Wieso sind russische Soldaten so brutal?

Viele junge Männer kommen aus einer Gesellschaft, in der Gewalt die Norm ist

Russische Soldaten
Irina Rastorgujewa: "Sie kommen aus einer Gesellschaft, in der Gewalt die Norm ist und wo Empathie fast körperlichen Schmerz verursacht. Wo man wenn kein Vergewaltiger dann Opfer ist."

Die Welt ist erschüttert über die Brutalität der russischen Soldaten, sie fragt sich: Woher kommt so viel Tierisches im Menschen, so viel Wut, so viel Hass? Wer sind diese Soldaten, die wir kaum sehen, von denen wir jedoch ausführlich lesen. Sie kamen nicht aus Moskau, aus Sankt Petersburg oder Nowosibirsk in die Ukraine – sie kamen überwiegend aus depravierten Regionen im Fernen Osten oder Zentralrussland. Aus Gegenden, die, vorsichtig gesagt, wenig einladend sind.

Ich kann mir das Leben dieser Soldaten, bevor sie in die Ukraine kamen, gut vorstellen. Ich habe 33 Jahre lang auf der Insel Sachalin gelebt, von wo auch Wehrpflichtige in die Ukraine geschickt wurden. Gewalt war als Kommunikationsform in den Neunzigerjahren weit verbreitet. Die Gesellschaft war plötzlich verarmt, über Nacht in Schichten zerfallen, die nur der Besitz, unter anderem der von Arbeit, unterschied, der normale Alltagsneid wurde abgelöst vom Sozialneid.

Als meine Eltern ihr erstes japanisches Auto kauften – zuvor musste jeder die sowjetische Autoindustrie unterstützen –, wurde es vor unserem Haus verbrannt. Nur damit wir nicht anfingen, gut zu leben.

Die Gewalt veränderte die Sprache der Kommunikation, der Medien. Das Vokabular der Obszönitäten schwappte von der Gosse in die Zeitungsspalten. Fernsehen und Radio waren voll von Gewalt. Sie wurde zur Gewohnheit, zur Norm.

Ein Teil der Inselbevölkerung brachte sich gegenseitig um, teilte die Einflusssphären in dem neu entstandenen „Business“ auf, denn auf Sachalin gibt es viel aufzuteilen: Kohle, Gas, Öl, Fisch. Andere brachten einander um, weil sie seit Jahren keinen Lohn mehr bekommen hatten, manche töteten sich zum Spaß, aus Liebe zur Gewalt. Die Industrie auf der Insel brach zusammen, die Menschen tranken. Sie tranken auf jeden Fall mehr, als sie zu essen hatten.

Alle tranken Wodka, und Drogen waren eine nette Beschäftigung für Kinder nach der Schule. Als ich dreizehn war, bekam ich eine Streichholzschachtel Chimka (Haschisch und Cannabis, vermischt mit Aceton), die wir mit den Freunden meines älteren Bruders rauchten.

Alltäglich: Der gewaltsame Tod

Ein Typ, der nach der Armee bei der Miliz arbeitete, kam uns ab und zu besuchen, immer in einer kugelsicheren Weste mit einer Kalaschnikow und einer Makarow. Eines Tages richtete er scherzhaft eine Waffe auf mich, mein Bruder schlug ihm auf den Arm, die Waffe ging los. Neben dem Wohnzimmerfenster war ein Loch im Boden, fünf Zentimeter von meinem Fuß entfernt. Alle waren besorgt, dass er einen Bericht über die Patrone aufsetzen müsse, niemand kümmerte sich um den Boden. Wir stellten den Fernsehtisch um, und das Loch war nicht mehr zu sehen.

