Der Tod der Lebkuchenbäckerin
Sie waren Bäcker, Dichter, OL-Läufer – dann wurden sie ukrainische Soldaten. Nun sind sie tot
Was kostet der Krieg? Seit einigen Wochen sagen die Ukrainer: 200 Soldaten pro Tag. Eine Zahl, die verbirgt: 200 Soldaten sind 200 Leben. Viele der Gefallenen waren vor dem 24. Februar 2022 Zivilisten. Aber seit Kriegsbeginn haben sich Zehntausende Ukrainer und Ukrainerinnen bei der Armee und den Territorialverteidigungskräften gemeldet, um ihr Land zu verteidigen. Sie wurden Soldaten, kämpften – und starben.
Hinter jedem Toten stehen eine Vielzahl Menschen, die an ihn denken. Ein gefallenes Regiment hinterlässt eine Armee an Trauernden.
Das ist die Macht der Erzählung: Wir erinnern uns an Lebenswege, nicht an Todesmomente. So werden aus Toten wieder Menschen.
Wir haben für die folgenden Nachrufe mit Verwandten und Freunden der Gefallenen gesprochen. Es waren schmerzhafte Gespräche, aber alle wollten erzählen, als wir sie darum baten. „Das ist das Einzige, was Olhas Tod Sinn gibt“, sagte die Mutter von Olha, der Lebkuchenbäckerin.
Der Vater des Orientierungsläufers Oleh wollte am Telefon nicht über seinen Sohn sprechen. Er würde ständig in Tränen ausbrechen, sagte er. Aber er bot an, in schriftlichem Kontakt zu bleiben.
Es waren, soweit wir das beurteilen können, ehrliche Gespräche. Die Eltern eines gefallenen Soldaten sagten uns, man habe ihnen erzählt, ihr Sohn sei tödlich verwundet worden, als er versucht habe, einen Kameraden aus dem Schlachtfeld zu retten.
Der Gerettete bestätige dies zwar, aber sie könnten es nicht überprüfen und würden uns deswegen bitten, dies nicht aufzuschreiben. Wir tun es hier, ohne die angebliche Heldentat einem Soldaten zuzuordnen. Weil sie für uns nicht als Beleg für dessen Mut steht – mutig waren sie alle, die sie sich gemeldet hatten –, sondern als Zeugnis für die Demut der Hinterbliebenen, die selbst in ihrem Schmerz das Andenken ihrer Verlorenen nicht missbrauchen wollen.
Wiktor Dudar, Journalist
Geboren am 20. Dezember 1977
Gestorben am 2. März 2022
Freunde nannten ihn „Lambada“, weil er gern tanzte. Wiktor Dudar, 44, war ein lebenslustiger Mann, der wegen seines guten Aussehens mit Sean Connery verglichen wurde. Er liebte es, Geschichten und Witze zu erzählen und die Leute zu unterhalten. Wiktor arbeitete als Journalist bei der ukrainischen Zeitung Express in Lwiw und schrieb dort militärische Analysen. Am ersten Tag des Kriegs entschied er sich, nicht mehr zu schreiben, sondern zu kämpfen. Es war das zweite Mal in seinem Leben, dass Wiktor eine Militäruniform anzog.
Seinen Rucksack hatte er schon Tage im Voraus gepackt. Als er sich am 24. Februar beim Rekrutierungsbüro meldete, merkte er, dass er das Wichtigste vergessen hatte: ein religiöses Medaillon und ein gestreiftes T-Shirt, das ihm im ersten Krieg Glück gebracht hatte.
2014 hatte Wiktor schon als Freiwilliger ein Jahr im Donbass in der Region Luhansk gekämpft und war dabei nur einmal leicht verletzt worden. Er war überzeugt, dass das auch an seinen Glücksbringern gelegen hatte. Also brachte ihm seine Frau Oxana das Leibchen und das Amulett ins Armeebüro. Sie umarmten sich ein letztes Mal, und Oxana weinte. „Aber dann verstand ich, dass ich kein Recht hatte, meine Angst zu zeigen. Es ist die Pflicht eines Mannes, sich für die Familie und den Staat einzusetzen.“
Die Rekrutierungsoffiziere hatten Wiktor einen Job als Militärsprecher angeboten. Aber er wollte Fallschirmjäger werden. Wiktor schloss sich einer Kampfeinheit an, die in der Südukraine stationiert war. Ihr Motto: „Immer zuerst und zuvorderst.“ Einmal schickten ihm seine Kollegen von der Zeitung ein Video des Liedes „Keine Moskauer hier“ an die Front. Es wurde Wiktors Lieblingslied.
