Die gekränkte Großmacht

Das „Weimarer Syndrom“ und Weltherrschaftsträume: Parallelen zwischen Deutschland gestern und Moskau heute

Russlands Traum von der Großmacht
Die Großmachtfantasien des Alexander Dugin: "Der Kampf der Russen um die Weltherrschaft ist noch nicht zu Ende.“

Nach der Auflösung der Sowjetunion verwandelte sich Russland in eine „gekränkte Großmacht“, die nach einer Wiederherstellung seiner erschütterten hegemonialen Positionen strebt. Insofern erinnert die Lage des postsowjetischen Russlands an diejenige Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg. Nicht zuletzt deshalb wird der Begriff „Weimarer Syndrom“ seit den 1990er-Jahren wiederholt auf Russland bezogen. Seit der Zeitenwende vom 24. Februar erhält dieser deutsch-russische Vergleich eine zusätzliche Relevanz. Nicht zuletzt deshalb ist es wichtig, sich mit dem „Weimarer Syndrom“ erneut zu befassen, und zwar sowohl mit dem deutschen „Original“, als auch mit seiner russischen „Kopie“.

Nach der Niederlage der angeblich „im Felde unbesiegten Nation“ im Ersten Weltkrieg dämonisierte die deutsche Rechte in einem immer stärkeren Ausmaß sowohl die westlichen Sieger als auch die von ihnen vertretenen Werte. Die Härten des Versailler Vertrags, der sich übrigens in seinem Charakter nicht allzu stark von dem deutschen Siegfrieden im Osten vom März 1918 (Friede von Brest-Litovsk) unterschied, hielten die Verfechter der nationalen Revanche in der Weimarer Republik für einen ausreichenden Grund, um die bestehende europäische Ordnung „in die Luft zu jagen“.

Das Gefühl der gekränkten nationalen Eitelkeit wurde zu einem allbeherrschenden Motiv in ihrem Denken und Handeln und ließ sich durch keine Rücksichten auf das gemeinsame europäische Erbe zähmen. „Wir sind ein Volk in Bedrängnis“, schrieb 1923 einer der Vordenker der in der Weimarer Republik sehr einflussreichen „konservativen Revolution“, Arthur Moeller van den Bruck:

Und der schmale Raum, auf den man uns zurückgedrängt hat, ist die unendliche Gefahr, die von uns ausgeht. Wollen wir nicht aus dieser Gefahr unsere Politik machen?

Der aus dem Westen importierte Liberalismus wurde von vielen Vertretern der konservativen Revolution und anderer national-gesinnter Gruppierungen zum tödlichen Feind der Deutschen wie auch der gesamten Menschheit deklariert. Für Moeller van den Bruck war der Liberalismus eine „moralische Erkrankung der Völker“, die Freiheit, keine Gesinnung zu haben, und dies als Gesinnung auszugeben.

Die für die konservativen Revolutionäre so typische moralisierende Attitüde wird hier besonders deutlich. Autoren, die aufgrund des in Versailles begangenen Unrechts bereit waren, die ganze europäische Ordnung in die Luft zu sprengen, die für die „Humanitätsduselei“ nur Spott übrig hatten, warfen im gleichen Atemzug dem Liberalismus seine moralische Gleichgültigkeit vor. Kein Wunder, dass dieser moralisierende Immoralismus, der den eigenen geplanten Taten die sofortige Absolution erteilte, den Gegner aber als einen unheilbaren Frevler darstellte, auf viele so anziehend wirkte.

Die Ausdehnung des liberalen Systems auf Deutschland stellte für die deutschen Kritiker des Westens das Ergebnis einer raffinierten Intrige der westlichen Demokratien dar. Der Westen sei gegen das liberale Gift immun, er nehme die liberalen Grundsätze gar nicht ernst, meinte Moeller van den Bruck. In Deutschland werde hingegen der Liberalismus ernst genommen. Daher führten seine zersetzenden Prinzipien das Land ins Verderben.

Faszination Krieg und Weltherrschaft

Das Selbstmitleid der Verfechter der konservativen Revolution war ebenso grenzenlos wie ihre Größenfantasie. Es stellte sich nun heraus, dass das einzige Mittel, das die Leiden der Deutschen lindern konnte, die Weltherrschaft war.