Ich war sechzehn, der Herbst war noch warm, ich kam von der Schule nach Hause. Bluse, Rock, Schuhe, Rucksack. Vor der Tür stand eine Gruppe Männer, fünf oder sechs, sie tranken Bier. Alle waren um die zwanzig Jahre alt. Einer von ihnen wohnte in einem Haus in der Nähe, hatte eine Frau und zwei kleine Kinder. Wenn ich ins Haus wollte, musste ich durch die Gruppe durch. Sie ließen mich nicht durch, pfiffen, riefen, sagten etwas. Ihre Hände waren überall: unter meinem Rock, unter meiner Bluse . . . Die Gruppe hatte sich um mich geschlossen. Zurücklaufen war unmöglich, irgendwie drängte ich mich durch und rannte in den dritten Stock, Schritte und Stimmen hinter mir.

Es gelang mir, die Tür auf- und wieder zuzuschließen. Ich weiß nicht warum, ich ging zum Klavier und spielte lange Zeit etwas Unzusammenhängendes. Dieses Mal endete es gut. Oft endete es schlecht.

Ich habe mich lange Zeit um ein Mädchen aus einem Internat gekümmert, das von seinem Vater vergewaltigt worden war. Dem Mädchen wurde wegen der inneren Verletzungen mit acht Jahren die Gebärmutter entfernt. Viele Kinder in Waisenhäusern und Internaten hatten solche Erfahrungen gemacht. Ich kann mich nicht erinnern, dass Psychologen oder Sonderpädagogen mit ihnen gearbeitet hätten.

Der gewaltsame Tod war alltäglich. Ich sah zufällig aus dem Fenster, als ein junger Mann aus dem vierten Stock fiel. Als ich nach draußen ging, lag er immer noch unter dem Fenster, sein Hals war seltsam verdreht, um seinen Kopf entstand eine Pfütze.

Die Nachbarin, die über uns wohnte, wurde von ihrem Mann ständig verprügelt. Die Polizei kam nie, wenn wir sie riefen. Einmal stach er mit einem Messer auf sie ein, sie rannte im blutigen Nachthemd die Treppe hinunter, bis sie zusammenbrach. Der Krankenwagen kam zu spät. Sie verblutete.

Und wir sprachen darüber, dass wir morgen sehr früh aufstehen müssten und wieder nicht genug Schlaf bekämen. Es war Routine. Keine Angst, keine Neugier, keine Sorge, nur ein ungefähres Mitleid und viel Hilflosigkeit.

Krieg: Die Chance auf Verdienst

Tod, Gewalt und Hilflosigkeit begleiteten uns ständig. In solch einer Situation kämpfen Menschen für sich und ihre Kinder – nicht für den Staat, sondern mit dem Staat, mit der Polizei, dem medizinischen Dienst, den Lehrern, den betrunkenen Nachbarn, den Banditen.

Es ist unmöglich, Regionen wie die im Fernen Osten zu verlassen. Um von dort wegzugehen, braucht man Geld, und das lässt sich nirgendwo verdienen; auch zu bleiben ist unmöglich, denn es gibt keine Arbeit. Da kann in den Krieg zu ziehen als der beste Ausweg erscheinen, der Krieg bietet ja die Chance, etwas zu verdienen. Und viele wussten schon vor dem Krieg, wie man raubt, tötet, vergewaltigt. Es gab nichts anderes zu lernen.

Dieser Albtraum, den ich kennenlernte, nahm kein Ende. Ständig wurden die Fenster in unserem Treppenhaus zerbrochen, die Geländer herausgerissen. Oft wurde in der Nacht an unsere Tür geschlagen. Es war eine robuste Metalltür, vielleicht war sie deshalb so beliebt.

Damals hatte ich schon Kinder. Sie hatten Angst vor der Dunkelheit und vor lauten Geräuschen. Wir schliefen immer mit Licht und leichter Musik. Morgens war die Treppe oft mit Glasscherben übersät und blutbeschmiert. Vielleicht ist es jetzt immer noch so.

Und es wird auch in einem Jahr noch so sein und in zehn Jahren, falls nicht zufällig eine Regierung auftaucht, die sich um die sozioökonomischen Probleme kümmert und sie am Ende auch irgendwie löst. Nur woher soll eine solche Regierung kommen, wie gewählt werden?

