Dostojewski

Zeit, mit Dostojewski in der Hand zu sterben

Unser Autorin wurde auf Sachalin geboren. Nicht nur das verbindet sie mit dem großen Literaten

Noch immer lesenswert: ein alter Band Dostojewski

Vor kurzem las ich in einem Artikel, der dem Geburtstag von Alexander Puschkin gewidmet war: „An diesem Tag hätte der große Klassiker der russischen Literatur 210 Jahre alt werden können.“ Was für ein Optimismus, dachte ich. Zu diesem Zeitpunkt, 2009, war das menschliche Genom bereits zu 99 Prozent entschlüsselt worden. Es waren nur noch 300 Lücken zu schließen. 300 Lücken und man könnte mit dem Wiederaufbau der puschkinschen DNA beginnen, dachte ich. Was für eine Chance! Was für eine Chance für uns Russen, für die ganze russische Literatur!

Mir kam ein Dialog aus den Notizbüchern von Sergei Dowlatow in den Sinn: „Wir fanden uns irgendwo in der Menge der neu errichteten Gebäude wieder. Glas, Beton, eintönige Häuser. Ich sagte zu Nyman: Ich bin sicher, dass Puschkin nicht zustimmen würde, in diesem ekelhaften Viertel zu leben. Nayman antwortete: Puschkin würde nicht mal zustimmen, in diesem Jahr zu leben!“

Seit kurzem ist das menschliche Genom vollkommen entschlüsselt, und eigentlich wollte ich auch nicht über Puschkin berichten. In diesem Jahr, also im Jahr der vollständigen Entschlüsselung, ist Fjodor Michailowitsch Dostojewski 200 Jahre alt geworden. Das heißt, wäre er, am 11. November 2021.

Es ist verrückt. Alle Intellektuellen der Welt beglückwünschen ihn, neue Biografien erscheinen, die Zahl der Artikel, Dissertationen, Details aus seinem Privatleben wächst immer noch. Und nun ist er selbst mehr Figur als Person.

Ob Dostojewski bereit gewesen wäre, in diesem unserem Jahr 2021 Jahr zu leben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass seine Helden noch leben, und wie!

Vor ein paar Tagen sprach mich ein Obdachloser in einem Laden an: „Wissen Sie, wer Jean-Jacques Rousseau war? Haben Sie von seiner Erziehungstheorie gehört? Und Diderot? Die meisten sagen übrigens ganz falsch immer ‚Denis Diderot‘! Können Sie sich das vorstellen? Sie sprechen dieses ‚s‘ am Ende aus. Man muss ihn aber ohne ‚s‘ aussprechen! Und mit der Betonung auf der zweiten Silbe.“ Ich sagte ihm, dass ich das zwar wisse, aber auch immer falsch, zwar nicht mit diesem ‚s‘ ausspreche, dafür ohne ‚e‘ im Nachnamen, weil ich aus Russland komme, da sagen wir Deni Didro, alles klar?

Wer braucht deinen Dostojewski?

Ich kann mich nicht an einen Grund erinnern, aber eines Tages geriet ich in Streit mit meinem Mann. Im Eifer des Gefechts schrie er: „Wer braucht deinen Dostojewski?“ Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Einer von uns musste gehen. Und wir, meine Töchter und ich, blieben mit Dostojewski zusammen.

Ich war mit ihm durch seine Sträflingsvergangenheit verbunden. Er war ein Sträfling in Sibirien gewesen, und ich war auf der Insel Sachalin geboren worden und hatte dort gelebt, wohin auch er verbannt worden war. Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ und Tschechows „Insel Sachalin“ entstammen der gleichen Wurzel. In einem seiner Briefe erwähnt Dostojewski sogar Karl Landsberg, den Tschechow auf meiner Heimatinsel getroffen hat.

Landsberg, ein ehemaliger, von einem deutschen Baron abstammender Offizier, wollte heiraten. Er war verschuldet und beschloss, den Kredithai zu töten, der ihm Geld geliehen hatte, und er erstach auch die Köchin, die zu einem schlechten Zeitpunkt zurück ins Haus gekommen war.

Er wurde zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, war mit Bauarbeiten auf Sachalin beschäftigt, und eigentlich wurde alles, was im 19. Jahrhundert auf der Insel hergestellt wurde, von seinen eigenen Händen gefertigt. Er nahm am russisch-japanischen Krieg teil, wurde schwer verwundet, geriet in Gefangenschaft, kehrte nach St. Petersburg zurück, wurde wieder eingesetzt und starb an einer Blutvergiftung, nachdem er sich beim Unterschreiben mit der Feder gestochen hatte. Was für eine Geschichte!

