Wenn die Pflicht ruft

Warum vor allem in der russischen Provinz so viele Männer in den Krieg gegen die Ukraine ziehen

von Igor Saweljew
Ausbildung für die Pflicht: Russische Rekruten Okt 2022 Donezk
"Was sein muss, muss sein." Ausbildung von Rekruten in der Region Donezk im Oktober 2022

Seit Russlands Präsident Putin die Mobilisierung verkündet hat, ist das Alltagsleben bei uns schizophren geworden. Einerseits haben alle Angst, dass ein Angehöriger an die Front geschickt werden könnte. In Telefongesprächen, in der Metro, in Geschäften hört man Dialogfetzen wie „Er ist über vierzig“ oder „Er kam gerade aus der Armee zurück, die Mutter liegt nachts wach“.

Es ist klar, worum es geht. Vor meinem Haus beobachtete ich heute, wie ein älteres Paar seinen erwachsenen Sohn mit einem großen Rucksack in ein Taxi setzten, das ihn wegbrachte.

Öffentlich hingegen spricht man von der Mobilisierung eher optimistisch, und zwar nicht nur, wenn Propagandamedien zeigen, wie Einberufene verabschiedet werden. Auch die Mobilisierten selbst signalisieren mit Redewendungen wie „Was sein muss, muss sein“ oder „Das ist Pflicht“ Schicksalsergebenheit.

Derzeit zieht in Russland die dritte „Generation“ von Soldaten an die Front. Die erste, die am 24. Februar die Ukraine überfiel, bestand vor allem aus Berufs- beziehungsweise Vertragssoldaten, also solchen, die nach dem Wehrpflichtdienst in der Armee geblieben waren. Das waren vor allem Leute aus der Provinz, wo es kaum gut bezahlte Arbeit gibt. Vielfach verpflichteten sich auch Wehrdienstleistende unter dem Druck ihrer Befehlshaber.

Viele Zeitsoldaten verweigerten den Dienst

Allerdings fanden sich unter den Gefallenen sogleich auch achtzehn-, neunzehnjährige Rekruten. Offiziell ist der Einsatz von Wehrdienstleistenden bei einer solchen Operation verboten. Als sich im Frühjahr solche Fälle häuften, äußerte Putin sich, man versuchte, die Dinge zu vertuschen. Viele Wehrdienstleistende hatten wenige Tage vor ihrem Tod einen Zeitvertrag unterschrieben. Einige aber auch nicht.

Zum Beispiel der achtzehn Jahre alte Denis Jaroslawzew aus meiner Heimat Baschkirien, der im April in der Ukraine umkam, vier Monate nachdem er eingezogen worden war. Die Staatsanwaltschaft fand nichts, was darauf hindeutete, dass Jaroslawzew einen Vertrag unterzeichnet hatte. Ihrem Rat an die Eltern, gegen die Armee vor Gericht zu ziehen, dürften diese freilich kaum gefolgt sein.

Im Sommer weigerten sich immer mehr Vertragssoldaten, in der Ukraine zu kämpfen, einige kündigten ihre Verträge. Mit der Mobilisierung zielte Putin auch darauf ab, den Militärs das zu verbieten. Während der Mobilisierung dürfen Soldaten weder kündigen noch einen Kampfeinsatz verweigern. Flankierend wurden die Gefängnisstrafen für Deserteure und solche heraufgesetzt, die sich freiwillig in Gefangenschaft begeben.

Schuldentilgung bei Tod

Die zweite „Generation“ der Ukrainekrieger sind die Freiwilligenverbände, die zum Sommer mit großem propagandistischem Aufwand gebildet wurden. Reklametafeln priesen die hohen Bezüge für sie und ihre Familien an, in Betrieben wurden Werbezettel verteilt, die Einberufungsbüros telefonierten potenziellen Freiwilligen (mit Armeeausbildung) hinterher.

Unter diesen um die dreißig, vierzig, manchmal auch fünfzig Jahre alten Kämpfern sind viele Tschetschenien- oder gar Afghani­stan-Veteranen, die mit ihrem zivilen Leben unzufrieden waren. Erst unlängst starben zwei mehr als fünfzig Jahre alte Baschkiren. Inzwischen scheint dieses Reservoir aber erschöpft.