Wenn die Leute davon reden, die russische Kultur habe Bastarde hervorgebracht, die Kinder und Frauen töten und vergewaltigen, die brandschatzen, stehlen und foltern, dann weiß ich nicht, ob das Kultur war. Ist es möglich, die Hölle aus irgendeiner Kultur zu züchten? Können wir „Kultur“ nennen, was die Gewalt dieses Krieges in der Ukraine hervorgebracht hat?

Nicht unwahrscheinlich, dass meine Nachbarn vor einer betrunkenen Schlägerei Dostojewski gelesen haben und sich dann mit dem Schrei: „Bin ich ein zitterndes Geschöpf oder habe ich das Recht“ mit herausgebrochenen Geländerstangen aufeinandergestürzt haben. Doch ich bezweifle, dass sie etwas anderes als Graffiti an den Wänden gelesen haben.

Der Mensch braucht Trost in der Hölle

Ich hatte das große Glück, dass wir zu Hause eine gute Bibliothek besaßen. Sie war mein größter Trost. Das Schönste, was ich dort sah, waren die Reproduktionen von Gustave Dorés Radierungen zu Dantes „Göttlicher Komödie“. Sie waren auf der Titelseite der Lokalzeitung abgedruckt. Ich schnitt sie aus und sammelte sie in einem Notizbuch. Außerdem gab es eine aus einer Zeitschrift ausgeschnittene Kopie von Wassili Wereschtschagins Schädelpyramide „Apotheose des Krieges“ und die Zeichnung einer Zellstruktur aus einem Biologiebuch. Heute erscheint mir das alles symbolisch. Ein Mensch braucht etwas, womit er sich in der Hölle trösten kann.

Als ich sieben Jahre alt war, bat ich darum, getauft zu werden. Als ich elf war, zerriss ich das Gebetbuch, weil Gott keins meiner Gebete erhört hatte. Gewalt als Grundlage der Gesellschaft. Körperliche, sexuelle, kommunikative. Gewalt der Großen gegen die Kleinen, der Starken gegen die Schwachen. Nachts hörte ich Kinder und Frauen schreien, ich hörte dumpfe Schläge, fallende Möbel, brechendes Glas.

Woher kommen Russlands Soldaten, die in der Ukraine Gräueltaten begehen? Sie kommen aus einer Gesellschaft, in der Gewalt die Norm ist und wo Empathie fast körperlichen Schmerz verursacht. Wo man wenn kein Vergewaltiger dann Opfer ist. Diese Gewalt kommt aus dem Elend, dem Neid und Hass, aus dem Zusammenbruch der Industrie und der Wirtschaft, aus dem Fehlen sozialer Institutionen und funktionierender Demokratie. Aus einer Zeit des Anfangs, der kein Neubeginn war, sondern aus dem verwesten Staatskörper der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ das Kapital der Freiheit und das Kapital der Korruption schlug, ohne beides voneinander zu trennen.

Die Gewalt kommt aus einer Zeit, in der man Babys auf dem Schwarzmarkt billig kaufen konnte, in der alkoholkranke Mütter ein Neugeborenes für eine Flasche Wodka an Bettler verkauften. Diese Babys starben schnell, aber es war einfach, ein neues zu kaufen.

Die Miliz von damals wusste das und bekam ihren Teil am Geschäft. Heute hat das alles natürlich ein anderes Ausmaß angenommen, die Bettler mit den Babys sind verschwunden. Banditen gingen zur Polizei, Polizisten wurden zu Banditen, und sie alle wurden Geschäftsleute, Politiker und Abgeordnete.

Wenn wir uns erinnern, was den Demonstranten in Belarus im Jahr 2020 und in Russland in den letzten fünfzehn Jahren angetan wurde, gibt es keine Fragen mehr zur Brutalität. Frauen und Männer wurden nicht nur gefoltert, sie wurden auf Polizeistationen, in Gefangenentransportern und Gefängnissen vergewaltigt. Und niemand wurde dafür bestraft.

