Und nun dieser Krieg
Ich begann, Russland zu lieben. Nun löst sich die deutsch-russische Freundschaft auf
Es ist ein halbes Jahr Krieg in der Ukraine, und ich habe mich daran gewöhnt. Ich habe mich daran gewöhnt, dass die Ukraine von Russland verbrecherisch überfallen wurde.
Ich habe mich daran gewöhnt, jeden Morgen die Berichte über den Kriegsverlauf zu hören. Ich habe mich so daran gewöhnt, dass ich manchmal nicht mehr so genau hinhöre.
Und meine Gewöhnung entsetzt mich. Es passiert, dass ich den Krieg vergesse. Ein Krieg, ausgelöst von einem Land, in dem ich fast fünf Jahre meines Lebens verbracht habe. Ein Land, das mich als Gast freundlich aufgenommen hatte. Ein Land, das mich seitdem nie mehr losließ.
Ohne Anlass, aus reiner Machtlust heraus und unter vorgeschobenem Motiv überfällt Russland den Nachbarn. Seine Militärmaschine rollt über Städte und Dörfer, zermalmt Menschen und Häuser, Kirchen und Holocaust-Überlebende, foltert Unschuldige und glaubt sich dabei im Recht. Im Recht des Stärkeren.
Ein Toast auf die Freundschaft
Putin wollte einfach nur Krieg. Die Gelegenheit schien ihm günstig. Putin lebt gedanklich noch tief im 20. Jahrhundert. Und mit ihm eine große Mehrheit der Russen. Jener Russen, die mir, dem Deutschen, die Hand reichten. Die mir so viel verziehen. Vor allem meine Zugehörigkeit zu jenem Volk, das den Tod von mehr als zwanzig Millionen Sowjetbürgern zu verantworten hatte. Was für eine Zahl, was für eine Schuld. Welch großes Herz braucht man, um diesem Deutschen diese Schuld zu verzeihen.
Ich fuhr nach Nischnewartowsk, nach Krasnojarsk, nach Irkutsk, nach Wladiwostok, nach Petropawlowsk-Kamtschatski, nach Archangelsk, nach Norilsk, nach Rostow am Don, nach Ich-weiß-nicht-wo-noch, und ich saß an langen Tafeln, an Tischen, die sich bogen mit Essen, mit Wohlwollen, mit Gastfreundschaft, und ich brachte den Toast aus, meistens den vierten, nach dem dritten, der dritte gehörte den Frauen.
Dann war ich dran, und ich sagte, dass Deutsche und Russen sich so viel Leid zugefügt hätten, millionenfaches Leid, und dass ich es so unfassbar fände, dass ich jetzt hier sein könne und mit euch Russen anstoßen könne auf die Freundschaft, auf unsere Freundschaft. Mein Toast wurde erwidert, wortreich, herzlich, echt, ich lachte und fühlte mich wohl und dachte für einen Moment, dass das mindestens ein mittleres Wunder sei, was mir hier widerfahre, mir, dem Deutschen unter den Russen.
Und jetzt führten diese Russen einen grausamen, willkürlich vom Zaun gebrochenen Krieg.
Ich brauchte Zeit, um Russland zu verstehen. Zu verstehen, wie die Russen lebten, feierten, dachten. Ihre Musik zu verstehen, die ansteckende Traurigkeit der Melodien, die Melancholie und auch die Härte. Mehr noch, ich begann mich zu verlieben in das, was ich sah und spürte, ich sah, dass echt war, was ich sah, dass die Melancholie, die bittersüßen Melodien aus dem historischen Gedächtnis dieses Landes entsprangen.
Ein Land missbraucht sich
Russland ist ein Land, das sich über das Unvorhersehbare definiert. Deutschland dagegen ist rational, kantisch, will möglichst alles erklären, will stets am besten sein, lässt das Herz nicht ans Steuer. Und wenn, dann kann es in die Katastrophe führen. In Deutschland hat das Herz ausgedient. In Russland ist es der Kompass.
Allerdings kein guter. Es führte die Russen in den Krieg. In einen Krieg, den sich keine Mutter eines Soldaten wünschen kann, keine Ewenkin, keine Burjatin, keine Tschuwaschin und keine Tscherkessin. Keine Frau, die ihren Sohn unter widrigen Bedingungen großgezogen hat und dann in die Armee gehen ließ.
