Wird der Westen kriegsmüde?
Nach 31 Jahren Unabhängigkeit: Ukraine fürchtet nachlassende Solidarität des Westens, Putin hofft darauf
So wie alle US-Amerikaner genau wissen, wo sie am Morgen des 11. September 2001 waren, so hat sich der frühe Morgen des 24. Februar 2022 in das kollektive Gedächtnis der Ukrainer eingebrannt. Der Schock jenes Tages, als russische Panzer von der Krim, aus dem Donbass und aus Belarus gen Kiew rollten, als Raketen in zahlreichen Städten einschlugen, als Präsident Wolodymyr Selensky das Kriegsrecht ausrief, sitzt tief. Aus Ungläubigkeit über den Angriffskrieg des großen Nachbarn, mit dem die Ukraine eine jahrhundertelange Geschichte verbindet, wurden über Nacht Verzweiflung und Hass.
Fast auf den Tag genau sechs Monate ist das nun her, und nicht nur für die Ukrainer hat sich eine „Zeitenwende“ ereignet. Der Krieg hat die labile Statik der westlichen Sicherheitsarchitektur verändert, hat Schwachstellen und Abhängigkeiten im globalen Handel und in der Energiepolitik bloßgelegt, hat den Hunger auf der Welt verstärkt und Russland in Teilen der Welt politisch isoliert.
Für die Ukrainer aber geht es, ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn, mehr denn je um: alles. Seit 1991 begeht das Land am 24. August seinen Unabhängigkeitstag; damals hatte das Parlament fast einstimmig den Austritt der Sowjetrepublik aus der UdSSR erklärt, eine Volksabstimmung endete später mit 92 Prozent Zustimmung.
Gewöhnlich wird das auf dem zentralen Platz der Unabhängigkeit, dem Maidan Nesaleschnosti in Kiew, mit einer großen Parade gefeiert. In diesem Jahr allerdings befürchtet die ukrainische Regierung am kommenden Mittwoch einen besonders starken Beschuss durch die russische Artillerie; Wladimir Putin, heißt es, werde beweisen wollen, dass mit dem 24. Februar das Ende der ukrainischen Nation eingeläutet wurde, die es nach Lesart des Kreml nie gab. Und dass es am 24. August künftig nichts mehr zu feiern geben werde.
Bisher jedoch ist wenig in diesem Angriffskrieg so gelaufen, wie es Putin gehofft oder befohlen hatte. Der geplante Blitzkrieg hätte, wenn es nach der russischen Propaganda gegangen wäre, drei Tage dauern sollen. Stattdessen musste sich Putins Armee nicht nur aus besetzten Gebieten im Nordwesten zurückziehen und die Einnahme der Hauptstadt aufgeben.
Sie verkämpft sich vielmehr, für viele Sicherheitsexperten unerwartet, in einem Stellungs- und Abnutzungskrieg, in dem zuletzt kaum noch Geländegewinne verzeichnet wurden. Mittlerweile rekrutiert der Kreml in Gefängnissen und bei privaten Söldnertruppen, Schätzungen zu den Zahlen der Gefallenen und Verwundeten auf russischer Seite reichen bis hin zu 80 000 Soldaten.
Auch andere scheinbare Gewissheiten sind ins Wanken geraten: Die Ukraine bekam, acht Jahre nach dem Maidan-Aufstand, den Status als EU-Beitrittskandidat zuerkannt. Moskau, lange als verlässlicher Gaslieferant eingeschätzt, setzt Energie als Waffe ein. Die notorisch entscheidungsunfähige EU hat sich, zumindest zu Kriegsbeginn, überraschend einig erwiesen; mittlerweile sieben Sanktionsrunden sind ein Beleg dafür. Die totgesagte Nato dürfte demnächst Finnland und Schweden als neue Mitglieder bekommen.
Die Solidarität bröckelt
Aber jede Bestandsaufnahme im Krieg ist Stückwerk. Denn die politische Entschlossenheit, sich gemeinsam gegen die imperialen Ambitionen des Kreml zu stellen, bröckelt, parallel zur Solidarität in der Gesellschaft, mit jedem Tag mehr, mit dem die Angst vor hohen Heizkosten und wachsender Inflation weiter steigt. Rechtsextreme Gruppen mobilisieren bereits für den „Wutwinter“.
Laut Verfassungsschutz dürfte der Kreml versuchen, mit der „gezielten Verbreitung von Falschinformationen“ die Angst vor einer existenzbedrohenden Krise in Deutschland zu schüren. Seit Juli sind zudem laut dem Ukraine Support Tracker des Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) kaum noch neue Waffenlieferungen und andere Hilfsleistungen in der Ukraine eingetroffen.
Zugleich erweist sich die politische Isolation Russlands als Wunschdenken der EU; gerade mal 40 Staaten weltweit haben sich den Sanktionen angeschlossen, das Handelsvolumen zwischen Indien und Russland etwa hat sich seit Kriegsbeginn verfünffacht. Wladimir Putin hat, den indonesischen Gastgebern zufolge, jetzt auch angekündigt, Mitte November persönlich zum G-20-Gipfel nach Bali zu reisen.
Der ukrainische Präsident erinnert daher mittlerweile täglich daran, dass nur weitere Waffenlieferungen die russischen Truppen aufhalten könnten. Fast verzweifelt warnt er davor, dass Kriegsmüdigkeit und Gewöhnung die Oberhand bei den westlichen Partnern gewinnen. „Wir können und dürfen nur an den Sieg denken: auf dem Schlachtfeld, an der politischen Front, im Informationskrieg, im Kampf gegen den ökonomischen Niedergang. Wir müssen an uns glauben.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 20.8.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München