Die dünne Schicht der Denkenden wächst

Eine Gesellschaft, die durch die sowjetischen Selektionsprozesse verstümmelt und in den Neunzigern an den Rand gedrängt wurde, findet sich im riesigen schwarzen Loch von Putins heutigem Russland wieder, wo die Simulation von allem – Demokratie, Gesetzen, Verwaltung, Wirtschaft, sozialen Einrichtungen und dem Staat selbst – zum Prinzip der Verwaltung geworden ist. Manchmal scheint es, als habe sich eine dünne Schicht von Denkern, Analytikern und Aktivisten gebildet durch reine Nachlässigkeit der Behörden und einen peinlichen Zufall, trotz aller widrigen Umstände.

Nicht alle fingen an, zu trinken, zu schlagen, zu metzeln, einige begannen, zuvor verbotene Literatur zu lesen, die Vergangenheit zu überdenken und sogar über die Zukunft nachzudenken. Kein Wunder, dass die russische Regierung den Neunzigerjahren, als das Land dem Westen wehrlos in die Hände fiel, die Schuld an der überzogenen Freiheit gibt.

Aber alle Fehler wurden abgerechnet, die Freiheit wurde endgültig unterdrückt, die denkenden Menschen aus dem Land vertrieben, in Gefängnissen isoliert, eingeschüchtert. Manche versuchen noch, den Mund aufzumachen, aber das wird die Menge ihnen nicht verzeihen.

Vor Kurzem haben die Behörden einen Bot eingerichtet, um Denunziationen entgegenzunehmen. Jeder kann den Vor- und Nachnamen einer Person melden, sie beschuldigen, die russische Armee verunglimpft zu haben, und einen Screenshot als Beweis anhängen. Alle Informationen werden direkt an die nationale Aufsichtsbehörde Roskomnadsor weitergeleitet.

Nun hat sich diese Initiative bemerkenswerterweise gegen die Behörden selbst gerichtet. Viele „Denunzianten“ schickten von gefälschten Adressen aus Pelmeni-Rezepte, Urlaubsfotos, Videos mit Kätzchen und Sauriern und eine ganze Flut politischer Memes. Das überforderte den Behörden-Bot und machte ihn fast unbrauchbar.

So viel zur Hoffnung, die, bevor sie stirbt, die Form der Satire annimmt. Aber ist es möglich, sauber aus der Scheiße rauszukommen? Ist es möglich, die Nation von der Scheiße und vom Blut reinzuwaschen? Und nach wie vielen Generationen werden die Gewaschenen nicht mehr stinken?

Der Diktator klammert sich an die Macht

Fairerweise muss man sagen, dass die Schicht derer, die denken und analysieren, allmählich wächst. Sie wächst trotz der Bemühungen der Behörden und der weitgehend demoralisierten Massen. Diese Menschen sind es, die den Augiasstall ausmisten. Und jetzt stellt sich die Frage, werden sie die Kraft haben, dies ohne Gewalt zu tun – wird es überhaupt möglich sein, es ohne Gewalt zu tun?

Das Bild eines zusammengekauerten Putins, der sich an seinen Schreibtisch klammert, während er mit dem für die Kreuzzüge seiner Föderation zuständigen Minister spricht, steht für einen Diktators, der über das Ende hinaus an der Macht hängt. Doch was wird mit Russland passieren, wenn jemand den Thron unter Putin umstößt?

Denn er wird mit Sicherheit umgestoßen werden. Das ist, was in jeder Gesellschaft passiert, die auf Gewalt gebaut ist: Die Schwachen werden geschlagen und die Sprachlosen niedergetrampelt.

Die Autorin, geboren in Juschno-Sachalinsk, lebt in Berlin. Bei Matthes & Seitz erscheint demnächst ihr Buch „Das Russlandsimulakrum“. Dieser Beitrag ist auch in der FAZ erschienen. Wir danken der Autorin für die Erlaubnis, ihren Text auch auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.

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