Anblick eines Bilds aus der Serie der Getreideschober von Claude Monet, das Verständnis unnötig ein. Es ist das bekannte Narrativ von der einen, einzigen Moderne, deren gemeinsame Sprache man lernen muss; dass es viele Wege zu dieser Moderne gab, gerät dabei aus dem Blick.
Es ist eben keine „Spielart des Impressionismus“, die sich in Baden-Baden jetzt besichtigen lässt. Es ist ein eigenständiges Kapitel einer gemeinsamen Entwicklung in der modernen europäischen Malerei. Auch dass die später so berühmte sowjetische Avantgarde eben nicht aus heiterem Himmel fiel, wird man in dieser Ausstellung begreifen.
Es gab auch eine lange russische Vorgeschichte der Befreiung von Farbe und Form. Und die gerne benutzte Behauptung, dass erst die Generation der Avantgardisten sich den westlichen Einflüssen wirklich geöffnet und die russische Kunst in ganz Europa zu etablieren versucht hätten, lohnt einer genaueren Überprüfung. Schon die Resonanz, die russische Maler seit den 1870er-Jahren auf den großen Kunstausstellungen in London oder Paris fanden, deutet auf eine weitaus größere Nähe hin.
Gängige Sichtweisen prüfen
Aber auch für eine Revision gängiger Sichtweisen bietet gerade diese Ausstellung Anlass zur Hoffnung. Die Tretjakow-Galerie, die mit den Anfängen dieser russischen Moderne auf das engste verbunden war, hat ihre Werke nicht einfach nach Deutschland verfrachtet. Auf eine subtile, theoretisch nie angestrengte Weise gelingt das Nachdenken über ein gemeinsames Kapitel gemeinsamer Kunst. Man wünschte sich jene intellektuelle Offenheit, jenen klugen Respekt, mit dem sich die Verantwortlichen der Ausstellung und die Autorinnen und Autoren im Katalog begegnen, in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs zurück. An dieser Ausstellung ließe sich tatsächlich lernen, wie man miteinander umgehen kann. Und es nützt auch nichts, die historischen Gemeinsamkeiten zu beschwören, wenn man keine Ahnung von ihnen hat.
Impressionismus in Russland: Aufbruch zur Avantgarde
Museum Frieder Burda, Baden-Baden
Öffnungszeiten Di-So, 10.00 bis 18.00 Uhr
Noch bis zum 15. August 2021