Jeden Tag schickte er seiner Frau Oxana Textnachrichten, verriet aber nie, wo er genau stationiert war. Seinen Aufenthaltsort erfuhr Oxana erst später. Meistens schrieb Wiktor: „Es geht mir gut, mach dir keine Sorgen.“ Einmal aber auch: „Im Fernsehen hören wir von den großen Siegen der Ukraine und davon, wie wir den Feind vernichten. Aber es sieht so aus, als würde ich noch lange hier bleiben.“
Dann kamen keine Textnachrichten mehr. „Wo bist du?“, schrieb Oxana, „was ist passiert?“ Sie bekam keine Antwort.
Am 6. März standen ein Pfarrer und zwei Soldaten vor Oxanas Tür. Sie sagten, Wiktor sei ein Held. Mehr mussten sie nicht sagen. Oxana verstand.
Vier Tage vorher war Wiktors Einheit in der Nähe der Stadt Mikolajiw im Süden des Lands angegriffen worden. Er erlitt eine Schusswunde in der Brust und starb am gleichen Tag.
Wiktor und Oxana Dudar hatten sich als Studenten an der Universität kennengelernt. Oxana ist Journalistin, so wie Wiktor. Sie wohnten in Schowkwa, in der Nähe der westukrainischen Stadt Lwiw, und hatten eine gemeinsame Tochter, Sofia. Sie ist heute 21 Jahre alt, und auch sie ist Journalistin. Sie stand ihrem Vater sehr nahe.
Auf Facebook schrieb Sofia: „Meine Welt ist verstummt. Ich habe nicht nur einen Vater verloren, sondern auch meinen besten Freund. (. . .) Manchmal ärgerte ich mich, wenn er in der Nacht lange aufblieb und im Wohnzimmer Fernsehen schaute. Jetzt würde ich alles dafür geben, dass er wieder in seinem Lieblingssessel sitzt.“
Oxana sagt, manchmal sei der Schmerz unerträglich. Jeden Tag fragt sie sich, wie das Leben für sie und ihre Tochter nun weitergehen wird. Dass ihr Mann das Richtige getan hat, daran hat sie trotzdem keinen Zweifel: „Es ist besser, die Witwe eines Helden zu sein als die Frau eines Feiglings.“
Iwan Dumanow, Finanzbeamter und Flüchtling
In Grönland war Iwan Dumanow ein berühmter Mann. Er kam 2019 in die Hauptstadt Nuuk und lebte dort als erster und einziger Flüchtling der Insel. Er hatte auf der Krim gelebt und war nach dem Überfall der Russen 2014 zuerst nach Dänemark geflohen und dann nach Grönland weitergezogen.
In Nuuk arbeitete er in der kommunalen Finanzabteilung. Anfang März nahm er unbezahlten Urlaub und gab dem Grönländischen Rundfunk ein Interview. Er sagte, er müsse zurück nach Kiew, um seine Mutter und seinen Vater in Sicherheit zu bringen. Später teilte Iwans Freundin mit, er habe sich freiwillig bei der Armee gemeldet. Am 4. Mai starb Iwan bei einem Einsatz. Wo er gefallen ist, ist unklar. Iwan Dumanow wurde 30 Jahre alt.
Olha Dudnik, Lebkuchenbäckerin
Geboren am 1. Januar 1991
Gestorben am 21. Juni 2022
Olha, so sagt es eine ihrer besten Freundinnen, war eine außergewöhnliche Künstlerin. An der Kunstschule schauten ihre Mitstudenten zu ihr auf. Nicht nur wegen ihres Fleißes; wer lieferte schon seine Arbeiten immer so pünktlich ab? Aber mehr noch, weil Olha immer suchte und trotzdem nicht verzweifelte. Als Kind malte sie, an der Schule versuchte sie sich zuerst mit Schmuck, dann arbeitete sie mit Ton. Sie schien damit ihr Medium gefunden zu haben, doch nach dem Abschluss begann die Suche wieder.
Olha fotografierte nicht, sie schneiderte nicht und töpferte auch nicht. Olha buk. Lebkuchen. Manche der Lebkuchen waren simpel und flach, aber präzise bemalt, zum Beispiel mit zwei verliebten Bärchen, die mit herzförmigen Ballons spazieren. Manche Lebkuchen waren komplex. Eine Lokomotive mit rotem Dach und einem Nikolaus, der aus dem Führerstand winkt.