So erklärte Moeller van den Bruck: „Die Beherrschung der Erde (ist) die gegebene Möglichkeit …, dem Volke eines überbevölkerten Landes das Leben zu ermöglichen. … Über alle Gegensätze hinaus … stößt der Drang der Menschen in unserem überbevölkerten Lande in der gleichen Richtung vor, deren Ziel der Raum ist, den wir brauchen.“

Der Krieg stellte nach Ansicht mancher Vertreter der konservativen Revolution das Element dar, in dem sich die Deutschen besonders wohlfühlten. Im bürgerlichen Gewand mache der Deutsche eine unglückliche Figur, meinte Ernst Jünger. Der Grund dafür liege darin, dass dem Deutschen jedes Verhältnis zur individuellen Freiheit und damit zur bürgerlichen Gesellschaft fehle. Es gebe nur eine Masse, die nicht lächerlich wirke – das Heer.

Und Oswald Spengler predigte: „Staatsgeschichte ist Geschichte von Kriegen. Ideen, wenn sie zur Entscheidung drängen, … wollen mit Waffen, nicht mit Worten ausgefochten werden.“ Die Faszination, die die gewaltige Entfaltung der Kriegs- und Vernichtungstechnik des Ersten Weltkriegs hervorrief, war in manchen europäischen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, wesentlich stärker als der Zweifel an dem Sinn des Kriegs.

Dieses seltsame Phänomen beschäftigte 1928 den deutschen Publizisten Moritz Julius Bonn. Die Idealisierung des Krieges sei ein völliger Anachronismus, so Bonn. Der moderne Krieg sei kein intuitives Erlebnis der Heroenzeit mehr, sondern ein Massenvernichtungsunternehmen. Und trotzdem werde dieser Krieg verherrlicht.

Die Sehnsucht nach einem „Cäsar“

Die parlamentarische Demokratie galt ihren deutschen Verächtern als „unritterlich“. Die Novemberrevolution von 1918 habe bei der Landesverteidigung versagt, schreibt Ernst Jünger. Daher sei sie in einen Gegensatz zu den Frontsoldaten geraten. Sie habe auf solche Begriffe wie „Männlichkeit, Ehre, Mut“ verzichtet.

Oswald Spengler spricht seinerseits von der „unbeschreiblichen Hässlichkeit der Novembertage“: „Kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann, kein bleibendes Wort, kein kühner Frevel.“

So verbreitete sich in den Reihen der konservativen Revolutionäre die Sehnsucht nach einem wirklichen Herrscher, nach einem Cäsar. Der charismatische Führer sollte die Herrschaft der unpersönlichen Institutionen durch die Herrschaft des Willens ersetzen. Es sollten nunmehr wieder Helden und nicht blutleere Institutionen herrschen.

Der ehemalige Vertreter des nationalbolschewistischen Flügels der konservativen Revolution, Ernst Niekisch, schrieb nachträglich (1936): Die deutschen bürgerlichen Massen „waren der Herrschaft des unpersönlichen Gesetzes überdrüssig und verachteten die Freiheit, die diese gewährt: sie wollten einem Menschen dienen, einer persönlichen Autorität, einem Diktator. … Sie zogen die schwankende Laune und sprunghafte Willkür eines persönlichen ‚Führers‘ der strengen Berechenbarkeit einer unantastbaren gesetzmäßigen Ordnung vor.“

Russland: Dämonisierung des Liberalismus

Mit ähnlicher Gehässigkeit wie in der Weimarer Republik werden die rechtsstaatlichen und liberalen Ideen im „national-patriotischen Lager“ des postsowjetischen Russlands angegriffen. Besonders anschaulich spiegelte sich diese Tendenz in der vom rechtsradikalen Publizisten Alexander Dugin herausgegebenen Zeitschrift Elementy (1992 – 1998) wider.

Die Zeitschrift bezeichnete den Liberalismus als die „konsequenteste, aggres­sivste und radikalste Form des europäischen Nihilismus“, als Verkörperung der Traditionsfeindlich­keit, des Zynismus und der Skepsis. Der Liberalismus zerstöre jede geistige, historische und kulturelle Kontinuität, er sei der Feind des Menschengeschlechts schlechthin, so die Herausgeber der Elementy.