Die jetzt Mobilisierten sind die dritte Generation. Dass die Propaganda von einer „teilweisen“ Mobilisierung spricht, verschleiert, dass sie durch Gesetze nicht beschränkt ist. Auch die angekündigte Reihenfolge, wonach zunächst Leute mit Kriegserfahrungen unter 35 mobilisiert werden sollen, wird nicht eingehalten. Es wurden auch Ältere einberufen, die nie in der Armee gedient haben. Da die Verabschiedung der Soldatenbusse in der Regel gefilmt wird, versuchen viele Einberufene, ihr Gesicht zu wahren, und reden von staatsbürgerlicher Pflicht.

Die Machthaber ködern Freiwillige mit dem Versprechen eines Kreditaufschubs. Neue Gesetzesregelungen sehen vor, dass ein Soldat (und seine Familie) während des Kriegseinsatzes Kredite nicht bedienen muss und dass diese im Fall seines Todes getilgt werden. Für Verschuldete ist das ein wichtiger Anreiz.

Angst vor Bußgeld oder Strafverfahren

Wichtig ist ferner die Angst vor Strafverfolgung, die durch Putins Erlasse über längere Haftstrafen für Deserteure verstärkt wurde. Ein Großteil meiner Landsleute begreift nicht, dass auf die Weigerung, den Einberufungsbescheid entgegenzunehmen, eine geringe Geldstrafe steht (die freilich verschärft werden könnte). Viele schreckt ein Bußgeld oder ein Strafverfahren mehr als die Aussicht, an die Front geschickt zu werden.

Erst heute wurde ich in einem Laden Zeuge, wie eine ältere Frau gegenüber einer Verkäuferin klagte, ihr Sohn oder der Enkel könne eingezogen werden. Doch dann sagte sie, wie um sich selbst zu überzeugen: „Aber er kann nicht sein ganzes Leben weglaufen, dafür kriegt man jetzt zehn Jahre!“

Warum „sein ganzes Leben“, warum „zehn Jahre“? Juristen, die gegen den Krieg sind, schreiben sich die Finger wund, um die Leute über ihre legalen Möglichkeiten aufzuklären, sich dem Frontdienst zu entziehen. Doch die wiederholen die Phrasen aus dem Fernsehen.

Soldaten müssen Ausrüstung mitbringen

Die Freiwilligen versprochenen zweieinhalb bis dreitausend Euro monatlich sind für junge Männer aus depressiven Regionen eine astronomische Summe und zudem die einzige Möglichkeit, kurzfristig Geld zu verdienen (obwohl es bei der Auszahlung immer wieder Probleme gibt). Freilich wird die Verdienstmöglichkeit oft zur Farce, wenn sich herausstellt, dass die Soldaten ihre Ausrüstung – die Uniform, Stiefel, Rucksack, Erste-Hilfe-Set, blutstillende Verbände – selbst besorgen müssen. Die Einberufungsstellen verteilen entsprechende Listen.

In einem Dorf soll die Familie eines Einberufenen ihre einzige Kuh verkauft haben. Man denkt an den alten Witz über Russen, die zur Hinrichtung geführt werden, vorher aber noch das Beil für den Henker kaufen müssen.

Der jahrzehntelange Kult des Sieges im Zweiten Weltkrieg hat aber auch dazu geführt, dass es jenseits des Kreises der erklärten Kriegsgegner als unanständig gilt, sich der Mobilisierung zu entziehen. Auch wenn die meisten nicht wollen, dass sie oder ihre Kinder eingezogen werden, finden sie es doch schändlich, wegzulaufen, wenn es dazu kommt. Dorfgemeinschaften üben oft Druck auf Fahnenflüchtige aus.

