Rassismus: Russlanddeutsche und das rollende R
Wer bin ich? Russlanddeutsche und ihr Leben zwischen kasachischer Steppe und deutschem Schwarzwald
Wir saßen bei einer Tasse Tee in Großmutters Sieben-Quadratmeter-Küche, als sie plötzlich in einer Mischung aus Wolgadeutsch und Russisch zu erzählen begann. „Meine Eltern“, sagte sie und versuchte sich an ihrem Gehstock aufzurichten. Zitterte etwas. Fast schien sie beim Aufstehen zu fallen. Sie griff nach den Aldi-Nussnougatschokoladenriegeln auf der Küchentheke. Und setzte sich wieder.
Dann erzählte meine Großmutter über den Morgen, an dem sie mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Geschwistern in einen Zugwaggon gesteckt worden ist. „Ich kann mich noch sehr genau erinnern“, sagte sie und holte laut Luft, „wie wir unseren Schäferhund zurücklassen mussten. Er lief uns noch einige Meter hinterher.“
Eigentlich hatten wir über mein Studium gesprochen. Doch solche Erinnerungen kamen bei ihr häufig aus dem Nichts. Großmutter hatte Alzheimer. Wie Geister schienen die Erinnerungen sie zu verfolgen. Ihre Hände bewegten sich an dem türkisblauen Griff des Gehstocks hin und her. Ihre Augen waren so trüb wie ein alter Spiegel.
Sie merkte nicht, dass wir gerade noch über etwas anderes gesprochen hatten. Auf einmal redete sie vom sibirischen Winter, vom Tod ihrer Mutter, vom Arbeitslager: „Mein Bruder ist im Arbeitslager gestorben“, sagte sie.
Meine Großmutter war Wolgadeutsche, Russlanddeutsche. Postsowjetische Migrantin. Wie ihre Kinder, ihre Enkel, ihre Urenkel. Wie ich. Sie starb vor einem Jahr.
Vor zehn Jahren sind meine Eltern mit meinem Bruder und mir das letzte Mal durch die ehemalige Republik der Wolgadeutschen gefahren. Dort, irgendwo zwischen Saratow und Samara, sollte es liegen, das Dorf Schöntal. Das Dorf, aus dem meine Großeltern stammen. Es wurde 1857 gegründet.
Es begann mit der Einladung der Zarin
Doch die Geschichte der Russlanddeutschen begann schon viel früher. Mit Katharina der Großen. Die Zarin unterschrieb im Sommer 1763 einen Ukas. Manche nennen ihn einen „Kolonialistenbrief“, manche ein „Einladungsmanifest“. Es war ein Aufruf an deutsche Siedler. So wollte die Zarin das „wilde Feld“ Russlands erobern, wirtschaftlich stärken. Aber es ging auch um ihre eigene Stärke, darum, loyale Bürger ins Land zu holen.
Dafür bot sie vieles: Selbstverwaltung, Steuervergünstigungen, freie Religionsausübung, Befreiung vom Militärdienst und 30 Hektar Land für jede Kolonistenfamilie. Und diese Familien, sie kamen.
Der Anfang war nicht leicht, einige Siedler überlebten nicht einmal den ersten Winter. Sie mussten Überfälle ertragen und Hungersnöte.
1857 lebten im Dorf meiner Großmutter 162 Familien. Ob ihre Vorfahren zu diesen Gründungsmitgliedern gehörten, kann ich nur vermuten. Zu verworren ist unsere Geschichte.
… und endete mit der Deportation
Damals, während unserer Reise nach Kasachstan vor zehn Jahren, schaute ich aus dem Autofenster und sah die Wolga, Wassermelonen und Ruinen. Ist hier unsere Heimat? Nein, nicht ganz. Die russische Geschichte der Russlanddeutschen und meiner Familie beginnt zwar an der Wolga, endet aber in Sibirien und in der kasachischen Steppe.
Denn mit dem Angriff der Nationalsozialisten auf die Sowjetunion 1941 nahm der Hass gegenüber Russlanddeutschen zu. Sie wurden verdächtigt, deutsche Spione zu sein. Wer Deutsch sprach, war automatisch Faschist. Ende August wurden sie deportiert, kamen in Arbeitslager. Auch meine Großeltern, deren Geschwister und Eltern.
Als ich meine Oma noch fragen konnte, antwortete sie nur in Fragmenten ihrer Erinnerungen: „Winter, Bäume, die zu Fall gebracht wurden. Und der Tod“, sagte sie immer wieder. Über die Bedingungen in diesen Lagern haben weder meine Oma noch mein Opa gesprochen.
Aus einigen Arbeitslagern, die offiziell bis 1946 existierten, wurden Städte: Städte der Deportierten, Karaganda in Kasachstan beispielsweise. Da lebten Ukrainer, Belarussen, Tschechen, Tadschiken, Kasachen, Usbeken, Juden und Deutsche. Deutsch, zuvor fester Bestandteil des Alltags, war dort und in anderen Orten noch lange verdächtig.
Die Wunden, die Nazi-Deutschland der sowjetischen Mehrheitsgesellschaft zugefügt hatte, waren nicht vergessen. Die Russlanddeutschen mussten den Kopf hinhalten. Obwohl sie in den 1960ern wieder rehabilitiert worden sind, wurden sie wegen ihrer Kultur und Identität diskriminiert. Und doch einte sie etwas mit allen anderen Nationalitäten in der Sowjetunion: die russische Sprache, die weiße Narbe einer Pockenimpfung und die Esskultur. Von den usbekischen Manti bis zum ukrainischen Borsch.
Emigration wird zur Massenbewegung
Am Tisch der Sowjetunion gab es zwar Platz für fast jeden. Doch die Teller waren immer unterschiedlich gefüllt. Bis der Tisch zusammenbrach. Das System, das die Menschen wie in Watte gepackt hatte, das in die privatesten Lebensbereiche vorgedrungen war und alle diese Nationalitäten mit harter Hand an sich gebunden hatte – dieses System war plötzlich weg.
Und Emigration wurde in den 1990ern zur Massenbewegung. Die Russlanddeutschen, die die Möglichkeit hatten, die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten zu verlassen, nutzten sie auch. Die Russlanddeutschen redeten sich ein, sie würden in ihre alte Heimat zurückkehren. Dabei war das, was sie anlockte, vor allem der wirtschaftliche Wohlstand.
Dafür gaben viele ihre Berufe auf: Lehrer, Juristen und Pädagogen wurden zu Handwerkern, Bauarbeitern und Reinigungskräften. Abends schauten sie den russischen Staatssender Erster Kanal. Aus Gewohnheit, als letztes Überbleibsel des alten Lebens.
Meine Eltern kamen im Winter 1995 in Herbstkleidung nach Deutschland. Denn man hatte ihnen gesagt, in Deutschland sei es nie kalt. Dann hatte man ihnen gesagt, ihre Abschlüsse seien hier nichts wert. „Geht Arbeiten“, sagte man ihnen, „und integriert euch! Sprecht öffentlich kein Russisch. Schweigt lieber.“ Also waren sie still, widersetzten sich nicht. „Misch dich nicht ein, Artur“, lautete das Credo meiner Eltern. Stille.
Seit fast 300 Jahren hatten Russlanddeutsche sich nicht widersetzt. Seit fast 80 Jahren hatten sie keine Heimat mehr. Das hinterließ Spuren.
Kinder, ihr sollt es mal besser haben
Umso mehr wollten meine Eltern in Deutschland Wurzeln schlagen, wollten, dass wir ein Teil dieser Gesellschaft werden. Sie bauten ein Haus in einem emsländischen Dorf. Sie arbeiteten, damit mein Bruder und ich studieren konnten. „Ihr sollt nicht wie wir auf der Baustelle enden“, wiederholt mein Vater jedes Mal, wenn ich ihn anrufe. Und wenn ich ihn frage, wer ich bin, sagt er: „Du bist deutsch.“
„Ich bin deutsch“, flüstere ich mir immer zu. „Wer bin ich?“, frage ich mich trotzdem. Denn dieses „Deutschsein“ wird mir immer wieder genommen: Erst vor Kurzem wurde ich von der Polizei angehalten. Ich war zu schnell mit dem Auto durch die Innenstadt gerast. Als der Polizist auf meinen deutschen Ausweis blickte, sah er da auch meinen Geburtsort, sah einen russischen Namen: Uspenka. Dann sagte er: „Sie können dort zu schnell fahren, wo sie herkommen. Aber in Deutschland macht man das nicht.“ Ich war sprachlos, weil ich schon lange das Gefühl hatte, ich müsste doch endlich dazugehören.
Aber es ist in Ordnung, andere werden öfters und viel stärker diskriminiert, dachte ich, entschuldigte mich. Und dabei rollte über meine Lippen ein R – so wie immer. Der Polizist drehte sich um und murmelte etwas über Russen in sich hinein.
Dieses R, das mir ständig über die Zunge rollt, verrät mich. Es verrät meine Herkunft. Das R macht für alle hörbar, dass meine Eltern mit mir Russisch sprachen. In der Schule war ich der Russe, der Ausländer, der Fremde, der andere: „Artur, sag mal Rohrreiniger. Sag mal Rollmops. Sag mal Regenrinne.“
Ich sprach die Worte so aus, wie sie es wollten, nur damit sie lachten. Ich fühlte mich allein. Bis jemand in meine Klasse kam, der noch weniger deutsch wirkte als ich.
Dieser Junge hatte einen noch härteren Akzent, eine andere Hautfarbe und dunklere Haare. Dieser Junge wurde zum neuen Opfer meiner Klasse – und meiner Lehrer. Ich gehörte plötzlich dazu – zu den Deutschen. Rassismus und Diskriminierung ließ ich schweigend geschehen, obwohl ich wusste, wie es sich anfühlt, wegen der eigenen Herkunft beleidigt zu werden. Ich war ja nicht mehr betroffen. Ich war deutsch.
Russlanddeutsche: Unterdrücker und Unterdrückte
Wir Russlanddeutschen sind Unterdrücker. Wir sind Unterdrückte. Wir sind jener Teil der Gesellschaft, der genau zwischen der Minderheit und der Mehrheit steht. Für die Minderheiten sind wir ein Teil der Mehrheit. Für die Mehrheit sind wir Russen mit deutschen Nachnamen.
Wenn die Politik sagen will, dass Integration funktioniert, zeigt sie mit dem Finger auf uns, die Musterschüler der deutschen Integrationspolitik. Dabei hat sie uns einfach verschwinden lassen. Sind wir überhaupt noch sichtbar?
In diesem Jahr jährt sich die Vertreibung, die Deportation, der Mord an den Russlanddeutschen zum achtzigsten Mal. Es ist ein stilles Trauerjahr, an das sich die meisten Russlanddeutschen nicht einmal selbst erinnern können. Sie sind, nein, wir sind unsichtbar gewordene Menschen: durch Integrationsdruck, Assimilationszwang, durch die sogenannte Leitkultur Deutschlands. Nein, wir gehören nicht zu Deutschland und nicht zu Russland: Das Einzige, was uns hier bleibt, sind unsere eigenen Supermärkte, Vereine und in größeren Städten die russisch-orthodoxen Gemeinden.
Gleichzeitig gibt es Minderheiten, die uns absprechen, Rassismuserfahrungen gemacht zu haben. Wir wären zu weiß für Rassismus, heißt es dann oft.
Dabei ist Rassismus nicht nur mit Hautfarbe verknüpft. Doch der moderne Antirassist von heute geht zwar auf die Kolonialisierung Afrikas ein. Auf den nationalsozialistischen Traum jedoch, auf den „Fall Barbarossa“, den „Lebensraum im Osten“, geht er nicht ein. Aber auch das war Kolonialisierung. Dafür starben Millionen Osteuropäer.
Russlanddeutsche in der Rassismus-Grauzone
Ich habe das Gefühl, dass es in den aktuellen Rassismus-Debatten oft nicht darum geht, wer von Rassismus betroffen ist, sondern darum, welche Minderheit das größte Mitspracherecht hat. Damit sabotieren sich Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft im Endeffekt selbst. Wir bekämpfen uns gegenseitig mit der Aberkennung rassistischer Erfahrungen.
Dass Rassismus nicht so einfach zu unterteilen ist, zeigt der Fall von Kajrat Batesov aus Brandenburg. Er war Russlanddeutscher, der einen erkennbar zentralasiatischen Namen trug und auch phänotypisch so aussah. 2002 wurde er in Wittstock zusammengeschlagen.
Man könnte zwar denken, er wäre nicht als Russlanddeutscher oder als Russe angegriffen worden, sondern als Asiate. Doch es war anders: Er und sein Freund wurden als „Scheißrussen“ beschimpft, als man sie trat und verprügelte.
Batesov ist an den Folgen des rechtsextremen Angriffs gestorben. Deshalb ist es wichtig, nicht von vornherein zu sagen, dass bestimmte Gruppen nicht von Rassismus betroffen sein können. Denn Rassismus kann von Situationen abhängig sein.
Manchmal glaube ich, wir Russlanddeutschen befinden uns in einer Grauzone. Zwischen Schwarz und Weiß. Zwischen 1 und 0. Zwischen Opfer und Täter. Da sind wir! Und wir beweisen, dass ein rein binäres System im deutschen Rassismusdiskurs nicht funktioniert.
Wir wissen, wie es ist, diskriminiert und ermordet zu werden. Gleichzeitig wissen wir nichts über die anderen Minderheiten, verstehen nicht, wie es ist, seine Kultur mit aller Macht beibehalten zu wollen. Wir sagen zu oft: „Wir hatten es auch nicht leicht. Die sollen einfach arbeiten gehen und sich integrieren.“ Damit tun wir anderen Minderheiten unrecht.
Wir wabern irgendwo zwischen Osten und Westen. Zwischen kasachischer Steppe und deutschem Schwarzwald. Wer sind wir? Diese Frage lässt mich nicht los.
Meine Aufgabe als postsowjetischer Migrant
Heute, 80 Jahre nach der Deportation der Russlanddeutschen, prägen Konflikte unsere Welt: Belaruskonflikt, Ukrainekonflikt, Identitätskonflikt. Es scheint, als würde es immer schwieriger werden, diese Welt zusammenzuhalten.
Könnte ich doch nur jetzt, zehn Jahre später, die Orte noch mal besuchen, die ich mit meinen Eltern damals gesehen hatte. Vielleicht würde ich meine Aufgabe als postsowjetischer Migrant in dieser Gesellschaft verstehen? Wenn wir nur unsere Unsichtbarkeit ablegen könnten, könnten wir doch auch einen vernünftigen Beitrag gegen den Nährboden radikaler Gedanken leisten.
Als ich meine Oma letztes Jahr im Februar besuchte, war die Tür zu ihrer Wohnung offen wie immer. Sie saß auf ihrer Couch im Wohnzimmer. Im Hintergrund dröhnte in Dauerschleife russisches Fernsehen. Sie bewegte sich nach vorn. Dann nach hinten. Wieder nach vorn. Wie ein Pendel. Sie sagte nichts mehr. Erzählte nichts mehr. Schwieg. Ich ging. Wenig später starb sie. Und mit ihr ihre Geschichte. Sie wurde unsichtbar.
Dieser Beitrag ist am 31. Oktober 2021 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Wir danken dem Autor, ihn auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.