War das Kunst? Es war jedenfalls kunstvoll. Und Olha vereinte in diesen Figuren, Kuchen und Plätzchen die beiden Dinge, die sie liebte: das Backen und das Malen.
Olha entstammte einer ukrainischen Mittelstandsfamilie. Das hieß nicht Armut, aber Knappheit. Olha erkannte, dass man das Leben selber in die Hand nehmen musste. Eine Freundin sagt: „Viele Leute wissen, dass man nicht auf ein Wunder warten sollte, aber nur wenige tun etwas. Olha tat etwas.“
Bei einem Wettbewerb für Unternehmerinnen hatte sie mit der Geschäftsidee für eine Lebkuchenbäckerei 1000 Dollar erhalten. Zuvor hatte sie zu Hause gebacken, für Hochzeiten, Geburtstage und Firmenfeste. Mit dem Geld eröffnete sie in ihrer Heimatstadt Kirowohrad, nördlich von Kiew, eine kleine Bäckerei. Sie hatte kein Schild und keine Werbetafel, aber in der Stadt kannte man sie.
Als die Leute kamen und fragten: „Olha, wie machst du das?“, wurde Olha zur Lehrerin. Auf Instagram gab sie nun Kurse im Lebkuchenbacken. Den ersten Kurs buchten 50 Schülerinnen, den fünften 500. Für ihre Schülerinnen war sie mehr als eine Lehrerin. Ihre Rezepte enthielten Ratschläge fürs Leben: dass man nicht verzweifeln dürfe, wenn man beim ersten Mal vor dem Lebkuchenbacken Angst habe, dass man immer an sich glauben müsse. Backen war für Olha eine Lebensschule.
Olha war nie alleine. Da war ihre Schwester, Katia, nur ein Jahr nach ihr geboren. Und dann war da Taras. Sie hatten sich schon als Kinder gekannt, waren zusammen zur Schule gegangen. Vor sechs Jahren wurden sie ein Paar, zogen zusammen und heirateten nach wenigen Monaten. Olha gab es nun nur mehr mit Taras.
Taras und Olha reisten viel. Zuletzt nach Finnland. Dorthin wollten sie zurück, wenn der Krieg vorbei ist. Nach Rovaniemi, wo der Weihnachtsmann wohnt. Olha war fasziniert von ihm, ihr Geburtstag war an Neujahr, die Festtage zwischen den Jahren waren ihr wichtig, auch wenn sie Feuerwerk verabscheute. So wie alles, was laut war.
Olha liebte Kinder sehr. Aber sie und Taras warteten. An den vergangenen Weihnachten sagte sie ihrer Mutter, sie fühle sich nun endlich bereit, 2022 würden sie es versuchen.
Am Tag des Kriegsausbruchs schrieb Olha auf Instagram: „Gestern schrieb ich hier, wie scary es ist, mit dem Lebkuchenbacken anzufangen. Es ist merkwürdig, das jetzt zu lesen. Heute verstehe ich zum allerersten Mal, was wirklich scary ist.“
Aber Olha wartete nicht auf Wunder. Sie und Taras suchten ihre Mutter im Büro auf. Sie schlugen ihr vor, für die gesamte Familie in der Westukraine ein Haus zu mieten und sich dort zurückzuziehen. Aber die Familie wollte nicht fliehen.
Also meldeten sich Olha und Taras bei den Territorialverteidigungskräften. Die Mutter wusste, dass es aussichtslos wäre, sie davon abbringen zu wollen.
In den Territorialverteidigungskräften kochte Olha, dann wurde sie Fernmeldesoldatin an der Front, Taras kämpfte. Einmal, als ihre Einheit in die Nähe ihrer Heimatstadt verlegt worden war, wollte ihre beste Freundin sich ebenfalls für den Kampf melden. Olha sagte: „Du hast Kinder, was willst du hier?“
Am 21. Juni starben Olha und Taras, 31-jährig, bei einem Granatenbeschuss in einem Schützengraben im Dorf Boriwske in der Nähe von Luhansk.
Semion Oblomei, Gärtner
Ein Freund sagte über Semion Oblomei, dass er ein Vorbild war, weil er vorlebte, wie man Veränderungen umsetzt: mit kleinen Schritten, Tag für Tag. Semion war Ökoaktivist, er wollte Baumpfleger werden und hatte in Schweden einen Kurs in Forstwirtschaft abgeschlossen. Zuvor hatte er an der Universität für Lebens- und Umweltwissenschaften studiert.