Bezeichnend ist die Geschichte eines Mannes namens Ildar, der in Kasan lebte, als an seine Meldeadresse in seinem Heimatdorf der Einberufungsbescheid kam. Seine Verwandten bedrängten ihn daraufhin so lange, er sei ein Feigling und der Einzige im Dorf, der sich der Mobilisierung entziehe, bis er an die Front zog.

In der russischen Gesellschaft ist zudem die Fähigkeit, eigenständig Entscheidungen zu treffen, schwach entwickelt, das Verhältnis des Einzelnen zum Staat ist infantil. Man zieht eher in den Krieg, als sich dem Staat zu widersetzen.

Unlängst wurde ich auf dem Moskauer Spielplatz, den ich mit meinem Sohn besucht hatte, Zeuge einer surrealen Szene. Eine junge Mutter erzählte einer älteren Frau, an ihrer Wohnung hätten mehrfach Kuriere geklingelt, um ihrem Mann, der bei seiner Arbeit war, die Einberufung auszuhändigen. Sie machte nicht auf. Doch dafür habe ihr Mann sie heftig kritisiert, berichtete sie, als sei ihre Sorge, ihren Mann, Kindsvater und Ernährer zu verlieren, zweitrangig. Und die Babuschka fand solchen Gehorsam gegenüber dem „Schicksal“ völlig richtig.

Scheinbare Begeisterung bei Einberufung

Die propagandistische Fassade des Regimes bilden die Staatsangestellten – Lehrer, Beschäftigte der sozialen Einrichtungen und Kulturinstitutionen, Lehrer, kleine Beamte. Sie mimen Begeisterung bei offiziösen Demonstrationen, fälschen Wahlen, bejubelten im März den Kriegsbeginn und jetzt die Annexion der besetzten ukrainischen Gebiete.

Kurz nach Beginn der Mobilisierung ging ein Video in den sozialen Netzwerken viral, das Musiker der Philharmonie der baschkirischen Stadt Sibai zeigte, die im Bus, der sie zum Truppenstützpunkt brachte, zum Bajan ein munteres Kriegslied sangen. Einige Kommentatoren waren entsetzt, dass die Talente eines kleinen Volks an die Front geschickt werden. Doch die Musiker erklärten, sie seien stolz, die Heimat zu verteidigen, und gaben sich gewiss, dass das Oberhaupt von Baschkortostan wie versprochen ihre Familien unterstützen werde. Das war der klassische Staatsangestellten-Reflex, bei öffentlichen Äußerungen schaltet sich bei solchen Leuten automatisch der Algorithmus des Zuspruchs für die Staatsmacht ein.

In diesen Tagen haben zudem etliche hohe Beamte und Dumaabgeordnete erklärt, sie würden freiwillig in den Krieg ziehen. In Baschkirien tat das der Vizepremierminister. Er wurde sogleich zum Medienstar, seine Lebensgeschichte wird populär samt Fotos, auf denen er seine neuen Soldatenstiefel auspackt. Wenn er und das derzeitige Regime den Krieg überleben, könnte dem Mann ein Karrieresprung bevorstehen.

Über das Ausmaß des Leids an der Front haben die meisten Russen fragmentarische Kenntnisse, trotz der Zinksärge, die in den Dörfern und Städten eintreffen. Eine Minderheit nutzt unabhängige Nachrichtenportale. Dennoch dringt das Gefühl der Katastrophe durch die soziale Fassade. In diesen Tagen kam aus Tatarstan die Nachricht, ein Bus mit mobilisierten Baschkiren habe einen Unfall gehabt, weil einer der Passagiere betrunken den Fahrer angegriffen habe. Ob der Mann Selbstmord begehen oder fliehen wollte, ist unbekannt. Bezeichnend ist aber, dass er, nachdem alles entschieden war – nach dem Einberufungsbescheid, nach der Abschiedszeremonie vor Kameras und den Blicken der Dorfgemeinschaft –, verspätet noch allem ein Ende machen wollte.

Igor Saweljew, 1983 in der baschkirischen Stadt Ufa geboren, lebt als Schriftsteller und Kritiker in Moskau. Sein Beitrag ist, aus dem Russischen übersetzt von Kerstin Holm, in der FAZ erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, den Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.

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