Die Zeitschrift hält es für ein fatales Missverständnis, dass Liberalismus und Demokratie oft in einem Atemzug genannt würden. In Wirklichkeit habe der Liberalismus mit der Demokratie – der Macht des Volkes – nichts gemein. Bei den Verfechtern des Liberalismus handele es sich um eine kleine, machthungrige und von niemandem gewählte Elite, die sich der demokratischen Rhetorik bloß bediene, um beim Volk den Eindruck zu erwecken, es habe mit den von der Oberschicht gefällten politischen Entscheidungen irgendetwas zu tun. In Wirklichkeit verfüge das Volk in keinem anderen politischen System über so wenig Macht wie in den „Demokratien“, behauptet der Chefredakteur der Zeitschrift, Dugin.

Dugins Rachefantasien gegen den Liberalismus

Dugin und seine Gesinnungsgenossen wollen sich keineswegs mit dem endgültigen Sieg ihres liberalen Erzfeinds abfinden und rufen zu einem Gegenangriff auf, zu einem Rache­feldzug, um die Schmach der Niederlage aller Gegner des Westens ungeschehen zu machen. Krieg und Gewalt werden von der Zeitschrift ähnlich wie von den Verfechtern der konservativen Revolution in Weimar verklärt. Sie berufen sich auf den „Begriff des Politischen“ von Carl Schmitt, für den die Unterscheidung zwischen Freund und Feind das wesentlichste Kriterium der Politik darstellte.

Auch Dugin und die von ihm herausgegebene Zeitschrift halten diese Unterscheidung für das A und O der Politik. Als Feinde betrachtet die Zeitschrift: „Die neue Weltordnung, die offene Gesell­schaft, die liberale Weltregierung, den globalen Markt, das One-World-Modell und den westlichen Universalismus.“

Eine Versöhnung zwischen den beiden Lagern sei unmöglich, so die Autoren der Elementy: „Zwischen ihnen herrscht nur Feindschaft, Hass, brutalster Kampf nach Regeln und ohne Regeln, der Kampf auf Vernichtung, bis zum letzten Tropfen Blut. Zwischen ihnen liegen Berge von Leichen … Wer von ihnen wird das letzte Wort haben? … Sie oder wir? … Dies wird der Krieg entscheiden, ‚der Vater aller Dinge‘.“

Diese Rachefantasien konkretisierte Dugin in seinem 1997 erschienenen Buch „Die Grundlagen der Geopolitik“. Dort rief er Russland zu einem letzten Gefecht gegen die Sieger des Kalten Kriegs auf. Russlands Revanche habe nur dann eine Chance auf Erfolg, so Dugin, wenn es ihm gelänge, seine frühere Hegemonialposition in Europa und in Asien wiederherzustellen.

Die Restauration der früheren Grenzen des russischen Imperiums stellt für Dugin allerdings, anders als für viele andere imperiale Nostalgiker in Russland, nur die erste Stufe seines strategischen Plans dar. Denn das eigentliche Ziel des wiederhergestellten Imperiums solle der Kampf um die Weltherrschaft, der „Endkampf“ sein.

Er schreibt: „Das neue Imperium soll eurasisch, großkontinental und in weiterer Perspektive – Global (so im Original – L.L.) sein. Der Kampf der Russen um die Weltherrschaft ist noch nicht zu Ende.“

Nicht die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Ost und West, sondern die gänzliche Bezwingung des westlichen Gegners halten Alexander Dugin und seine Gesinnungsgenossen für das einzig akzeptable Ziel – dabei nehmen sie auch eine totale Niederlage des eigenen Lagers in Kauf.

Diese Vorliebe für Endkampfszenarien, für eine Art „Götterdämmerung“, spiegelt den beispiellosen Kulturpessimismus vieler russischer Kritiker des Westens wider – eine für Russland recht untypische Haltung (wenn man von einigen Dichtern und Denkern des „silbernen Zeitalters“ um die Jahrhundertwende absieht).

Ganz anders verhielten sich die Dinge in Deutschland. Hier stellte der Kultur­pessi­mismus seit der Jahrhundertwende, vor allem aber seit dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Reichs, eine äußerst verbreitete Erscheinung dar – dies vor allem im nationalistischen, rechten Lager. Die von Dugin derart bewunderten Denker der konservativen Revolution schwelgten gerade­zu in Weltuntergangsstimmung.

So knüpfen Dugin und seine Mitstreiter mit ihrer beinahe hysterischen Endzeitstim­mung eindeutig an die Weimarer Rechte an. Auch ihre Dämonisierung des Liberalismus mutet wie eine getreue Kopie der Programme der Weimarer Rechtsextremisten an.