Dann kam der Krieg, und kleine Schritte reichten nicht mehr. Semion meldete sich bei der Armee, kämpfte in Butscha und Irpin, dann ging er an die ukrainische Führungsakademie. Dort verliebte sich Semion. Am 9. Juni heiratete er. 12 Tage später griffen die Russen aus der Luft ukrainische Stellungen in der Nähe von Sewerodnetsk an. Semion Oblomei starb, 22-jährig und verheiratet.
Witali Sapilo, Fußballspieler
Witali Sapilo war der erste Fußballspieler, der im Krieg sein Leben verlor. Er starb in einem Panzer bei einem russischen Luftangriff am zweiten Tag der Invasion in der Nähe von Kiew. „Er wollte unbedingt kämpfen“, erzählte sein Vater der Zeitung Bild, „erst ging ein Panzer kaputt, dann der zweite. Aber er wollte auf keinen Fall die Front verlassen.“ Sapiolo war 21 Jahre alt und Torhüter. Er spielte für den Verein Karpati Lwiw in der dritten Liga und galt als großes Nachwuchstalent.
Juri Dadak (Ruf), Dichter
Geboren am 26. September 1980
Gestorben am 1. April 2022
Nein, wie ein Dichter sah er nicht aus. Dabei schrieb er Gedichte, seit er 14 war. Zuerst heimlich, dann zeigte er sie seinen Eltern und Lehrern. Ein Literaturprofessor habe sich erkundigt, wieso Juri an einem technischen Gymnasium lerne, was dieser junge Mann überhaupt dort verloren habe, erzählen die Eltern. Aber Juri war so vieles, auch Widersprüchliches, eine Naturgewalt, die selbst seine Eltern nicht immer ganz fassen konnten.
Auf den Fotos von Lesungen sieht man einen Mann in engem T-Shirt, das die Muskeln fast sprengen, eine silberne Kette um den Hals, kurz geschorene Haare auf den Seiten, Bart und in der Hand ein Mikrofon, das er greift wie ein Gewerkschaftsführer, der eine streikende Menge anheizt, und nicht wie ein Schriftsteller, der gerade aus seinem Werk vorliest.
Aber die Gedichte waren kein Selbstzweck, das war nicht l‘art pour l‘art, Juri Dadak, mit Künstlername „Ruf“, sah sich als Propagandist, dessen Waffe die Verse waren. Frontlyrik, martialisch, düster, die Ukraine besingend. So wollte er die Ukrainer aufrütteln.
Schon als Kind hatte er Bücher über die ukrainische Geschichte verschlungen. Ukrainische, sowjetische, aber auch alles, was an ausländischen Texten verfügbar war. Es gab wenig Bücher damals, aber seine Großeltern in Bereschani auf dem Land in der Nähe von Lwiw hatten auch noch Erinnerungen, und Juri hörte zu und las, was immer er finden konnte.
Die Ukraine war für ihn mehr als ein Land. Er sah sich als ihr Diener. Ein Nationalist? Er schämte sich für den Begriff nicht. Er sagte: „Ein ukrainischer Patriot sollte sich durch die Liebe zu seinem Volk und seiner Kultur auszeichnen und nicht dadurch, dass er die Vertreter anderer Nationen und Kulturen hasst.“
Für die Russen waren Leute wie Juri ein willkommener Vorwand für ihren Überfall: ein völkischer Propagandist, ein Nazi. Als er starb, jubelten sie im Fernsehen.
Dabei war Juri vor allem eine Art Lehrer. Zuerst an der forstwissenschaftlichen Universität in Lwiw, wo er studiert hatte. Familientradition, schon der Vater und die Mutter lehrten dort. Juri wurde Professor, noch von der Front schrieb er seinen ehemaligen Kollegen, sie sollten weiter unterrichten, die nächste Generation ausbilden und sich nicht um den Krieg sorgen. Später gründete er ein Literaturprojekt, „Spirit of the Nation“, und hielt Lesungen ab, startete eine Kleidermarke und gab sein Wissen als Unternehmer in Kursen an der katholischen Universität weiter.
Das alles war viel, aber es war nie genug. Als er zu Bett ging, zählte er seiner Frau Irina auf, was er nicht erledigt hatte. Und, dass er sich grämte, weil er zu wenig Zeit mit ihr und seinen zwei Töchtern verbringen würde. Irina tröstete ihn dann. Sie sah, dass Juri gab, was er konnte, und sie wusste, dass sie Juri teilen musste.
