Ukraine: Mitverantwortung des Westens?

Braun, Brandt und Müller wollen wissen, wie es zum Krieg in der Ukraine kommen konnte

Nach der Invasion in der Ukraine, Massaker und Rückzug: Butscha, nordwestlich von Kiew

Reiner Braun, Peter Brandt und Michael Müller sehen die Sache so: Der Krieg in der Ukraine geht auch zulasten vieler dringender sozialer und ökologischer Aufgaben. Sie schreiben deshalb: „Entweder kommt es zur Selbstvernichtung der Menschheit oder zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft.“

Und das beginnt bei Putin-Russlands Krieg: Sie wollen „von der Sprache des Militärs zur Sprache des Friedens“ finden, weg von der „Verengung der Debatte, die die Suche nach einer Friedenslösung erschwert“. Ihre Lösung sieht einen möglichst baldigen überwachten Waffenstillstand vor (den aber derzeit offenbar niemand will und der auch mit den Minsker Abkommen nicht durchgesetzt werden konnte) und einen „nachhaltigen Friedensprozess als Bestandteil einer umgreifenden europäischen Friedensordnung“. Wer wollte dergleichen nicht.

Die Schwierigkeiten beginnen im Kleingedruckten: Diese Friedensordnung „verlangt eine Absage der Ukraine an eine Nato-Mitgliedschaft, eine konföderative Reform der Verfassung und eine international abgesicherte Neutralität des Landes sowie eine gemeinsam ausgehandelte dauerhafte Lösung für den Donbass und die Krim. Das Ergebnis könnte ein ‚Helsinki 2‘ sein.“ Alles schon einmal erwogen, verhandelt, sogar von beiden Seiten angeboten, aber wer vermag zu sagen, wie ernst das jeweils gemeint gewesen ist. Ohnehin scheint es noch nicht an der Zeit für Gespräche zu sein, solange beide Seiten sich von der Fortsetzung des Kriegs Vorteile versprechen.

Wie konnte es so weit kommen?

Natürlich distanzieren sich auch Braun, Brandt und Müller von Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine. Sie verstehen auch „die berechtigte Empörung über den Krieg“, monieren allerdings „die westliche Mitverantwortung für sein Zustandekommen“. Der Krieg, so schreiben sie, „hat eine längere und komplizierte Vorgeschichte, sowohl national als auch international“.

Die Autoren sagen, sie wollten verstehen, wie es so weit kommen konnte. Verstehen heiße aber nicht, für Putin-Russlands Krieg Verständnis zu haben. Verständnis haben sie auch nicht für Putins Imperialismus, sein queres Geschichtsbild, seinen „Ethnonationalismus mit sozialpolitischen, aber auch mit religiösen und homophoben Akzenten“.

Michael Müller, Peter Brandt, Reiner Braun

Selbstvernichtung oder Gemeinsame Sicherheit

Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise

Westend
172 Seiten
Klappenbroschur
20 Euro
ISBN 978-3-86489-389-6
Zum Verlag

Wollen wir es wagen, ein paar Schritte mit den Autoren zu gehen, um zu ergründen, worin sie diese Mitverantwortung des Westens erkennen wollen?

Sie beklagen die Geschichtsvergessenheit der entscheidenden Akteure in der Politik, vor allem in den USA. Ihr bedeutendster Kronzeuge ist Henry Kissinger, der 2014 in der Washington Post schrieb: „Viel zu oft wurde die ukrainische Frage als Showdown dargestellt, ob sich die Ukraine dem Osten oder dem Westen anschließt. Doch wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren.“ Der Westen müsse verstehen, „dass die Ukraine für Russland niemals nur ein fremdes Land sein kann“.

Und so monieren sie, dass in den 1990ern eine gesamteuropäische Friedensordnung möglich gewesen sei, „aber in Washington nicht gewollt“. „Die USA wollten keine paneuropäische Sicherheitsordnung unter Beteiligung Russlands, die EU allein war zu einer Verständigung nicht fähig, einige der Mitgliedstaaten (Polen und die baltischen Staaten) wollten sie auch nicht.“

Zu den Erweiterungen der Nato geben sie Folgendes zu bedenken: „Ist es nicht zumindest nachvollziehbar, dass die Verschiebung der westlichen Militärgrenze bis an die Staatsgrenze der Russischen Föderation, ohne dass es zu Vereinbarungen und Sicherheitsgarantien gekommen war, von jeder denkbaren Regierung in Moskau kritisch gesehen werden musste?“ Kronzeugin bei dieser Frage: Die US-Sicherheitsexpertin Fiona Hill, die von einer Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien abriet – vergebens.

Als nationale Vorgeschichte sprechen die drei Autoren an: die „komplexe Geschichte und eine polyethnische Zusammensetzung der Bevölkerung“, die starke Verbindung mit Russland, die Interessen der Oligarchengruppen, die Korruption, und generell die „innere Spaltung zwischen dem Norden und Westen des Landes gegen den stärker russisch orientierten Süden und Osten“.

Bei der Präsidentschaftswahl 2004 hätte der „prowestliche“ Kandidat Juschtschenko bis zu 93 Prozent der Stimmen im Westen und im Zentrum der Ukraine erhalten, der „prorussische“ Kandidat Janukowitsch bis zu 96 Prozent im Osten und im Süden. Die Euromaidan-Bewegung habe dafür gesorgt, dass all die Konflikte der Ukraine offen zutage traten.

Ukraine: Gespaltenes Land, jetzt zusammengerückt

Aber wieso musste ein Mann deshalb zwei Völker gegeneinanderhetzen? Und wieso blieben Friedensbemühungen so erfolglos? Die Minsker Abkommen seien gescheitert, weil sie „von großen Teilen der Ukraine nicht gewollt“ waren, urteilen Braun/Brandt/Müller. Die Ukraine sei auch nach der Wahl Selenskys ein gespaltenes Land geblieben. „Erst durch den Krieg ist es paradoxerweise stärker zusammengerückt.“

Putins Aggressionskrieg lesen sie als „geostrategischen Konflikt“, die Welt auf dem Weg zu einer neuen Blockbildung. Sie weisen darauf hin, dass sich Staaten wie China und Indien sowie ostasiatische und arabische, afrikanische und südamerikanische Länder bei der Abstimmung über eine Verurteilung von Putin-Russlands Krieg in der Uno enthalten haben, die insgesamt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. So gesehen erhält die Bezeichnung „Dritte Welt“ eine ganz neue Bedeutung. Und das soziale Thema zeigt sich ganz elementar in der Sorge um Energie und Brot.

Sowieso geht es ihnen ums große Ganze, und dafür sei mehr nötig als Empörung: „Politiker sollten nicht für ihre Entrüstungsbereitschaft gewählt werden, sondern für ihre Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen, Spielräume realistisch zu bewerten und Lösungen zu entwickeln, die in Europa auch über das Regime Putin hinausweisen.“

Auch ein Kennedy-Zitat findet (in einem Nebenbeitrag von Wolfgang Biermann) Verwendung: „Vor allem müssen die Atommächte Konfrontationen abwenden, die denen ein Gegner nur die Wahl zwischen demütigendem Rückzug und Atomkrieg hat.“ Der „Bankrott unserer Politik“ läge allerdings gestern wie heute an dem, der diese Waffen einsetzt, egal aus welchen Gründen.

Das Zweitthema, die Klimakrise, bleibt im Buch eher ein Blinddarm, der Fokus liegt eindeutig auf der Ukrainefrage. Dabei stehen die Autoren klar in der Tradition von Willy Brandt und wenden sich gegen den derzeitigen publizistischen Mainstream. Offenbar beherzigen sie dessen Mahnung: „Es gilt, sich gegen den Strom zu stellen, wenn dieser sich wieder einmal ein falsches Bett zu graben versuchen sollte.“

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