Dass die radikal-nationalistischen Kreise in Weimar und im postsowjetischen Russland den Liberalismus mit ähnlicher Intensität und mit ähnlichen Argumenten bekämpften bzw. bekämpfen, hat sicher damit zu tun, dass die beiden Gruppierungen mit dieser Kritik nicht nur den außenpolitischen Rivalen – den Westen – sondern auch den innenpolitischen Gegner treffen wollten bzw. wollen. In beiden Fällen werden die liberalen Gruppierungen als Marionetten des Westens, als Verkörperung des nationalen Verrats betrachtet.

Dugin und Putin

Mit der Regierung Putin verknüpfte Dugin zunächst große Hoffnungen. Das Pochen Putins auf nationale Interessen Russlands, sein Streben nach Stärkung der staatlichen Kontrollmechanismen wurden von Dugin uneingeschränkt begrüßt.

Das verklärte Bild Putins erhielt allerdings nach den Terrorakten vom 11. September 2001 die ersten Risse. Der Beitritt Putin zu der von den USA dominierten Anti-Terror-Allianz hielt Dugin für einen verhängnisvollen Fehler. Nicht der islamische Fundamentalismus, sondern „Eurasien“ mit seinem russischen Kern sei der eigentliche Kontrahent Washingtons bei der Verwirklichung seiner „globalistischen Pläne“, behauptete die von Dugin herausgegebene Zeitschrift Evrazijskoje obozrenije (Eurasische Umschau).

Die USA wurden von Dugin auch nach der Entstehung der Anti-Terror-Allianz weiterhin dämonisiert und als „neues Karthago“ bezeichnet, das zerstört werden müsse (8.11.2001). Russland hingegen wurde von Dugin als ein Ort definiert, an dem das „Neue geopolitische Evangelium“ entstehe, nämlich der „eurasische Gedanke“, der dazu prädestiniert sei, die gesamte Menschheit vom Globalismus zu erlösen (14.12.2001).

Nach den „farbigen Revolutionen“ im postsowjetischen Raum begann allerdings auch Putin den Westen in einer beinahe Duginschen Manier zu dämonisieren und zu beschuldigen, der Westen initiiere diese Revolten mit dem Ziel, den russischen Einfluss im „nahen Ausland“ zu unterminieren.

Der Mythos von der „Ohnmacht des Westens“

Die Dämonisierung des Westens erreichte sowohl bei Dugin als auch bei Putin am Vorabend des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine einen neuen Höhepunkt. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das von Dugin im Jahre 2021 veröffentlichte Buch „Das große Erwachen gegen den großen Reset“ eingehen, das man als eine Art gedankliche Vorwegnahme der „Zeitenwende“ vom 24. Februar 2022 bezeichnen kann.

Der Grundtenor des Buchs unterscheidet sich grundlegend von den Äußerungen Dugins aus den 1990er-Jahren. Damals befanden sich die Verfechter der „offenen“ Gesellschaft auf dem Vormarsch und deren Triumph betrachtete Dugin als eine beispiellose Niederlage der gesamten nichtokzidentalen Menschheit. Gemeinsam mit seinen Gesinnungsgenossen strebte er danach, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, denn das Leben in einer von den liberalen Prinzipien beherrschten Welt betrachtete er als nicht lebenswert.

20 Jahre später schien sich indes das Kräfteverhältnis zwischen den sogenannten „Globalisten“ und ihren Gegnern grundlegend gewandelt zu haben. Nicht zuletzt deshalb hielt Dugin die Zeit für reif, um die liberalen Sieger des Kalten Kriegs endgültig zu bezwingen. Es schwebte ihm eine weltweite „antiglobalistische“ Koalition vor, die aus unerfindlichen Gründen vom Putinschen Russland angeführt werden sollte.

Die von Dugin auf dem Papier konzipierten Koalition sollte China und Indien, den schiitischen Iran und die sunnitische Türkei, die Trumpisten und europäische Rechtspopulisten, aber auch viele afrikanische und lateinamerikanische Länder umfassen, die angeblich unter dem Joch der „Globalisten“ litten. Es bahne sich nun eine „Schlacht der Liberalen gegen die Menschheit an“, so Dugin. Die letzten Kapitel des Buchs, die nach dem Debakel der Nato in Afghanistan im August 2021 geschrieben wurden, strotzen gerade vor Siegeszuversicht.