Er hatte Irina im Lebensmittelladen ihrer Mutter angesprochen. Sie hatte als Studentin dort ausgeholfen. Sie redeten, wurden Freunde, bald lud er sie zum Wandern in die Karpaten ein, und sie waren ein Paar.
13 Jahre ist das her. Wo ihre Geschichte enden könnte, war immer klar. Während der Revolution 2014 meldete er sich bei der Armee, ließ sich ausbilden, aber er blieb bei der Reserve, die Familie holte ihn noch einmal zurück ins Zivilistenleben, Irina war schwanger.
Dass er sich nun gleich am ersten Tag der Invasion meldete, überraschte niemanden. Auch nicht seine älteste Tochter. Sie ist Pfadfinderin. Im letzten Winter nahm Juri sie mit auf Wanderungen in die Karpaten in den Schnee. Wenn sie groß ist, will sie auch kämpfen.
Von der Front rief Juri regelmäßig Freunde und Verwandte an. Er war gierig auf Informationen darüber, was im Rest der Ukraine geschah. Am 1. April tat er das zum letzten Mal. Nach einer Schlacht am Morgen hatte er Zeit für ein Rundtelefon. Auch seinen Vater versuchte er zu erreichen, aber die Verbindung brach immer wieder ab. Am Abend starb Juri Ruf, 41-jährig, in der zweiten Schlacht des Tages in der Nähe von Luhansk.
Irina Zwila, Schriftstellerin
Irina Zwila, 52, hatte viele Berufe in ihrem Leben. Sie war Schriftstellerin, Lehrerin, Fotografin, Aktivistin. 2014 ging sie freiwillig in einen Kriegseinsatz im Donbass. Bevor sie sich jetzt erneut als Soldatin meldete, schrieb sie an einem Buch, „Stimmen des Krieges. Geschichten von Veteranen“. Am 25. Februar wurde Irina bei einem Panzerangriff russischer Truppen am Stadtrand von Kiew zusammen mit ihrem Mann getötet. Das Paar hinterlässt fünf Kinder.
Denis Antipow, Koreanisch-Dozent
Denis Antipow konnte man nicht von der Front fernhalten. Schon 2014, nach dem Einmarsch der Russen auf die Krim, ging er in den Osten, kämpfte, überlebte. Dann kehrte er nach Kiew zurück, wo er am Philologischen Institut der Taras-Schewtschenko-Universität Koreanisch unterrichtete. Im Februar meldete er sich wieder, kämpfte, wurde nach zweieinhalb Wochen an der Front verwundet, doch Denis überlebte.
Er mochte Katzen. Sehr sogar. Im Spitalbett erstellte Denis eine Website über die Kriegsverbrechen der Russen. Dann kehrte er an die Front zurück. Doch er hatte nicht neun Leben. Am 11. Mai starb Denis Antipow, 33-jährig, in der Nähe von Izium.
Roman Ratuschni, Aktivist und Bürgerrechtler
Geboren am 5. Juli 1997
Gestorben am 9. Juni 2022
Als am 24. Februar die ersten russischen Panzer über die Grenze rollten, hörte Roman Ratuschni auf, an seiner Rede zu schreiben, an der er tagelang herumstudiert hatte. Es ging um sein Lieblingsprojekt, ein Naturschutzgebiet mitten in Kiew. Er wollte dort große Eichen pflanzen. Jetzt mussten die Bäume warten. Roman schloss die Tür seines Büros ab, gab die Schlüssel einem Nachbarn und meldete sich mit einem Rucksack voller Winterkleider freiwillig bei der Armee.
Dort bekam er ein Gewehr in die Hand gedrückt. Bis zu diesem Tag hatte er noch nie eine Waffe getragen. Aber gekämpft hat er immer. Für die Demokratie in der Ukraine, gegen korrupte Politiker, für Umweltschutz. Roman, 24, war ein dünner Mann, er sah nicht aus wie ein Soldat, er war Jurist und las pro Woche zwei Bücher, am liebsten über Politik.
Romans erste Aufgabe im Militär war es, in der Nähe von Kiew mit Drohnen russische Militärstellungen auszuspionieren. Bald genügte ihm das nicht mehr. Einen Monat später wollte er an die Ostfront, „wo der Krieg heißer ist“, und schloss sich einer mechanisierten Brigade an.
