Boris Jelzin: Der Radikale
Vor 30 Jahren, am 10. Juli 1991, wurde Boris Jelzin als russischer Präsident vereidigt
In Boris Jelzins achteinhalbjährige Präsidentschaft fielen die radikalsten Reformen, vor allem wirtschaftliche, und die größte Not der Bevölkerung. Sie begann am 10. Juli 1991 mit der Vereidigung des Sechzigjährigen, des größten Gegenspielers von Michail Gorbatschow, der ihn zuerst gefördert, 1987 aber ausgebootet hatte.
An jenem Tag vor 30 Jahren begann also eine neue Ära. Die Sowjetunion war noch nicht Geschichte, aber auf dem Weg dahin, und Russland wollte ökonomisch zum Westen aufschließen. Das wollte gleich einer wachsenden Zahl von Politikern auch der Gebietsparteisekretär von Swerdlowsk, den Gorbatschow 1985 nach Moskau geholt hatte. Die Partnerschaft hielt nicht lange an.
„Der Parteisekretär Jelzin hatte die Statur eines Revolutionärs“, schrieb Margarete Mommsen später. „Er war gleichzeitig Parteirebell, Volkstribun, Reformer und Populist.“ 1985 seien die Tage von Planwirtschaft, Einparteienherrschaft und sowjetischem Herrschaftssystem gezählt gewesen. „Die Zeichen der Zeit standen auf politischen Pluralismus und Marktwirtschaft.“ Und Jelzin ging alles nicht schnell genug, nicht radikal genug. Er wollte das Machtmonopol der KPdSU brechen, den Unionsrepubliken größere Autonomie zubilligen, und eine freie Marktwirtschaft schaffen. Ein „Demokratisches Russland“, wie die Bewegung hieß, an deren Spitze er sich setzte. „Jelzin begeisterte sich rasch für einen solchen radikalen Systemwechsel“, so Mommsen, „während Gorbatschow einen kontrollierten evolutionären Systemwandel vorzog.“
Aber im Jahr 1991 war Jelzin am Drücker. Im Frühjahr sagte Gorbatschow laut William Taubman, Jelzins Lebenswerk sei „die Macht zu ergreifen, auch wenn er keine Ahnung hat, was er damit anfangen soll“. So sollte es kommen.
Am 12. Juni 1991 entschieden sich 59 Prozent derer, die abgestimmt hatten, dafür, dass Jelzin der erste Präsident der Russischen Föderation werden solle. Das bedeutete die Macht, auch die über Gorbatschow, denn Jelzin hatte damit „genau den Auftrag des Volkes, den Gorbatschow als vom Kongress der Volksdeputierten gewählter Präsident der Sowjetunion nicht besaß“, so Taubman.
Ein Zar muss sich verhalten wie ein Zar
Aber noch war die Zukunft nicht endgültig ausgemacht, noch wehrte sich Gorbatschow, der die Union erhalten wollte, wenn auch mit kleinen Symbolen. Jelzin musste bei seiner Inauguration auf einen Salut mit 24 Kanonenschüssen und den Eid auf die Bibel verzichten.
Jelzin revanchierte sich beim Händedruck; als die Männer aufeinander zugingen, blieb Jelzin stehen, Gorbatschow tat die letzten Schritte. Er erkannte die Symbolik nicht. Später sah er den „politischen Instinkt“ Jelzins: „Weiß Gott, vielleicht ist das sein Geheimnis, vielleicht ist das der Grund, warum man ihm alles verzeiht. Ein Zar muss sich verhalten wie ein Zar. Und ich weiß nicht, wie das geht.“
Vor allem war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wie es weitergehen sollte mit der UdSSR: Föderation? Mit einer Zentralregierung? Jelzin wollte weniger davon, Gorbatschow mehr. Jelzin aber wollte vor allem schnelle wirtschaftliche Reformen, Marktwirtschaft.