Dugin schreibt: „Die unipolare Welt bricht vor unseren Augen zusammen. … Amerika ist schwächer als je zuvor. … Biden ist das pure Böse und ein epischer Misserfolg für die USA. … Wir müssen uns auf die Gegenoffensive vorbereiten. Solange die Dinge sind, so wie sie sind, ist dies unsere historische Chance.“

Putin dachte sicherlich ähnlich. Auch er war wohl nach dem Afghanistan-Debakel der Nato vom „Niedergang der globalen Hegemonie der USA“ überzeugt. Man konnte von nun an von einer Art Tandem Dugin-Putin sprechen. Und dieses Tandem scheiterte auf der ganzen Linie.

Biden, den Dugin verächtlich als „senilen Joe“ bezeichnete, entwickelte sich nach dem am 24. Februar erfolgten Überfall Putins auf die Ukraine zu einem unumstrittenen Führer der freien Welt, die, wenn man von einigen Ausnahmen absieht, sich vorbehaltlos mit der angegriffenen Ukraine solidarisierte. Die von Dugin konzipierte weltweite Koalition gegen die „Globalisten“, die angeblich ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit eröffnen sollte, erwies sich hingegen als völliger Flop. Bei der Abstimmung in der Uno-Vollversammlung über die Scheinreferenden in den von Russland besetzten ukrainischen Regionen, die am 12. Oktober 2022 stattfand, haben sich von mehr als 190 UNO-Mitgliedern nur 4 mit Russland solidarisiert.

Wiederholen sich die 1930er-Jahre?

Bereits nach der russischen Annexion der Krim wurde in der damaligen westlichen Publizistik oft die These vertreten, Europa erlebe nun eine Art Neuauflage der Krise, die den Kontinent in den 1930er-Jahren erschüttert hatte. „Es liegt etwas Ähnliches in der Luft“, sagte im Dezember 2016 die amerikanische Historikerin und Publizistin Anne Applebaum in einem Interview mit dem Tagesanzeiger (27.12.2016).

Ähnlich argumentierte auch der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler am 3. Juli 2017 in der FAZ Die wichtigste Analogie zwischen den beiden Epochen bestand für ihn darin, dass die „gegenwärtige Ordnung Europas, ähnlich wie diejenige der Zwischenkriegszeit, eine ‚Ordnung ohne Hüter‘“ sei.

Grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Epochen werden durch dieses Analogiedenken indes zu wenig berücksichtigt. Zum Beispiel die Tatsache, dass die europäischen Demokratien in den 1930er-Jahren eine beispiellose Erosion erlebt hatten, die mit der heutigen Krise der demokratisch verfassten Staaten nicht gleichgesetzt werden kann. Besonders deutlich spiegelte sich diese Erosion in der mangelnden Bereitschaft der führenden westlichen Politiker wider, die rechtsextremen Diktaturen in ihre Schranken zu weisen, was den letzteren erlaubte, ungestraft einen aggressiven Akt nach dem anderen zu begehen. Den Zustand, in dem sich Europa in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre infolge der Appeasementpolitik der Westmächte befand, beschrieb der britische Historiker Lewis B. Namier mit den Worten: „Europe in Decay“.

Den Höhepunkt dieser Politik der Beschwichtigung der Aggressoren stellte bekanntlich das Münchner Abkommen vom September 1938 dar, das Thomas Mann folgendermaßen kommentierte: „Hitler wurde nicht erlaubt, den Faschismus zu ruinieren: ohne ‚Gewalt‘ erhielt er alles, wofür Gewalt anzuwenden sein Untergang gewesen wäre. Unter dem betörten Jubel der vor Glück und Erleichterung weinenden Völker kehrte das Böhmerland heim ins Reich dem es nie gehört hatte. … (Die) demokratische Festung im Osten, die tschechoslowakische Republik (wurde) vernichtet und bewusst zu einem geistig gebrochenen Anhängsel des Nationalsozialismus gemacht, die kontinentale Hegemonie Hitler-Deutschlands besiegelt, Europa in die Sklaverei verkauft.“

Anders als die Tschechoslowakei im Jahre 1938 wurde die am 24. Februar 2022 angegriffene Ukraine durch die Staaten der freien Welt nicht im Stich gelassen. Dies allein zeigt, wie grundlegend sich die heutige politische Konstellation von derjenigen der 1930er-Jahre unterscheidet.

Dieser Beitrag ist ursprünglich im Debattenmagazin Die Kolumnisten erschienen.

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