Nach und mit Dostojewski zu leben bedeutet, zu leiden und Schwierigkeiten zu haben, um zur Erleuchtung zu gelangen. Jeder in Russland leidet und hat Schwierigkeiten, aber die Erleuchtung ist immer noch nicht da. Nicht für jeden.

Die Alkoholiker von Sachalin

Ich verbrachte mein Leben in Sachalin in einer Zweizimmerwohnung im dritten Stock eines dieser typischen Fünfgeschosser, die wir Chruschtschowka nennen. Im zweiten Stock befand sich direkt unter uns ein Puff, und gegenüber dem Haus stand ein ziemlich hoher Baum, auf den die Jungen kletterten, in der Hoffnung, einen Blick auf das Interessante unter uns zu erhaschen.

Über uns wohnte eine Alkoholikerfamilie. Freitags stritten sie sich, samstags fuhren sie mit einem roten Moskwitsch, eine sowjetische Mittelklasselimousine, zur Datscha.

Alkoholiker wohnten auch gegenüber von uns. Einer war ein lauter Mann, der oft erst nach Mitternacht und völlig betrunken nach Hause kam. Mit viel Lärm versuchte er, erst sein Stockwerk, dann seine Tür und schließlich das Schlüsselloch zu finden. Besonders schlecht gelang ihm Letzteres, und er fing an zu hämmern und zu schreien.

Seine Frau, eine ruhige, meist unsichtbare Person, trank sich zu Tode, weil sie, vermutlich in der Hoffnung, es etwas ruhiger zu haben, begann, mit ihm zu trinken. Sie wollte ihn ja nur zu Hause halten, um Abendveranstaltungen auswärts und die aufwühlende Rückkehr zu vermeiden.

Nach dem Tod der beiden lag auf der Treppe ihre Bibliothek, verwaiste Bücher, meist Klassiker. Ich habe ein paar Bände Turgenjew, Gesammelte Werke Gontscharows und „Weiße Nächte“ von Dostojewski mitgenommen.

Mein Vater war damals auch Alkoholiker. Als ich 13 Jahre alt war und in seiner Datscha übernachtete, war er so betrunken, dass er mich einem Nachbarn für eine Flasche Wodka verkaufen wollte. Der Nachbar hatte keinen Wodka im Haus, war aber ein vernünftiger Mann und nahm mich vorübergehend auf.

In diesem Jahr las ich Dostojewskis „Njetotschka Neswanowa“ und weinte über sie und mein eigenes Schicksal. Mein Vater starb, als ich 21 Jahre alt war, weil er seine nur noch wenige hundert Meter entfernte Datscha nicht erreicht hatte. Er war im Schnee erfroren.

Vladimir Sorokin schrieb 1997 ein Theaterstück mit dem Titel „Dostojewski-Trip“. Dort ersetzt die Literatur die Drogen. Die einen nehmen Kafka, die anderen Tolstoi. Das Stück beginnt mit sieben Literaturjunkies, die auf ihren Dealer warten. Als der eintrifft, wird klar, dass es für eine Gesellschaft von sieben Junkies nur eine Option gibt, weil: „Dumas? Für zwölf. Rabelais ab 36! Platonow für 16. Sieben? Ich hab nichts für sieben ... ah, hier, doch, hier ist, was ich für sieben hab: Dostojewski.“

Alle nehmen die Dostojewski-Pille und finden sich in „Der Idiot“ wieder, irgendwo in der Mitte, wo Nastassja Filippowna 100 000 Rubel ins Feuer wirft. Der drogenliterarische Trip endet mit dem Geständnis jeder der Figuren und ihrem umgehenden Ableben. Im Finale zieht der Chemiker, der offenbar für die Entwicklung der Substanz verantwortlich ist, das Fazit: „Wir können jetzt mit Sicherheit sagen, dass Dostojewski in seiner reinen Form tödlich ist.“ Und er fügt hinzu, dass er verdünnt werden muss, zum Beispiel durch Stephen King. Dostojewski in seiner reinen Form ist in der Tat unerträglich. Vor allem, wenn man ständig in seinen Texten lebt.

Dostojewskis Heldenstadt: St. Petersburg

Übrigens, St. Petersburg. Es ist die Stadt, die in Dostojewskis Romanen zum Helden wird. Wie viele wissenschaftliche und nicht so wissenschaftliche Artikel über Dostojewskis St. Petersburg geschrieben worden sind – unmöglich zu zählen. Heute kann man auf den Webseiten der Reisebüros Touren zu Dostojewskis Orten buchen. Es gibt sogar eine Route auf den Spuren von Raskolnikow. Eine Dostojewski-Reise mit 4D-Effekt.

Einmal lebte ich sechs Wochen in St. Petersburg. Eine Freundin, Theaterkritikerin, vermietete uns ein Zimmer. Ein Zimmer von etwa fünf Quadratmetern für zwei Kinder und zwei Erwachsene. Es sah sehr nach Dostojewski aus. Die Kritikerin wohnte in einer Kommunalka. Zu den Mitbewohnern gehörten zwei bescheidene alte Damen und einige Unsichtbare, an die ich mich nicht erinnern kann. Gemeinsame Küche, Bad, Toilette. Ein Hof, der wie ein Brunnen aussah, Katzen auf dem Dach im Haus gegenüber.

Die Redaktion der Theaterzeitschrift lag im Keller, der Keller war ständig überflutet, das Wasser knöchelhoch. Alles klassisch. Ich habe die Posts der Chefredakteurin auf Facebook gesehen. In diesem Keller habe ich mit allen anderen das 20-jährige Jubiläum der Zeitschrift gefeiert. Wir haben gelacht und getrunken. Wir waren betrunkene, arme, nicht unzufriedene Menschen. Und dann machten wir einen Spaziergang durch das nächtliche St. Petersburg. Ich hatte es noch nie so schön gesehen, wahrscheinlich weil ich noch nie so viel mit Theaterkritikern getrunken hatte.

In Dowlatows Notizbüchern findet sich die Szene „Im Krankenhaus“. Dowlatow kommt auf die Krankenstation: „Ich werde zur Behandlung gefahren. Auf meiner Brust liegt ein Band von Dostojewski. Nina Alovert hatte ihn mir gerade gebracht. Der amerikanische Arzt fragt:
– Was ist das für ein Buch?
– Dostojewski.
– „Der Idiot“?
– Nein, „Der Jüngling“.
– Ist das die Tradition?, fragt der Doktor.
– Ja, sage ich, das ist die Tradition. Russische Schriftsteller sterben mit einem Band von Dostojewski auf der Brust.
– Der Amerikaner fragt: Not the bible?
– Nein, sage ich, nur ein Band von Dostojewski.
– Der Arzt sieht mich interessiert an.“

Es ist, ganz nebenbei, eine Schande, dass Dowlatow in Deutschland so gut wie unbekannt ist. Nur drei schmale Bücher sind von ihm hier erschienen und der Name sagt kaum einem was. Dabei ist er der größte Humorist in der russischen Literatur, seit … Brodsky. Aber das ist natürlich nur ein Witz für Eingeweihte.

Ja, es ist wohl die richtige Zeit, um mit einem Band Dostojewski in der Hand zu sterben: Die Preise steigen, die Menschen werden immer ärmer, junge Prostituierte stehen in den Gassen, um ein Stück Brot für ihre Familien zu verdienen, Studenten werden des Terrorismus beschuldigt, irgendwo erhängen sich Mädchen, die von Ehebrechern vergewaltigt wurden. Die Zahl der Alkoholiker steigt von Jahr zu Jahr, häusliche Gewalt wird zur Norm, die Türen der Pfandleihen stehen jeden Tag offen, Menschen verlieren ihre Wohnungen wegen Schulden und über allem herrscht der Großinquisitor. 200 Jahre nach Dostojewskis Geburt. 104 Jahre nach der Revolution. Aber das menschliche Genom und sein Schlüssel, vielleicht ist das eine Hoffnung.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 24.11.2021 in der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken Verlag und Autorin, den Text auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.

Lesen Sie zu Dostojewski auch

den „fiktiven Dialog“ zwischen Ulrich M. Schmid und Dostojewski: „Die Deutschen sind unendlich dumm“ sowie:

Andreas Guskis Streifzug durch sein von Dramen geprägtes Leben: „Dostojewski: Der Prophet und seine Dämonen“ 

Leonid Luks: Dostojewski zwischen Sieg und Scheitern. Das Widersprüchliche im Werdegang und Werk von Fjodor Dostojewski

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