Und dann begann die Sowjetunion zu versinken – und mit ihr die Planwirtschaft und das Einparteiensystem. Im August 1991, Gorbatschow war im Urlaub auf der Krim, begehrten orthodoxe Kommunisten auf, die Macht und Einfluss, Privilegen und Posten verteidigen wollten; sie putschten gegen den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow und die angestrebten Reformen – und gegen den aus ihrer Sichte wachsenden Einfluss des Westens.
Der stümperhafte Putsch entpuppte sich wieder als Jelzin-Moment: Zehntausende demonstrierten gegen die Aufständischen, auch vor dem „Weißen Haus“ in Moskau, damals Sitz des Obersten Sowjets und des Kongresses der Volksdeputierten, die in Opposition zu den Putschisten standen. Dort sprang Jelzin auf einen Panzer und stellte sich damit an die Spitze der Verteidiger des Fortschritts, wie es hieß, gegen die Gestrigen. Zupackend, als Volkstribun. Er schüttelte dem Panzerfahrer die Hand, der lachte, dann verlas Jelzin ein Dekret gegen die Aufständischen. Wie Lenin 1917, nur nicht vom Eisenbahnwaggon. Wieder so eine Instinkthandlung.
Und dann begann der Umbau
Nachdem der Putsch vereitelt war, demütigte Jelzin Gorbatschow vor laufender Kamera. Per Dekret verbot er – ohne Einverständnis des noch immer sowjetischen Staatspräsidenten einzuholen – die Kommunistische Partei, aus der er schon im Juli 1990 ausgetreten war, in der Russischen Republik. Im November erklärte er, mit keiner Form eines Unionstaats einverstanden zu sein.
Die Schleusen öffneten sich, selbst in der Ukraine plädierten große Mehrheiten für die Unabhängigkeit, auch in Regionen mit mehrheitlich russischer Bevölkerung. Und im Dezember 1991 beschlossen Jelzin, sein Ukrainischer Kollege Leonid Krawtschuk und der Weißrusse Stanislau Schuschkewitsch, die UdSSR zum Jahresende 1991 aufzulösen und in eine „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS) zu schaffen.
„Nehmt Euch so viel Freiheit, wie ihr nur greifen könnt!“, rief er den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken zu. Ende 1991 war die Sowjetunion endgültig Geschichte und Boris Jelzin Präsident der russischen Teilrepublik RSFSR und gleichzeitig erster Präsident der Russischen Föderation.
Jelzin im Kreml, der Umbau beginnt
Das wichtigste für Jelzin sei nun, „den Kreml zu besetzen“, sagte Gorbatschow im Dezember 1991. Am 25. Dezember hielt er seine Abschiedsrede. Die Sowjetfahne überm Kreml wurde noch am Abend eingeholt, das Türschild „Der Präsident der UdSSR, M. S. Gorbatschow“, tags darauf abmontiert. Und Jelzin bekam, was laut Gorbatschow sein wichtigstes Ziel war.
Und dann begann er, der Umbau: Sein Regierungschef Jegor Gaidar begann damit, wirtschaftspolitische Reformen um- und durchsetzen – durch eine „Schocktherapie“, wie es heute heißt. Vom 2. Januar 1992 an waren 80 Prozent der Preise von Produktionsgütern frei, gar 90 Prozent bei Konsumgütern. Mehr als zwei Drittel der Kleinbetriebe waren bis Ende 1993 privatisiert, vier Fünftel der zu privatisierenden großen und mittleren Betriebe in Aktiengesellschaften umgewandelt. Weil die kleinen Leute ihre Beteiligungscoupons verscherbelten, gingen die Produktionsmittel in die Hand cleverer Geschäftsleute über.
Der Außenhandel wurde liberalisiert. Und in der Folge stiegen Inflation und Preise um ein Vielfaches. Der Rubel stürzte 1994 ab. Die Masse der Menschen litt Not.