Oleh Nikiforow, ein naher Freund, sagt: „Vielleicht dürfte ich das gar nicht erzählen. Roman sagte, er wolle Russen töten.“
Auf Social Media schrieb Roman: „Je mehr Russen wir jetzt töten, desto weniger werden für unsere Kinder zum Töten übrigbleiben.“ Der Beitrag wurde von Facebook und Twitter später gelöscht.
Romans Eltern, der Vater ein Bürgerrechtler, die Mutter eine Schriftstellerin, hatten ihn gewarnt, sich einer Kampftruppe anzuschließen. Er habe ja keine Kriegserfahrung. „Aber Roman hörte auf niemanden“, sagt Oleh Nikiforow. „Er hatte das Gefühl, er könne alles.“
Roman wurde früh politisiert. Im Winter 2013 stand er als 16-Jähriger auf dem Maidan-Platz und protestierte gegen den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Als die Polizei mit Knüppeln auf die Demonstranten einschlug, musste er flüchten.
Nach dieser Nacht nahm er sich vor: Er würde nie mehr davonlaufen. Roman wurde zum professionellen Politaktivisten. Seine Eltern unterstützten ihn dabei finanziell. Einmal verhinderte er mit seiner NGO „Rettet den Protasiw Jar“ den Bau von drei Hochhäusern in einem Kiewer Naturpark; einmal wurde er zu zwei Monaten Hausarrest verurteilt und musste ein elektronisches Armband tragen, weil es an einer Demonstration zu Sachbeschädigungen gekommen war; einmal kandidierte er für den Stadtrat, wurde aber nicht gewählt. Er fand das nicht schlimm. Er wusste, seine Zeit würde kommen.
Viele prophezeiten Roman eine große Zukunft. Die ukrainische Journalistin Natalia Gumenjuk schrieb nach seinem Tod über ihn: „Sein Verlust bestätigt etwas, was wir alle vermutet haben: dass dieser Krieg die besten unserer Leute verschlingt.“
Am 26. Mai kam Roman noch einmal von der Ostfront nach Kiew zurück, um einen Pick-up zu holen und sein altes Auto in der Garage der Eltern zu lassen. An diesem Tag machte Oleh Nikiforow mit ihm ein letztes Selfie. Roman trägt einen militärgrünen Pullover, die Haare hat er wie immer streng nach hinten gekämmt. Er lächelt müde.
14 Tage später stirbt er bei einem Kampfeinsatz in der Nähe von Charkiw.
Maxim Kagal, Kickboxer
Maxim Kagal, 30, war der erste ukrainische Weltmeister im Kickboxen. Sport bestimmte sein Leben. Er spielte Rugby, lief Marathon und reiste mit seinem Lieblings-Fußballklub Kremin Krementschuk an jedes Auswärtsspiel. Als der Krieg begann, schloss er sich dem Azow-Regiment an. Am 25. März starb Kagal beim Kampf um Mariupol. Anfang April wurde er von Präsident Selensky mit dem Titel „Held der Ukraine“ ausgezeichnet.
Olexandra Anikijewa, Studentin
Olexandra Anikijewa war Studentin an der Polytechnischen Universität in Kiew. Am Institut für Publishing und Printing wollte sie die Kunst des Buchmachens lernen. Sie war 19 Jahre alt, auf dem Papier schon eine Frau, aber auf dem Foto sieht man ein Mädchen, schlank und groß, die Uniform hängt mehr, als dass sie sitzt. Aber Olexandra lächelt, das Gewehr in der Hand. Statt Buchgestalterin wurde sie Scharfschützin. Olexandra wurde am 5. Mai getötet.
Pascha Lee, Schauspieler und Fernsehmoderator
Geboren am 10. Juli 1988
Gestorben am 6. März 2022
Der letzte Film, in dem Pascha Lee mitspielte, war ein Kriegsfilm. Gezeigt wurde er nie, weil der richtige Krieg begann. Von einem Tag auf den anderen war Pascha, 33, kein Schauspieler mehr, sondern Soldat.
Als er sich zu Beginn der russischen Invasion bei den Militärbehörden in Kiew meldete, wussten sie sofort, wer er war: Entweder sie erkannten sein Gesicht, oder seine Stimme kam ihnen vertraut vor. Pascha war nicht nur Schauspieler und Fernsehmoderator, sondern auch Synchronsprecher. Er lieh seine Stimme Figuren aus Hollywoodfilmen wie „Der Hobbit“ oder „Der König der Löwen“.
Eine Freundin erzählt, in den ersten Kriegstagen habe er für seine Armeekollegen Autogramme schreiben müssen. Dann lernte er erste Hilfe zu leisten, Gebäude zu evakuieren und machte Übungen im Schnee mit einem Holzgewehr.
