USA und Nato für Krieg verantwortlich?

Umfragen bestätigen: Noch immer unterstützt die Mehrheit der Russen den Krieg in der Ukraine

von Andrei Kolesnikow und Denis Wolkow
"Derzeit gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass Putins Regime in echter Gefahr ist." Befürworter des Kriegs in der Ukraine bei der Demonstration am 9. Mai 2022 in Moskau.

Der Westen und der Kreml haben eines gemeinsam: Beide verweisen gern darauf, dass die Zustimmungsrate für den russischen Präsidenten Wladimir Putin bei 80 Prozent liege und die Meinungsumfragen konsequent gezeigt hätten, dass eine Mehrheit der Russen den Krieg in der Ukraine unterstützt. Was einst sorgsam als „Putins Krieg“ bezeichnet wurde, ist inzwischen zumindest dem Anschein nach zu „Russlands Krieg“ geworden. Tatsächlich jedoch zeichnen die Meinungsumfragen und Fokusgruppen des unabhängigen Lewada-Zentrum ein Bild, das nuancierter ist, als die Gesamtzahlen suggerieren.

Zunächst einmal wird die sogenannte militärische Spezialoperation des Kremls in der Ukraine von den Russen nicht unbedingt vorbehaltlos befürwortet. Im August gaben weniger als die Hälfte der Umfrageteilnehmer (46 Prozent) an, dass sie die russischen Militäraktivitäten „eindeutig unterstützen“, während 30 Prozent sagten, dass sie sie „überwiegend unterstützen“ (wobei sich diese Zahlen seit April kaum verändert haben).

Verteidigungskrieg gegen die Nato

Was letztere Gruppe angeht, so beruht deren Unterstützung für den Krieg vermutlich weniger auf Überzeugung als auf Konformismus. Einige Teilnehmer etwa gaben an, sie wüssten nicht genau, was vor sich gehe, und sagten, dass die Regierung es am besten wüsste. Die Angehörigen dieser Gruppe mögen gewisse Zweifel hegen – sie neigen stärker dazu, Furcht und Sorge über den Konflikt zu äußern, und weniger dazu, ihren Stolz zum Ausdruck zu bringen –, doch der Wunsch überwiegt, ihre psychologische und intellektuelle Komfortzone nicht zu verlassen.

Diese Komfortzone beruht weitgehend auf der Vorstellung, dass dies im Grunde ein Verteidigungskrieg sei. Erstens sind die meisten Russen überzeugt, dass die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine – insbesondere in der östlichen Donbass-Region – angegriffen wurde. Tatsächlich betonten die meisten derjenigen, die ihre Unterstützung für den Krieg äußern, die Notwendigkeit, diese Gruppe zu schützen. Für sie rechtfertigt diese Notwendigkeit Handlungen, die andernfalls undenkbar erscheinen könnten.

Zweitens glauben die Russen – insbesondere die älteren Russen – weitgehend, dass ihr Land gegen jene, die seine Vernichtung anstrebten, „zurückschlagen“ musste. Im Februar 2022 – unmittelbar vor Russlands jüngster Invasion – äußerten 60 Prozent der Umfrageteilnehmer, dass die USA und die Nato am Konflikt im Donbass schuld seien, wo seit 2014 ein Krieg wütet. Das waren zehn Prozentpunkte mehr als im vorangegangenen November.

Kriegsgegner unter jungen Städtern

So verbreitet diese Ansichten auch sind: Der Ukraine-Krieg hat in Russland auch eine Menge Gegner. Etwa 17 bis 20 Prozent der Russen sagen derzeit, dass sie mit den Aktionen ihres Landes in der Ukraine nicht einverstanden sind. Im März waren es noch 14 Prozent. Dominiert wird diese Gruppe von jungen Städtern, die ihre Nachrichten aus dem Internet statt aus dem staatlich kontrollierten Fernsehen beziehen; allerdings unterstützt unter denen, auf die diese Beschreibung zutrifft, trotzdem eine Mehrheit die „Spezialoperation“.

Die einzige Kategorie von Leuten, die mehrheitlich gegen den Krieg war, umfasst jene, die von Putin, der russischen Regierung und der Staatsduma im Allgemeinen eine schlechte Meinung haben. Diese Menschen stimmten 2020 gegen die Änderungen an der russischen Verfassung (die Putin in die Lage versetzten, die Amtszeitbegrenzungen zu ändern und seine Herrschaft bis 2036 zu verlängern), unterstützten schon früher Oppositionsvertreter und waren Anfang vorigen Jahrs bei Anti-Putin-Protesten dabei. Diese Gruppe neigt zudem eher zu positiven Ansichten über den Westen.