Doch Jelzins Regierung reagierte mit einer weiteren Privatisierungsphase, in der sie Aktienpakte von Großunternehmen der Öl- und Stahlindustrie verkaufte. In dieser Zeit entstanden die Oligarchen.
Widerstand gegen die radikalen Reformen
Es entstand auch Widerstand im Volk. Längst war Jelzin wegen der „Schocktherapie“ und deren Folgen beim Volk „unten durch“ gewesen. Bei der Dumawahlen 1993 erzielten nationalistische und kommunistische Parteien bessere Ergebnisse als jene aus dem Jelzin-Lagers.
Jelzin versuchte, durch eine Verfassungsreform seine Macht zu stärken. Aber die Volksvertretung wehrte sich gegen ihren absehbaren Bedeutungsverlust. Per Erlass 1400 löste Jelzin deshalb am 21. September 1993 den Obersten Sowjet und das Parlament auf, setzte eine Volksabstimmung über die neue Verfassung sowie Neuwahlen für Dezember an.
Der Oberste Sowjet antwortete mit der Absetzung Jelzins und verbarrikadierte sich im Weißen Haus. Nach einem dilettantischen Versuch eines Staatsstreichs am 3. Oktober – die Rebellen versuchten, den Fernsehturm Ostankino und die Moskauer Stadtverwaltung einzunehmen – ließ Jelzin Panzer vorfahren und auf das Parlamentsgebäude, das Weiße Haus, schießen.
Die Illusion einer friedlichen Transformation war gestorben. Das Volk bestätigte zwar die Verfassung, aber Jelzin schien politisch am Ende zu sein.
Doch bei den Präsidentschaftswahlen 1996 gelang es einer Gruppe von vorwiegend Finanzunternehmern, Jelzins durch eine aufwendige Kampagne zu einem Sieg gegen den kommunistischen Kandidaten Gennadi Sjuganow und einer weiteren Präsidentschaft zu verhelfen. Auch die USA unterstützten ihn durch Wahlberater und Einflussnahme auf den Internationalen Währungsfonds (IWF), der daraufhin eine Anleihe von zehn Milliarden Dollar gewährte, obwohl das Land die ökonomischen Kriterien nicht erfüllte.
Aber Jelzin war angeschlagen, gesundheitlich – schon damals litt er unter einer Krankheit am Herzen – und politisch. Binnen vier Jahren wechselte er mehrere Ministerpräsidenten aus. Aber sein Stern sank weiter.
Am Silvesterabend 1999 sagte Jelzin auf seiner Neujahrsansprache: „Ich wende mich heute auch zum letzten Mal als Präsident an Sie.“ Er habe sich zum Rücktritt entschieden. „Russland braucht bei seinem Eintritt ins neue Jahrtausend neue Politiker, neue Gesichter, neue intelligente, starke und energiegeladene Menschen.“
Der Mann, der nach ihm kam, heißt Wladimir Putin. Im Deutschlandfunk ist nachzulesen, was er damals über Jelzin und die Zukunft sagte:
„Die Meinungsfreiheit, die Freiheit der Presse, das Recht auf Eigentum, diese grundlegenden Elemente der zivilisierten Gesellschaft werden zuverlässig vom Staat geschützt. Die bewaffneten Streitkräfte, der Grenzschutz, die Rechtsschutzorgane führen ihre Arbeit wie üblich unter strengem Regime fort. Der Staat sorgt für den Schutz seiner Bürger. Der Präsident hat die Übergabe der Macht ganz und gar verfassungsgemäß vollzogen. Vielleicht kann man erst später in vollem Umfang bewerten, was dieser Mann für Russland geleistet hat, aber schon heute ist klar, dass Russland einen unumkehrbaren Weg zu Demokratie und Reformen gegangen und ein starker und unabhängiger Staat geworden ist, darin besteht seine herausragende Leistung.“