Pawlo „Pascha“ Romanowitsch Lee, Sohn eines koreanischen Vaters und einer ukrainischen Mutter, wuchs in einem Ferienort auf der Krim auf. Als Kind half er dem Vater, Tomaten und Kartoffeln auf dem Markt zu verkaufen, weil das Geld in der Familie knapp war.
Pascha aber hatte etwas anderes mit seinem Leben vor. Bevor er zu einem Jugendidol in der Ukraine wurde, spielte er Theater, tanzte in Klubs und trat an Kinderfesten als Pirat oder als Weihnachtsmann auf.
Sein Freund, der Regisseur Achtem Seitablajew, der mit Pascha den Kriegsfilm drehte, sagt: „Pascha war ein extrem kluger Mensch. Mit einem brillanten Sinn für Humor und sehr talentiert.“
Er war in vielen Genres zu Hause. Mit 17 spielte Pascha in seinem ersten Film mit, er hieß „Die Grube“ und handelte von Studenten, die einen Stollen aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckten, in dem merkwürdige Dinge geschehen. Später nahm er an Fernsehtalentshows wie „Star Factory“ teil und wurde Moderator auf Dom TV, einem ukrainischen Fernsehkanal, der vor allem Sendungen für den Donbass und die Krim ausstrahlt.
Wer Pascha auf Social Media folgte, sah einen jungen Mann mit einem glamourösen Leben, der in Fitnesszentren und Luxushotels Selfies machte. Er liebte Yoga und saß gern in Cafés.
Die Modedesignerin Sofia Rusinowitsch lernte Pascha auf dem Filmset kennen und war mit ihm befreundet. „Er war smart, körperlich fit und besonnen. Es schien ausgeschlossen, dass ihn je eine Gewehrkugel hätte treffen können.“ Er sei sein Leben lang Optimist gewesen.
Mit dieser Einstellung ist Pascha auch Soldat geworden, obwohl er von Krieg und Gewalt keine Ahnung hatte. In seinen Filmen schlug er einmal mit einem Baseballschläger nach Dämonen und zielte mit einer Spielzeugpistole auf einen Feind. Aber nun wurde es plötzlich ernst.
Am 1. März stellte Pascha ein Bild von sich auf Instagram. Er schaut nachdenklich, trägt ein Béret, eine Militäruniform und ein Funkgerät in der Brusttasche, vor ihm liegen eine gefaltete ukrainische Fahne und eine Landkarte. Am 4. März postete er folgende Nachricht: „Wir lächeln, weil wir es schaffen werden. Alles wird sich zum Guten für die Ukraine wenden. Wir arbeiten.“
Zwei Tage später geriet er in Irpin, einer Stadt zwanzig Kilometer nordwestlich von Kiew, unter russischen Beschuss. Pascha half Zivilisten bei der Evakuierung ihrer Häuser und wurde von einer Kugel getroffen. Als seine Leiche sieben Tage später gefunden wurde, stellte sich heraus, dass er seine kugelsichere Weste ausgezogen hatte. Gemäß ukrainischen Medienberichten hatte er sie einem Kind gegeben.
Roman Tkatschenko, Stadtaktivist
Roman Tkatschenko liebte Kiew. Er war ein Stadtaktivist, setzte sich für den Erhalt der architektonischen Schätze der Hauptstadt ein und restaurierte Mosaike. In seinem Haus gründete er eine Wohnkooperative.
Vor dem Krieg hatte er studiert, als der Krieg kam, schloss er sich der Armee an. Roman war einer der LGBTQ-Soldaten der Ukraine. Er starb in der Nähe von Charkiw im Alter von 21 Jahren.
Nina Kwascha, Medizinerin
Nina Kwascha hatte vor dem Krieg eine medizinische Ausbildung absolviert und einige Jahre gearbeitet, dann schloss sie sich der Armee an und wurde Kampfsanitäterin. Ihr Rufzeichen war „Amazone“. Ihre Einheit wurde direkt an der Front eingesetzt.
Mitte März wurde Nina nach Moschtschun in der Nähe der Stadt Hostomel, nördlich von Kiew, beordert. Die Russen versuchten den dortigen Flughafen zu erobern. Zwischen dem 12. und dem 14. März legten die Russen Moschtschun in Schutt und Asche. Dann irgendwann muss Nina 23-jährig gestorben sein. Genauer ließ sich ihr Todeszeitpunkt nicht mehr bestimmen.