Doch sind jene Russen mit einer langen Geschichte des Widerspruchs nicht allein; mehr Russen lehnen heute die Kämpfe in der Ukraine ab als nach dem ersten Ausbruch der Gewalt 2014. Damals äußerten lediglich 10 Pozent ihre Ablehnung der Annexion der Krim – halb so viele, wie heute den Krieg in der Ukraine ablehnen –, und nur 11 bis 12 Prozent der Menschen sagten vor acht Jahren, dass sie mit Putin unzufrieden seien. Heute sind es 15 bis 16 Prozent.

Anti-Kriegs-Proteste unwahrscheinlicher

Doch obwohl die Reihen der Russen, die den Krieg ablehnen, gewachsen sind, hat die Wahrscheinlichkeit von Anti-Kriegs-Protesten steil abgenommen. Es ist unschwer zu verstehen, warum. An nicht genehmigten Protesten teilzunehmen kann inzwischen mit happigen Geldstrafen und im Wiederholungsfall mit Gefängnis bestraft werden.

Darüber hinaus droht den Russen eine Anklage, wenn sie „andere zur Teilnahme an nicht genehmigten Protesten“ animieren oder „die russischen Streitkräfte in Misskredit bringen“. Und das während der COVID-19-Pandemie eingeführte landesweite Verbot von Massenveranstaltungen ist noch immer nicht aufgehoben.

Der Wille zur Rebellion wird zudem durch eine simple Desensibilisierung weiter verringert. „Die Menschen haben sich an das, was derzeit passiert, gewöhnt und schenken ihm schlicht keine Aufmerksamkeit mehr“, erklärte ein Umfrageteilnehmer. Solange es keine Mobilmachung gibt und die unzufriedensten Russen in der Lage sind, das Land zu verlassen, setzt sich ein Gefühl der Normalität durch.

Natürlich gibt es nicht zu ignorierende Herausforderungen, wie etwa die höheren Preise und den Verlust von Ersparnissen. Doch ähnlich wie die Pandemie wird der Konflikt als Sturm betrachtet, den man schlicht vorüberziehen lassen muss. Während die meisten Russen hoffen, dass er bald enden wird – selbst unter den Kriegsbefürwortern hätten es viele gern, dass Russland einfach seinen Sieg erklärt und Friedensbedingungen zustimmt –, bereiten sie sich darauf vor, dass der Konflikt und die Konfrontation mit dem Westen noch lange anhalten.

Putins Regime nicht in Gefahr

Jedoch scheinen die Russen trotz allem bereit, anzunehmen, dass sich die Lage irgendwann wieder normalisieren wird. „Ich glaube, alles wird sich bald lösen“, so ein Teilnehmer. „Es wird sich auf die eine oder andere Art regeln“, so ein anderer.

Derzeit gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass Putins Regime in echter Gefahr ist. Die Russen geben weitgehend den USA, Europa und der Nato die Schuld für ihre gegenwärtigen Probleme – ein Eindruck, der durch die Sanktionen alles andere als ausgeräumt wurde. Darüber hinaus wurden sowohl die politische Opposition als auch die Zivilgesellschaft vernichtet, und die Drohung mit Repressalien wiegt schwer.

Putin ist zudem bereit, jene Ultranationalisten zu unterdrücken, die ihn für zu weich halten. Imperialismus und Krieg sind seine Nische, und die wird er niemand anderem überlassen.

Die Frage ist, ob eine weitere Verschlechterung der sozioökonomischen Lage die Russen dazu bringen könnte, sich gegen Putin zu wenden. Schließlich wurden regierungsfeindliche Proteste in Russland schon häufig durch unerwartete Entwicklungen an unerwarteten Orten ausgelöst.

Und schon bald ist in Russland wieder Präsidentschaftswahlkampf, was es erfordern wird, dass Putin den Russen eine überzeugende neue Vision präsentiert. Der Krieg in der Ukraine allein reicht nicht aus. Diese Kugel wurde bereits abgefeuert – und irrt noch immer als Querschläger umher.

Andrei Kolesnikow ist Senior Fellow des Carnegie Endowment for International Peace. Denis Wolkow ist Direktor des Lewada-Zentrums.

Aus dem Englischen von Jan Doolan. Copyright: Project Syndicate 2022.

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