Tolstoi, Dostojewski und Russlands Krieg
Russische Literatur sozialisiert Soldaten nicht zur Gewalt, lehrt aber etwas über Putins Dämonen
Im April dieses Jahres, wenige Wochen nach dem Bekanntwerden der grausamen russischen Kriegsverbrechen in der ukrainischen Stadt Butscha, erschien in The Times Literary Supplement ein polarisierender Artikel der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko. Die Botschaft: Die russische Sozialisierung zur Gewalt beginne bereits mit dem Lesen russischer Standardliteratur – unter anderem der Werke Lew Tolstois und Fjodor Dostojewskis –, die unvereinbar mit westlich-humanistischen Werten seien.
Die Autorin spricht von einer Kultur, die Täter bemitleide, anstatt sie zu ächten. Dabei spielt sie unter anderem auf Tolstois und Dostojewskis Perzeption vom Menschen als Produkt ihrer Umstände an. Laut Sabuschko sei diese implizierte Schuldlosigkeit eines jeden Menschen vor dem Hintergrund der ihn umgebenen Zwänge durch die Geschichte hinweg ein Freifahrtschein für die Gräueltaten russischer Soldaten gewesen, ob im Zweiten Weltkrieg oder heute in der Ukraine. Ob sich der durchschnittliche sowjetische Soldat um 1945 mit den soziologischen Ansätzen Tolstois auseinandersetzte, sei diesbezüglich vorweg erst einmal dahingestellt.
Russische Literatur – ein „Tarnnetz für russische Panzer“? Tolstoi selbst predigte eine christlich motivierte Gewaltlosigkeit, war bekennender Vegetarier und wurde zuweilen von Mahatma Gandhi als einer der drei wichtigsten Einflüsse in dessen Leben bezeichnet. Auch schimmert in seinen Werken immer wieder das Ideengut westeuropäischer Philosophen wie Rousseau, Hegel und Schopenhauer durch. Die seinen Büchern zugrunde liegenden Kernbotschaften, das Leben wertzuschätzen, seine Mitmenschen zu lieben sowie vergeben zu können, spiegeln seine klar christliche Prägung wider.
Bei Tolstoi ist die Fähigkeit, die Menschlichkeit hinter Fehlern erkennen zu können – zu denen der Autor allerdings eher Liebschaften als Kriegsverbrechen zählt –, ein wiederkehrendes Leitmotiv. Sowohl Tolstoi als auch sein Zeitgenosse Dostojewski verfolgten mit ihren Werken keine stumpfsinnige apologetische Agenda für durch Menschen verschuldete Grausamkeiten, sondern beschäftigten sich auf soziologischer und psychologischer Ebene mit der Psyche von Massen und Individuen.
Hierfür bedienten sie sich vor allem auch unsympathischer und schuldbeladener Charaktere. Die Protagonisten Dostojewskis sind oftmals Verbrecher, Sünder und Menschen am Abgrund, doch werden diese nicht zu Vorbildern erhoben. Vielmehr geht es darum, ein psychologisches Verständnis der Menschen hinter den Taten zu entwickeln, um sich selbst besser verstehen zu können.
In „Schuld und Sühne“ durchläuft ein machiavellistischer Hauptcharakter einen langwierigen Prozess, bis er sich seiner eigenen Schuld vollends bewusstwerden kann und einsieht, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt. In seinem Opus magnum, den „Brüdern Karamasow“, kommt Dostojewski zu dem Schluss, es sei besser, naiv und dumm als erfolgreich und menschlich schlecht zu sein, eine Folgerung, die der aktuelle russische Präsident aller Wahrscheinlichkeit nach nicht teilen dürfte.
Grausamkeit aus dem Bücherregal?
Wer bei dem Anblick der Bilder aus Butscha nach dem Warum fragt, wird in seinem Bücherregal nicht fündig werden. So schrecklich und unmenschlich die von russischen Soldaten begangenen Kriegsverbrechen sind, so stellen sie bei Weitem keinen historischen Einzelfall dar, wie er nur von einer Nation begangen werden könnte, die Tolstoi und Dostojewski zu ihren Schriftstellern zählt. Man darf bezweifeln, dass jene japanischen und deutschen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit begingen, sämtlich durch Tolstoi und Dostojewski sozialisiert wurden.
Die Eskalation von Gewalt in Kriegen ist zum einen ein Phänomen des Kriegs selbst, kann zum anderen aber auch durch gesellschaftliche Prägung gefördert werden. Im Fall der russischen Streitkräfte liegen hierbei jedoch ein Verweis auf die inhumane und bisweilen sadistische Behandlung der eigenen Rekruten sowie eine indoktrinierte Gewaltaffinität und ausgeprägte Gewaltkultur innerhalb der Truppe deutlich näher als die Verdächtigung klassischer Literatur als Grundlage für diese.
Nicht umsonst nehmen sich in der russischen Armee jährlich so viele Soldaten das Leben, dass die Zahl der Suizidfälle fast Bataillonsstärke beträgt – ein Trend, der seit der Sowjetzeit besteht. Statt dem Blick ins Bücherregal lohnt bei der Frage nach dem Warum vor allem ein Blick in russische Kasernen und Ausbildungsstätten.
Was lehren uns Tolstoi und Dostojewski über Putins Rational? Wenn auch die Verbindung russischer Literatur zu den Kriegsverbrechen in der Ukraine weitestgehend haltlos ist, so gewährt sie uns doch in gewissem Maße einen Einblick in das Selbstverständnis und die ideologische Prägung Putins. Denn obgleich der autoritäre Kremlherrscher seine Traditionslinie gern auf Peter den Großen zurückführt, teilt er zumindest zwei zentrale Bestandteile von dessen Politik nicht, nämlich die „Europhilie“ und das Streben nach einer russischen Westintegration. Die Ideologie hinter Putins Handeln – ähnlich wie sein machtpolitisches Verständnis – sind eher im 19. Jahrhundert verankert, der Zeit Tolstois und Dostojewskis.
Tolstoi beschreibt in „Krieg und Frieden“ den Vaterländischen Krieg des russischen Volks von 1812 und Russland als letztes Bollwerk gegen den gesamten europäischen Kontinent, der sich dem revolutionären Frankreich unterworfen habe. Den westlichen Ideen des Kapitalismus und Sozialismus stand Tolstoi ähnlich ablehnend gegenüber wie Dostojewski, welcher stets auf die destruktive Kraft revolutionärer, westlicher Ideologien hinwies.
Putin und Dostojewski
In „Die Dämonen“ zeichnet Dostojewski das düstere Bild einer Gesellschaft, die durch ihre Liberalisierung und den zunehmenden Abfall vom Glauben dem Nihilismus und Hedonismus erliegt und dadurch leichte Beute für den sozialistischen Terror wird. Was diese „Dämonen“ für Putin heute darstellen, ist offensichtlich, er hat es nie verheimlicht. Es ist die liberale westliche Gesellschaft, die sich laut seinem Narrativ von der Religion und ihren traditionellen Werten abzuwenden und das entstehende Vakuum durch eine Kultur des Globalismus und der „Wokeness“ zu ersetzen versucht.
Demgegenüber sieht sich Putin als Mann der Tat, der wie Dostojewski jene verachtet, welche viel philosophieren, aber doch nicht handeln. Ähnlich wie im Jahr 1812 bildet Putins Russland heute eine Festung „alter Werte“ und des russisch-orthodoxen Christentums – so zumindest die Kremlpropaganda. Diese vermeintliche historische Parallele, wie stark sie im Detail auch hinken mag (wichtig ist nur, dass Putin an sie glaubt), kann auch Aufschluss über Putins Strategie gegenüber dem Westen geben.
Nach Napoleons Russlandfeldzug 1812 befand sich dessen Heer in Auflösung, ohne dass die Russen dafür auch nur eine entscheidende Schlacht hatten gewinnen müssen. Die langsame Zermürbung des Gegners auf Zeit hatte genügt. Tolstoi schreibt diesbezüglich: „Schwer ist es, eine Kampagne zu gewinnen. Aber dazu braucht man nicht stürmen und zu attackieren, man braucht Geduld und Zeit.“
Putin setzte bisher auf eine ähnliche Strategie. Er plante in langen Zügen und spekulierte auf eine kurzfristig gedachte Reaktion des Westens – lange Zeit mit Erfolg.
Ähnlich wie General Kutusow, einer der historischen Helden aus „Krieg und Frieden“, der Napoleon in die Tiefen des russischen Reichs lockte, wusste Putin über Jahre hinweg einen willentlich naiven Westen in seine Abhängigkeit zu treiben. Dass dies Teil einer größeren, langfristig gedachten Strategie war, wird inzwischen sogar den Westeuropäern bewusst. Nicht umsonst verbreiten Putins Nachrichtensender und Social-Media-Trolle seit Jahren Unruhe in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und verfolgen eine Potenzierung innerstaatlicher Spannungen, ausgelöst durch die zahlreichen Krisen der letzten Jahre.
Nun, da er alles auf eine Karte gesetzt hat, hofft Putin, dass eine Verknappung oder sogar gänzliche Einstellung seiner Gaslieferungen, ein damit einhergehender Wirtschaftseinbruch und ein kalter Winter die europäischen Staaten spalten und der angeschlagenen Europäischen Union von innen heraus den Todesstoß versetzen, bevor ihn die Sanktionen und der Krieg selbst zu Fall bringen. Ob dieses Spiel auf Zeit wirklich für ihn verläuft, bleibt in diesem Fall jedoch zweifelhalft.
Julius M. Braun studierte Militärgeschichte sowie Sicherheits- und Verteidigungspolitik an den Universitäten Bonn, Maynooth, Potsdam und Dublin. Seit 2022 ist er Doktorand an der Universität Potsdam und arbeitet für die Abteilung „Internationale Politik und Sicherheit“ der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 16.10.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und der Berliner Zeitung für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.