Oleh Lenjuk jr., Informatiker und Orientierungsläufer
Geboren am 6. April 1999
Gestorben am 15. Mai 2022
Eine Woche vor dem Einmarsch der Russen hatten die Orientierungsläufer auf ihrer Facebook-Seite für das Wochenende vom 26. und 27. Februar noch einen Wettkampf in den Wäldern von Proziw, zwanzig Kilometer südlich von Kiew, angesagt. Ein paar Tage später riefen sie dazu auf, das ganze öffentlich zugängliche Kartenmaterial zu löschen.
An Orientierungslauf war nicht mehr zu denken. Stattdessen wurden Meldungen über brennende Gebäude und Bombenlärm geteilt, unterbrochen vom Brief an den Internationalen Orientierungslaufverband, russische und weißrussische Athleten von den Wettkämpfen auszuschließen. Solidaritätsbekundungen von ausländischen Verbänden trafen ein und Angebote für Unterkunft bei Orientierungsläufer-Familien in Polen, in der Slowakei, in der Schweiz.
Als Mitte Mai die Jugendsportschule in Irpin bei Kiew bombardiert wurde, fand sich in den Trümmern eine einzige unversehrte Trophäe: ein OL-Pokal. „Kann das ein Zeichen sein?“, fragte ein Orientierungsläufer auf Facebook. Bald schon folgten die ersten Bilder von jungen Männern neben Kerzen und Blumen.
Am 20. Mai war es das Foto von Oleh Olehowitsch Lenjuk. Oleh war mehrfacher Landesmeister und Vizeeuropameister im Rogaine, einer Spezialdisziplin, bei der innerhalb von 24 Stunden so viele Posten wie möglich angelaufen werden müssen. Er wurde am 15. Mai 2022 in der Nähe von Charkiw getötet, einen Monat nach seinem 23. Geburtstag.
Oleh wurde in eine Orientierungslauf-Familie geboren. Seit seiner Geburt schleppten seine Eltern ihn und seinen jüngeren Bruder an Wettkämpfe. Mit acht Jahren streifte Oleh dann alleine mit Karte und Kompass durch die Wälder in der Umgebung seiner Heimatstadt Czernowitz im Südwesten der Ukraine. Mit 15 gewann er Regionalmeisterschaften.
An der Schule ragte er durch seine Mathematik- und Informatikkenntnisse heraus. Auch hier war er familiär geprägt. Sein Großvater väterlicherseits war Mathematikprofessor, und auch sein Vater arbeitete an der Universität. Seine Masterarbeit, in der er seine beiden Leidenschaften OL und Informatik verband, hatte er abgegeben, kurz bevor der Krieg ausbrach. Es war eine ausgefeilte Trainings-App für Orientierungsläufer.
Als die Russen am 24. Februar in der Ukraine einmarschierten, sprachen die Männer der Familie darüber, was sie tun wollten. Für Oleh war klar, dass er sich der Einberufung nicht entziehen würde. Und so meldeten er, sein Bruder, sein Vater, sein Onkel und seine beiden Neffen sich freiwillig bei der Territorialverteidigung.
Davon wusste das Zentralkommando aber offenbar nichts und bot Oleh jr. und seinen Onkel am 10. März auf. Ihr Dienst begann am 13. März auf dem Truppenübungsplatz Jaworiw, der just an diesem Tag mit Raketen angegriffen wurde. Drei Wochen später wurde Oleh ins umkämpfte Charkiw geschickt.
Bei Fronteinsätzen blieb sein Handy ausgeschaltet, aber alle zwei bis drei Tage konnte er mit seiner Familie sprechen. Er klagte nie, aber der Vater verstand, dass die Verhältnisse schwierig waren, weil die Truppe unter Dauerbeschuss stand. Dann blieben die Anrufe plötzlich aus.
Kurze Zeit nach Olehs Tod gaben die Behörden bekannt, dass Sportanlässe ohne Publikum in der Ukraine wieder erlaubt seien. Und so trafen sich am Sonntag, dem 19. Juni, 67 Orientierungsläuferinnen und -läufer um 11 Uhr bei der Tankstelle in Hruschiwzi zu einem Wettkampf. In der rechten oberen Ecke der Karte war ein Bild von Oleh gedruckt. Der Oleh-Lenjuk-Gedenklauf soll von nun an jedes Jahr stattfinden.
Dieser Beitrag ist ursprünglich mit Fotos der Gestorbenen am 26.7.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung