Paria Putin – Allein zu Haus

Heusgen: ‚Jede Unterschrift, die Putin unter einen Text setzt, ist das Papier nicht wert‘

von KARENINA
Christoph Heusgen: "Mir tut es leid zu sehen, wie in Russland eine ganze Generation junger Rekruten 'verheizt' wird."

Die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) hat einen neuen Vorsitzenden: Christoph Heusgen. Mit ihm sprach Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, über Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Notwendigkeit eines geschlossenen Auftretens der Demokratien und die Frage, ob Sicherheitspolitik mit einem Marathonlauf vergleichbar ist.

Sie blicken auf eine langjährige diplomatische Karriere zurück. Vor diesem Hintergrund möchten wir Sie zuallererst fragen: Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Christoph Heusgen: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind die tragenden Säulen, auf denen das Gemeinwesen in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg ruht. Sie bilden auch das Fundament einer seit nunmehr über 75 Jahren andauernden historischen Ära – der längsten Friedensperiode in der Mitte Europas.

Und dennoch: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nicht selbstverständlich. Umso wichtiger ist es, dass wir das, was wir aufgebaut haben, schützen, stärken und an die nächsten Generationen weitergeben.

Anfang 2022 haben Sie den Vorsitz der Münchner Sicherheitskonferenz übernommen. Diese galt bei Kritikern lange Zeit als „Kind des Kalten Krieges“. Warum brauchen wir – gerade jetzt – die Münchner Sicherheitskonferenz?

Ich habe diese Kritik nie verstanden. Die Münchner Sicherheitskonferenz trägt seit ihrer Gründung dazu bei, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – und somit Frieden – zu gewährleisten.

Durch Putins Angriffskrieg auf die Ukraine, der an den „Großen Vaterländischen Krieg“ zur Bekämpfung des Nationalsozialismus anknüpft, wurden wir gewissermaßen in die Gründungszeiten der Münchner Sicherheitskonferenz zurückgeworfen – in die Gründerzeit der Rückversicherung durch die USA und das transatlantische Bündnis.

Klar ist: Das transatlantische Bündnis spielt auch zukünftig eine zentrale Rolle bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Dennoch müssen wir Europäer uns weiterentwickeln und lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Niemand kann garantieren, dass das transatlantische Verhältnis unter einem anderen US-Präsidenten so eng und vertrauensvoll bleibt, wie es jetzt der Fall ist.

Aus meiner Sicht ist es zudem wichtig, den Begriff „Sicherheit“ auszuweiten. Das machen wir auf der Münchner Sicherheitskonferenz, indem wir nicht nur die „militärische Sicherheit“ evaluieren, sondern auch die erweiterten Sicherheitsbegriffe wie unter anderem „Energie und Sicherheit“, „Klima und Sicherheit“ sowie „Gesundheit und Sicherheit“ in den Blick nehmen.

Nicht zuletzt hat sich die Münchner Sicherheitskonferenz von einer rein transatlantischen Veranstaltung zu einer globalen Sicherheitskonferenz entwickelt, an der Akteure aus Europa und der ganzen Welt teilnehmen. Diese Entwicklung war aus meiner Sicht konsequent und richtig – daher wollen wir dieser Richtung auch in Zukunft folgen.

Der derzeitige Russland-Ukraine-Konflikt stellt auch die Systemfrage. Autokratie oder Demokratie – welches politische Modell ist „erfolgreicher“? Wie wichtig ist ein geschlossenes Auftreten westlicher Demokratien sowie der EU?

Ein geschlossenes Auftreten der Demokratien sowie der Nato und der EU ist absolut wichtig. Wir befinden uns in der Tat in einem Wettbewerb.

Für mich ist es ein kleines Wunder zu sehen, wie die Menschen in der umkämpften Ukraine Tag für Tag die Demokratie und Freiheit verteidigen. Und dass, obwohl die Ukraine ein relativ junger Staat ist, der noch gar nicht fest in seinen Strukturen etabliert ist und viele Defizite aufweist. Das zeigt, wie stark nach wie vor die Anziehungskraft der Demokratie ist.

Dagegen steht ein autoritäres System – das von Wladimir Putin. Mir tut es leid zu sehen, wie in Russland eine ganze Generation junger Rekruten „verheizt“ wird – verheizt für einen Kriegsverbrecher und ein totalitäres System.

Umso wichtiger ist es, dass wir als Demokratien geeint zusammenstehen. Das hat übrigens auch die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2022 gezeigt: Einen starken Zusammenhalt gegenüber autoritären Staaten. Wenn wir gemeinsam mit einer Stimme sprechen, werden wir in diesem „Wettbewerb der Systeme“ auch obsiegen – da bin ich mir sicher!

Die internationale Sicherheitsarchitektur steht seit dem russischen Einmarsch vor neuen Herausforderungen. Inwieweit wird sich die Sicherheitsordnung in Europa und weltweit verändern? Welche Rolle spielt die Nato zukünftig?

Die Nato spielt gegenwärtig – wieder – eine ganz zentrale Rolle. Die Rückversicherung durch die Stationierung amerikanischer Truppen und die gegenseitige Beistandsverpflichtung sind unsere Sicherheitsgarantie in Deutschland.

Dennoch: Die Bereitschaft der USA zum Einsatz zur Lösung internationaler Konflikte ist begrenzt – die Mittel ebenso. Hier dürfen wir uns keine Illusionen machen. Die USA stehen innenpolitisch vor eigenen – teils sehr großen – Herausforderungen.

Wir Europäer müssen daher unseren Beitrag zur Stärkung der Nato leisten. Die Bundesregierung hat inzwischen – mit vielen Jahren Verspätung – eingesehen, dass wir das Zwei-Prozent-Ziel erreichen müssen. Das ist mittlerweile Konsens in der Regierung über Parteigrenzen hinweg.

Gleichzeitig müssen wir Europa stärken für den Fall, dass die USA nicht bereit sind, in einen uns betreffenden Konflikt einzuschreiten. Von daher: Ja, die Sicherheitsarchitektur verändert sich. Aber nach wie vor bleibt die Nato das Fundament.

Apropos Sicherheitsordnung: Halten Sie eine „Normalisierung“ der Beziehungen unter Präsident Wladimir Putin für realistisch? Eine zukünftige Akzeptanz des Kremlchefs auf internationaler Bühne scheint schwer vorstellbar, oder?

Durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich Wladimir Putin ins Abseits der internationalen Gemeinschaft gestellt. Die große Mehrheit der UN-Generalversammlung verurteilt den russischen Einmarsch in die Ukraine und fordert den sofortigen Abzug. Das zeigt: Putin steht mehr oder weniger alleine da – ein Paria, den nur noch die Diktatoren und totalitären Machthaber aus Syrien, Weißrussland, Nordkorea und Eritrea unterstützen.

Bedauerlicherweise hat Putin alle Verträge verletzt, die Russland unterschrieben hat: Die „Charta der Vereinten Nationen“, die KSZE-Grundakte, die „Charta von Paris“. Darüber hinaus hat Putin das Minsker Abkommen und vor allem das Budapester Memorandum verletzt.

Wir erinnern uns: Die Ukraine hat 1994 ihre Atomwaffen abgegeben und als Gegenleistung die Anerkennung ihrer territorialen Integrität durch Russland zugesichert bekommen. All diese Vereinbarungen hat Putin mit Füßen getreten. Putin ist kein verlässlicher Partner oder, um es klar zu sagen: Jede Unterschrift, die er unter einen Text setzt, ist das Papier nicht wert.

Stichwort Meinungsfreiheit: Der Russland-Ukraine-Konflikt ist auch ein Kampf um die Deutungshoheit im Cyberraum. Wie können wir – staatlich gelenkte – Desinformation verhindern, ohne die freie Meinungsäußerung einzuschränken?

Der Umgang mit Desinformationen ist eine der größten Herausforderungen, vor denen wir stehen. Bei der Abwägung zwischen Lügen, Hass und Hetze einerseits, sowie dem Recht auf freie Meinungsäußerung andererseits, galt bislang immer: Im Zweifel zugunsten der Meinungsfreiheit. Natürlich ist Meinungsfreiheit in einer Demokratie eines der höchsten Güter.

Dennoch: wir dürfen nicht blauäugig sein. Viele Menschen leben in Filterblasen von sozialen Netzwerken und konsumieren einseitige Nachrichten, die ihre bereits vorhandene Meinung verstärken. Diese Menschen sind besonders anfällig für Desinformationen. Der andauernde Beschuss mit Desinformationen von außen gefährdet die Demokratie.

Daher können und dürfen wir nicht akzeptieren, dass Russland gezielt Desinformationen zur Beeinflussung der Bevölkerung verbreitet. Das gilt im Übrigen für sämtliche Akteure, die mit gezielter Desinformation auf die Meinungsbildung ihrer Adressaten einwirken.

Sie sind passionierter Marathonläufer und haben als deutscher UN-Botschafter bereits die 42,195 Kilometer des weltbekannten New York City Marathon absolviert. Ist Sicherheitspolitik auch Langstrecke?

Das ist ein schöner Vergleich. Wenn wir uns für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen, müssen wir von Zeit zu Zeit Hindernisse überwinden. Selbiges gilt beim Marathon: Viele der Läuferinnen und Läufer des New York City Marathons erreichen irgendwann einen Punkt, an dem sie am liebsten aufgeben. Bei mir war das die „Queensboro Bridge“. Dann heißt es, die Zähne zusammenbeißen, Kraftreserven mobilisieren und Widerstände überwinden. Und wenn man gemeinsam läuft, fällt es leichter. Am Ziel weiß man, der Einsatz hat sich gelohnt.

Lesen Sie ein weiteres Interview mit Christoph Heusgen auf KARENINA.

 

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