Keine Strategie in der Außenpolitik

Die USA werden Europa verlassen, neue Kriege kommen. Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen

von Muamer Bećirović

Wenn es die USA nicht zu verhindern wüssten, wäre Wladimir Putin heute zweifellos als „Wladimir der Große“ in den Geschichtsbüchern verewigt. Der deutschsprachige Raum hätte nicht viel mehr auszurichten vermocht als Kiew beim Fallen und der Wiedererrichtung eines russischen Imperiums widerstandslos zuzusehen.

Der Kontinent wäre um Haaresbreite in eine Katastrophe geschlittert, was von seinen deutschsprachigen Völkern bis heute nicht realisiert wird. Letztlich war es auch ein glücklicher Zufall, dass dies nicht geschah. Weite Teile der deutschen Öffentlichkeit interpretieren dieses Glück als etwas Zwangsläufiges.

Dieser Rückschluss verleitet Deutschland zum gravierenden Fehler, nicht seine Lehren aus diesen Vorkommnissen zu ziehen. Anstatt diese Gelegenheit dazu zu nutzen, die gesamte Außenpolitik der vergangenen drei Jahrzehnte nachhaltig zu hinterfragen, diese auf neue Grundlagen zu stellen, wieder Exzellenz auf diesem Fachgebiet zu fördern und zu fordern, ereignete sich nach anfänglichem Zögern das genaue Gegenteil davon.

Warum ist Deutschland keine Führungsmacht?

Juso-Chefin Jessica Rosenthal und viele andere in der sozialdemokratischen Führung meinen, Deutschland in Europa nicht als Führungsmacht sehen zu wollen. Breite, militärische Aufrüstungen werden vehement abgelehnt, und die politische Klasse und die deutschsprachige Außenpolitik-Gemeinschaft können bis heute nicht klar definieren, was Deutschlands außenpolitische Strategie ist.

Obwohl Deutschland aufgrund seiner demografischen, ökonomischen Größe, ja geografischen Position keine andere Wahl hat als die Einflusssphären Europas und damit der gesamteuropäischen Ordnung und Stabilität im deutschen Interesse abzusichern. Die Umstände üben obendrauf zusätzlich enormen Druck aus, dem nicht ausreichend Abhilfe geleistet wird. Denn Deutschlands Eliten haben es verlernt, strategisch und historisch zu denken, womit sie unvorbereitet in die Zukunft hineinstolpern.

Auf die Ukraine folgen weitere Krieg

Das ist umso besorgniserregender, als Russlands Angriffskrieg in der Ukraine nicht der einzige für Europa relevante Krieg in diesem Jahrhundert bleiben wird. Die Geschichte nimmt erst jetzt wieder ihren gewohnten Lauf auf, bei dem der Ukraine-Krieg nur ein unüberhörbarer Warnschuss für Europa war. Ob daraus die notwendigen Lehren gezogen werden, ist allerdings weiterhin offen. Deutschland läuft die Zeit davon. Es ist höchste Zeit, sich wieder auf Außenpolitik zu besinnen, die in strategischen Größenordnungen denkt, wie dies der deutschsprachige Raum in den vergangenen Jahrhunderten gepflegt hat.

Die drängendste Frage, die Deutschland zu beantworten hat, ist, wie der DACH-Raum mit dem Abzug der US-Streitkräfte in Richtung Asien umgehen wird. Diese Entwicklung ist auch deshalb brisant, weil sie einen erheblichen Unsicherheitsfaktor in sich trägt. Die Geschichte hat nämlich die Eigenart, dass sich laufend Dinge ereignen können, mit denen man ursprünglich nicht gerechnet hat.

Allein deshalb sollte man sich immer die „Was wäre, wenn“-Frage stellen. Wenn beispielsweise heute Donald Trump an Stelle von Joseph Biden im Weißen Haus regieren würde, hätte es das große Ausmaß an Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung für die Ukraine so nicht gegeben. Wenn Israel die nuklearen Einrichtungen des Irans bombardiert hätte, gäbe es einen großflächigen Krieg im Nahen Osten. Wenn China den Eingriff auf Taiwan gewagt hätte, gäbe es Krieg im Pazifik.

Was wäre passiert, wenn diese Konflikte sich simultan abgespielt hätten? Alle dieser drei nicht unwahrscheinlichen Szenarios hätten die USA aus Gründen der Grand Strategy dazu gezwungen, Europa, insbesondere Deutschland, die Ausbalancierung Russlands gänzlich zu überlassen. Deutschland aber steht regungslos da, obwohl diese Warnzeichen immer deutlicher werden.

Die USA wollen raus aus Europa

Der miserablen außenpolitischen Kultur und der mangelnden militärischen Ausrüstung wegen wäre Berlin nicht in der Lage, den Kontinent von den äußeren Gefahren abzuschirmen, um damit Ordnung und Prosperität im Inneren zu bewahren. Während all diese Szenarios in Washington diskutiert werden, ist im deutschsprachigen Raum Funkstille. Die Wahrheit ist aber, dass Deutschland die Hauptlast, das Gleichgewicht in und um Europa aufrechtzuerhalten, übernehmen muss.

Der US-amerikanische Verteidigungsminister in den Regierungen George W. Bushs und Barack Obamas, Robert Gates, hat bereits 2011 (!) in einer diplomatisch verklausulierten Rede gemeint, dass die Deutschen damit rechnen müssen, dass die Amerikaner sich aus Europa zurückziehen werden: „Die unverblümte Realität ist, dass im US-Kongress – und in der amerikanischen Politik insgesamt – der Appetit und die Geduld schwinden werden, immer kostbarere Mittel für Staaten auszugeben, die offensichtlich nicht bereit sind, die erforderlichen Mittel bereitzustellen oder die notwendigen Änderungen vorzunehmen, um ernsthafte und fähige Partner in ihrer eigenen Verteidigung zu sein. Nationen, die offenbar bereit und begierig darauf sind, dass die amerikanischen Steuerzahler die wachsende Sicherheitslast übernehmen, die durch die Kürzungen der europäischen Verteidigungshaushalte entsteht. (…) Wenn der gegenwärtige Trend des Rückgangs der europäischen Verteidigungskapazitäten nicht gestoppt und umgekehrt wird, werden die künftigen politischen Führer der Vereinigten Staaten – diejenigen, für die der Kalte Krieg nicht die prägende Erfahrung war, die er für mich war – möglicherweise nicht der Ansicht sein, dass der Ertrag der amerikanischen Investitionen in die Nato die Kosten wert ist.“

Robert Gates ist heute nicht mehr der Einzige, der so denkt. Der US-amerikanische außenpolitische Nachwuchs wie der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister für Strategie und Streitkräfteentwicklung, Elbridge Colby, oder der ehemalige Staatssekretär für europäische und eurasische Angelegenheiten, Aaron W. Mitchell, argumentieren ständig, sich aus Europa zurückziehen zu wollen, um Kapazitäten für den pazifischen Raum zu schaffen. Deutschland hat in Anbetracht dieser Entwicklungen die Wahl, ob der Prozess in einem reibungslosen Übergang mündet oder in eine Katastrophe gipfelt.

Kooperation mit Russland nach Putin

Deutschland wäre mit seiner demografischen Position, mit seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten und einer exzellent ausgerüsteten Armee in allen Regionen europäischer Kerninteressen in der Lage, erheblichen Einfluss auszuüben, um damit auch seine eigene Sicherheit abzusichern. Zwar ist durch den Krieg in der Ukraine das Vertrauen Osteuropas in Deutschland grundlegend erschüttert, doch bliebe der Region bei einem Abzug der Vereinigten Staaten kaum etwas anderes übrig, als sich in Deutschlands Arme zu werfen, um ihre Sicherheit gegenüber dem russischen Nachbarn zu garantieren.

In Abstimmung mit Berlin kann eine pragmatische Kooperationsbeziehung mit einem Russland nach Putin aufgebaut werden, was für den Westen mit Blick auf die unumgängliche Ausbalancierung Chinas entscheidend werden wird. Weiters gilt es, den Blick auf den Westbalkan zu richten, in dieser Region kann Deutschland zweifellos die Rolle einer friedvollen Ordnungsmacht übernehmen. Auf dem Westbalkan wäre Berlin durchaus in der Lage, die Region zu stabilisieren und jeden nicht westlichen Einfluss einzuhegen.

Nordafrika wird für die EU ein weiterer brisanter Krisenherd, weil die demografischen Zahlen am afrikanischen Kontinent explodieren und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die politischen Verhältnisse dazu führen, dass sich Millionen Menschen auf den Weg nach Europa machen und damit die fragile innere Ordnung Europas auf den Kopf stellen.

Im Nahen Osten hingegen wird man als Westen wohl keine andere Wahl haben, außer die regionale Status-quo-Macht zu unterstützen, welche Macht auch immer, doch eine solche, die das Gleichgewicht in dieser Region aufrechterhalten möchte. Denn jede Einflussverschiebung zugunsten Chinas wird gravierende Auswirkungen auf die Energieversorgung Europas und die Sicherheit des Westens haben.

Europa hat sich im 20. Jahrhundert mit den beiden Weltkriegen die Chance genommen, die primäre Bühne der Weltpolitik zu sein. Eine eigenständige Weltpolitik zwischen den beiden größten Mächten ist so gut wie unmöglich. Doch bleibt Europa nach wie vor von entscheidender Bedeutung. Die europäischen Hauptstädte verfügen immer noch über Mittel, um in allen vier der oben genannten Regionen für Stabilität und Sicherheit zu sorgen.

Deutschland muss aus ureigenem Interesse heraus deutlich mehr Verantwortung übernehmen, als es bisher der Fall war. Wenn man zu lange in den außenpolitischen Abgrund blickt, blickt der Abgrund auch in einen hinein.

Muamer Bećirović forscht zur Diplomatiegeschichte und internationalen Politik. Im März 2023 erscheint von ihm eine Biografie über den österreichischen Diplomaten und Staatsmann der post-napoleonischen Epoche Fürst Klemens von Metternich.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 20.10.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und der Zeitung für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.

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