Eine russische Armee, die ein Trainingslager für das Verderben ist, die den Charakter verdirbt, das Gute im Menschen, das Herz. Eine Armee, die den Kleinglauben ihrer Rekruten vereinnahmt, missbraucht und manipuliert. Die sich bedient bei den Blauäugigen, den Naiven, und diese für sich in den Krieg schickt. Nicht bei den Aufgeklärten, Kritischen in Moskau, St. Petersburg oder Nischni Nowgorod. Dieses Land, mit dem Schatz so vieler Völker, missbraucht sich. Es bedient sich bei den Gutgläubigen. Es verheizt seine Basis.
Und die Basis macht mit. Die Basis glaubt, dass die Söhne für das Gute sterben, für das Richtige, für Russland. Die Basis glaubt, dass es die Degeneration aufhalten muss, die der Westen bringt, Homosexualität, Gleichberechtigung, Gender-Diskussion, Offenheit, Toleranz, das Ertragen von Meinungen, auch schwer verdaubaren. Und versteht nicht, dass die Vielfalt der Meinungen, der Anschauungen, der Lebensentwürfe ein Pfund ist, mit dem sich wuchern lässt. Dass es stets die Vielfalt war, Wandel und politischer Wechsel, die dem Westen Fortschritt brachte und aus der Amerika bis heute seine Innovationskraft gewinnt. Und, ja, es ist auch das Aushalten von schier unerträglichen Meinungen.
In den neunziger Jahren glaubte ich, diese Haltung sei überwunden. Ich glaubte, dass Russland gerade abschüttelte, was so schwer auf ihm lastete. Nicht nur für den Augenblick, sondern wenn nicht für immer, so doch zumindest für lange.
Meister des Horrors
Und nun dieser Krieg. Ich reibe mir die Augen. Noch immer, auch nach sechs Monaten. Ist wirklich nichts geblieben von Aufbruch, von Glasnost, von Selbstreflexion, von kritischer Rückschau? Ja, Glasnost endete zu früh, ja, Perestroika, der Umbau, kam zu kurz, aber Russland hatte doch die Freiheit inhaliert, als in den späten achtziger und neunziger Jahren Geschundene rehabilitiert, als Opfer anerkannt, als Exilierte zurückgeholt wurden.
Russland konnte tief Luft holen in der Zeit von Gorbatschow und auch dem frühen Jelzin und endlich sprechen. Sprechen über das millionenfache Unrecht, die Lager, die Verbannungen, das Versiegeln der Münder.
Nur damit all das jetzt wieder versiegt, die Kreativen vertrieben, die Intelligenzia in die innere Emigration gedrängt und die Gutgläubigen ausgenutzt werden? Ist es ein Gottesgesetz, dass ein Anführer die Russen immer mal wieder missbraucht, jene Russen, die so reich sind an Dichtern und Komponisten, Technikern und Denkern? So wie die Deutschen, auch Dichter und Denker und dann Meister des Unbeschreiblichen, des Horrors?
Was sagt das uns, uns Deutschen? Wie sehr sät es Zweifel an unserer Standfestigkeit, an unseren Überzeugungen? Was hält unsere Gesellschaft aus, wann brechen wir ein, wie lange stemmen wir uns gegen Totalitarismus und Fremdenfeindlichkeit? Sind wir gefeit gegen das Böse, gegen die Macht der Manipulation, gegen die einfachen und falschen Antworten?
Russland wirft gerade die Reste jener Freiheiten über Bord, die es dreißig Jahre geatmet hat, erst die große Freiheit, dann die immerhin noch relative Freiheit der ersten Putin-Jahrzehnte. Also: Welche Dosis Freiheit muss der Mensch gelebt haben, damit er sie am Ende mit Haut und Haaren verteidigt?
Die Ukraine hat diese Freiheit geatmet. Es ist ihr Bedürfnis, nicht mehr dahinter zurückzufallen. Hätten wir diese Kraft?
Markus Ziener ist Journalist und Professor an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin. Zuvor berichtete er als Korrespondent aus Washington, Moskau und dem Mittleren Osten. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 26.8.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung