Putin und seine Dresdner KGB-Seilschaft
Eine gute Schule fürs Leben: Wladimir Putins Jahre als KGB-Offizier in Dresden
Viel ist in den vergangenen Monaten über Wladimir Putin geschrieben worden. Zahllose Fachleute haben seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine eine Einschätzung des Kremlherrschers abgegeben. Sogar seine Körperhaltung bei Fernsehauftritten wurde analysiert. Doch viele Erklärungsversuche bewegen sich im Bereich der Spekulation.
Durch schriftliche Unterlagen dokumentiert ist hingegen eine Phase in Putins Leben, die ihn nachhaltig prägte: seine Tätigkeit als Offizier der I. Hauptabteilung des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit (KGB) in Dresden. Hierhin hatte die sowjetische Auslandsspionage 1985 den damals 33 Jahre alten Agenten nach dem Abschluss der KGB-Hochschule in Moskau zu seinem ersten Auslandseinsatz entsandt.
Und hier erlebte er fünf Jahre später, wie die scheinbar unerschütterliche SED-Diktatur durch Bürgerproteste zu Fall gebracht wurde. Zusammen mit seiner damaligen Frau Ludmila musste Putin Anfang 1990 seinen Hausstand in der Radeberger Str. 101 überstürzt zusammenpacken und nach Russland zurückkehren.
Die Unterlagen über Putins Lehrzeit in der DDR lagern heute in der Dresdner Außenstelle des Bundesarchivs. Sie stammen aus den Beständen der dortigen Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Diese arbeitete eng mit den „Freunden“ zusammen – wie die Stasi den KGB intern nannte.
Rund 500 Blatt Dokumente hat das Archiv herausgegeben, außerdem Dutzende überwiegend unveröffentlichte Fotografien. Obwohl die Unterlagen nur teilweise direkt vom KGB stammen, geben sie doch einen tiefen Einblick in die damalige Tätigkeit des russischen Präsidenten. Wie sehr deren Folgen bis in die Gegenwart reichen, ist das eigentlich Überraschende bei der Lektüre.
Auf den ersten Blick am faszinierendsten sind zweifellos die Fotos, die Putin bei unterschiedlichen Anlässen in Dresden zeigen. Die Stasi lud die Kollegen vom KGB regelmäßig zu feierlichen Veranstaltungen ein, zum Beispiel zur Vereidigung neuer Rekruten oder aus Anlass politischer Jahrestage. Putin war fast immer dabei.
Auf den Bildern sieht man einen schlanken, etwas linkisch wirkenden Mann, dessen Stirn sich früh lichtet und der meist schweigend seine Umgebung taxiert. Statt einer Uniform trägt Putin Anzug, Hemd und Krawatte, und anstelle des sonst üblichen Alkohols steht vor ihm fast immer ein Glas Saft. Er wirkt diszipliniert, dynamisch – und ehrgeizig.
Inhaltlich interessanter sind jedoch die schriftlichen Unterlagen. Sie dokumentieren zum Beispiel den raschen Aufstieg Putins vom Hauptmann über den Majorsrang zum Oberstleutnant. Bereits 1987 vertrat er seinen Chef Lasar Matwejew, auch danach amtierte er noch mehrfach als Leiter der Dresdner KGB-Residentur. Putin übernahm außerdem den ungeliebten Posten des Parteisekretärs – eine wichtige Funktion, wenn man Karriere machen wollte.
Schon im Februar 1988 wurde er abermals ausgezeichnet, diesmal sogar von Stasi-Minister Erich Mielke, der ihm die Verdienstmedaille der NVA in Bronze verlieh. Ein Foto, das Putin mit Mielke und dem Dresdner SED-Chef Hans Modrow zeigt, dürfte bei dieser Gelegenheit entstanden sein.
Putin und der Zusammenbruch der DDR
Die Unterlagen zeigen darüber hinaus, dass der Zusammenbruch der DDR für Putin völlig unerwartet kam. Nirgendwo findet sich ein Hinweis, dass den Offizieren von KGB und MfS die drohende Gefahr bewusst gewesen wäre. „Der Sozialismus ist in der Offensive“, erklärte der Dresdner Stasi-Chef Horst Böhm beim Ball der Waffenbrüderschaft im November 1987. „Sein weiteres Erstarken (...), das ist der Grundzug, das Bestimmende der Geschichte unseres Jahrhunderts.“
Umso größer muss der Schock gewesen sein, als das SED-Regime ins Wanken geriet – auch für Putin, der den Prozess hautnah miterlebte. Als Demonstranten im Dezember 1989 die Bezirksverwaltung der Stasi besetzten, zogen einige auch vor die nahe gelegene Villa des KGBs in der Angelikastraße 4. Vergeblich, so berichtete Putin später, habe er beim sowjetischen Militärkommando in Dresden um Unterstützung gebeten.
Augenzeugen zufolge kam er schließlich selbst ans Tor, wo er sich als Dolmetscher ausgab und den Demonstranten auf Deutsch erklärte, dass es sich um sowjetisches Territorium handele. „Wenn Unbefugte in dieses Gelände eindringen, dann habe ich Schießbefehl erteilt“, soll er gesagt haben. Die Menge zog wieder ab.
Aus Angst vor einer Besetzung der KGB-Residentur machten sich Putin und seine Kollegen nun fieberhaft daran, ihre mühsam zusammengetragenen Akten zu vernichten. „Wir haben Tag und Nacht Sachen ins Feuer geworfen“, erinnerte er sich später. Wie sein letzter Chef Wladimir Schirokow berichtete, wurden schließlich zwölf Lastwagenladungen voller Dokumente in das örtliche Hauptquartier der sowjetischen Armee gebracht, um sie im Schutz der Truppen zu zerstören.
Doch dort sei erst der Ofen für die Verbrennung von Geheimdokumenten zusammengebrochen, dann das Napalm nicht gekommen, mit dem die Papiere auf dem Schießplatz vernichtet werden sollten. Schließlich habe man sie mit Benzin übergossen und angezündet, wobei es zu einer Explosion gekommen sei.
Im selben Interview schilderte Schirokow auch den schmachvollen Abzug des KGB aus Dresden. Weil er von morgens um sechs Uhr bis Mitternacht beschattet worden sei, habe er so getan, als ob er alle Aktivitäten eingestellt hätte. Heimlich habe er jedoch zwei Autos kaufen und beladen lassen, die ihm dann in der Nacht „auf die Strecke gestellt“ worden seien. Im Schutz der Dunkelheit habe man ihn schließlich mit seinem Sohn dorthin gefahren. „Am Morgen waren wir bereits in Polen.“
Wie einschneidend der Zusammenbruch des Regimes für die Tschekisten war, lässt sich auch daran ermessen, dass der selbstbewusste Dresdner Stasi-Chef, der auf vielen Putin-Fotos zu sehen ist, mit 52 Jahren Selbstmord beging. Das tiefe Misstrauen des russischen Präsidenten gegenüber der Zivilgesellschaft hat viel mit diesen Erfahrungen zu tun.
Die Karrieren von Putins Dresdner Kollegen
Den Papieren kann man auch entnehmen, wie Putins Arbeitsstelle aufgebaut war und welche Aufgaben sie hatte. Neben dem Leiter bestand die „Dienststelle des Verbindungsoffiziers“ nur noch aus einem Stellvertreter, einer Sekretärin und vier Offizieren. Dass mindestens drei von Putins damaligen Kollegen heute zum engsten Zirkel des russischen Präsidenten gehören, belegt, dass die viel zitierten Netzwerke des KGBs tatsächlich existieren.
Eine erstaunliche Karriere machte zum Beispiel Jewgeni Schkolow, dessen Name auf einer Geburtstagsliste der Stasi steht. Der Sohn eines sowjetischen Geheimdienstoffiziers wurde 1955 in Dresden geboren und kehrte später für den KGB dorthin zurück. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion arbeitete er zunächst als kleiner Beamter in der Stadtverwaltung der Region Ivanovo.
Kaum hatte Putin das Amt des Präsidenten übernommen, holte er ihn zu sich. Russische Medien bezeichneten ihn bald als „Putins obersten Kaderoffizier“. Nachdem ihn die USA 2018 auf ihre Sanktionsliste setzten, wechselte er auf einen Vorstandsposten in der staatlichen Stromwirtschaft.
Eine Schlüsselrolle in der Energiewirtschaft spielt auch Nikolai Tokarew. Sein Name steht auf einer geheimen Telefonliste der Stasi. Wie Putin hatte er an der KGB-Hochschule in Moskau studiert und war anschließend nach Dresden geschickt worden. Nach dem Ende des kommunistischen Regimes kam er zuerst bei einer russisch-deutschen Leasinggesellschaft unter, doch als Putin 1996 in die Kreml-Verwaltung einrückte, machte er ihn zum Vizechef des Staatsunternehmens für Auslandsimmobilien.
Nach dem Amtsantritt als Präsident ernannte Putin Tokarew zum Generaldirektor von Zarubezhneft, einem Staatsunternehmen zur Erschließung von Öl- und Gasfeldern. 2007 wurde er Chef von Transneft, das die riesigen Erdölpipelines in Russland betreibt.
Tokarew steht ebenfalls auf den Sanktionslisten der EU und der USA, seit Kurzem auch seine Tochter. Sie soll unter anderem Luxusimmobilien im Wert von mehr als 50 Millionen Dollar für ihn verwalten.
Mit seinen Dresdner Kollegen verbindet Putin nicht nur das besondere Loyalitätsverständnis des KGB, wo Verrat mit dem Tode bestraft wurde. Er hat sie auch materiell korrumpiert, indem er ihnen erlaubte, sich hemmungslos zu bereichern.
In der DDR musste Tokarew sein Telefon noch mit Sergei Tschemesow teilen – dem dritten Putin-Vertrauter aus Dresden. Auf einem der Fotos schaut er wohlwollend auf Putin, als der gerade ausgezeichnet wird. Auch die Ehefrauen der beiden Tschekisten sollen miteinander befreundet gewesen sein, schließlich wohnten die KGB-Mitarbeiter alle im selben Plattenbau.
Als Putin in den Kreml kam, brachte er Tschemesow im Büro des Präsidenten unter, zuständig für Außenwirtschaftsbeziehungen. Kaum wurde Putin selbst Präsident, machte er ihn zum obersten Waffenproduzenten – erst beim staatlichen Rüstungsexportunternehmen Rosoboronexport, dann bei dessen Mutterkonzern Rostec. Wegen des Ukrainekriegs kommt Tschemesow, der auch dem Präsidium von Putins Partei „Einiges Russland“ angehört, derzeit besondere Bedeutung zu.
Einem russischen Zeitungsbericht zufolge betrug Tschemesows Familieneinkommen im Jahr 2013 mehr als 800 Millionen Rubel, was damals etwa 20 Millionen Euro entsprach. Darüber hinaus soll er zahlreiche Immobilien besitzen.
Bereits 2014 verhängten die USA und die EU eine Einreise- und Kontensperre gegen ihn. Im März 2022 beschlagnahmte die spanische Regierung in Barcelona seine 85 Meter lange Yacht, die allein einen Wert von 140 Millionen Dollar haben soll. Weil Tschemesow sein Vermögen wie viele andere Günstlinge Putins vor allem durch Familienmitglieder verwalten lässt, stehen inzwischen auch seine Stieftochter, seine Schwiegermutter und sein Sohn auf die EU-Sanktionsliste.
Kein Beleg für Kooperation mit der RAF
Offiziell waren Putin und seine Kollegen in Dresden für den Kontakt zur Stasi-Bezirksverwaltung zuständig. Als Offiziere der I. Hauptverwaltung war es aber gleichzeitig ihre Aufgabe, westliche Agenten für den KGB zu rekrutieren. Die Spekulationen, die darüber im Umlauf sind, stellen sich bei Lektüre der Unterlagen als wenig glaubwürdig heraus.
In ihrem Buch „Putins Netz“ schreibt die Journalistin Catherine Belton beispielsweise, Putin habe damals linksradikale Terroristen und Neonazis in der Bundesrepublik unterstützt. Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) seien mehrfach per Zug zu ihm gereist. Dabei hätten sie auch Listen mit Waffen übergeben, die dann in Westdeutschland hinterlegt worden seien. Sogar der Anschlag auf Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen sei „aus Dresden vorgegeben“ worden.
In den Unterlagen findet sich dafür keinerlei Beleg. Eine solche Kooperation wäre der Stasi mit ihren guten Kontakten zur RAF und ihrer lückenlosen Überwachung des Grenzverkehrs mit Sicherheit nicht verborgen geblieben. Auch der KGB hätte einen politisch derart heiklen Vorgang kaum einem unerfahrenen Offizier der Auslandsspionage in der ostdeutschen Provinz anvertraut. Allein die Behauptung, die Stasi hätte die Terroristen in sowjetischen ZIL-Limousinen am Bahnhof abgeholt, macht Beltons anonymen Zeugen unglaubwürdig.
Belton zufolge soll Putin auch in der Technologiespionage eine bedeutende Rolle gespielt haben. Weil das Elektronikkombinat Robotron einen Sitz in Dresden hatte, sei die Stadt Zentrum des Schwarzhandels mit westlichen Technologien gewesen. Wie Stasi-Unterlagen belegen, lief die illegale Beschaffung jedoch größtenteils über die Ost-Berliner Zentrale, die das Material direkt nach Moskau weiterreichte.
Entsprechend bescheiden äußerte sich der Dresdner Stasi-Chef beim erwähnten Ball der Waffenbrüderschaft: „Unsere Kundschafter“, so berichtete er den sowjetischen Kollegen, hätten „Anteil“ an der Entwicklung eines 32-Bit-Rechners und eines 256-Kilobit-Speicherkreises gehabt; das Adjektiv „hohen“ hatte er zuvor eigenhändig durchgestrichen.
Nachweislich falsch ist die Feststellung der gestorbenen US-Politologin Karen Dawisha, dass Putin auf einem Stasi-Foto mit Matthias Warnig zu sehen sei – jenem Spionageoffizier, den der russische Präsident später zum Geschäftsführer von Nord Stream 1 und 2 machte. Auch Beltons Behauptung, Warnig sei „Teil einer KGB-Zelle in Dresden“ gewesen, die Putin unter dem Deckmantel einer Unternehmensberatung gegründet habe, ist äußerst fragwürdig. Den Unterlagen zufolge lebte Warnig von 1986 bis 1990 in der Bundesrepublik, davor war er in Ost-Berlin beim MfS und im Ministerium für Außenhandel beschäftigt.
Ein reines Phantasieprodukt ist schließlich die Behauptung des Recherchezentrums „Correctiv“, Putin habe in Dresden einen hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter als Agenten angeworben. Das Zentrum, das unter anderem „Faktenchecks“ für Facebook übernimmt, berichtete, dass der Mann deshalb von der Auslandsaufklärung „in die weniger angesehene Observationsabteilung versetzt“ worden sei. Angeblich habe Putin auch Rainer Sonntag angeworben, um ihn als Neonazi in die Bundesrepublik einzuschleusen.
Das US-Portal „Source Material“ schmückte die Story kürzlich weiter aus und verbreitete, der Stasi-Mitarbeiter sei wegen seiner Arbeit für den KGB in der DDR zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. In den Unterlagen findet sich von alledem kein Wort. Der Kaderakte des Mannes ist vielmehr zu entnehmen, dass er 1988 versetzt wurde, weil er wegen seiner „Hektik und Zerstreutheit“ für die Arbeit mit Agenten ungeeignet war.
An seinem neuen Einsatzort machte man bald ähnliche Erfahrungen mit ihm, sodass er am Ende nur noch technische Arbeiten erledigen durfte. Im Gefängnis war er nie.
Zweifelhaft erscheint auch die Heldengeschichte, die ein vormaliger Kollege Putins in einem unter Pseudonym erschienenen Buch erzählt. Der Mann, bei dem es sich vermutlich um Wladimir Agartanow handelt, behauptete, beim Zusammenbruch der DDR habe Putin als „Gesellenstück“ die Kartei mit den Kontaktpersonen des KGBs aus der Stasi-Bezirksverwaltung herausgeholt. In Wirklichkeit wurden diese jedoch, wie alle Personen, in der allgemeinen F-16-Kartei registriert. Putin hätte die Karten also einzeln heraussuchen müssen – was Stunden, wenn nicht Tage in Anspruch genommen hätte. Außerdem gab es von jeder Karte in Berlin ein Duplikat.
Wie Stichproben zeigen, gibt es auch in Dresden noch Karteikarten von KGB-Agenten. Sie tragen allesamt die Registriernummer XII 2135/74. Diese führt zu einem sogenannten Sicherungsvorgang, mit denen die Stasi größere Personengruppen erfasste. Anders als sonst steht auf der ebenfalls überlieferten Vorgangskarte allerdings unter Mitarbeiter nur „Freunde“ – weshalb sich nur in Einzelfällen feststellen lässt, welcher Informant von Putin persönlich geführt wurde.
Auch der Sicherungsvorgang ist noch vorhanden – eine spektakuläre Entdeckung, denn dabei handelt es sich um das Verzeichnis aller Dresdner KGB-Agenten, einschließlich der der Militärabwehr. Von dem ursprünglich mindestens 90 Seiten umfassenden Vorgang existieren allerdings nur noch zwei beidseitig beschriebene Blätter, die erst 1995 gefunden wurden. Darauf stehen die Namen von 83 Personen, davon 37 aus der Bundesrepublik.
RAF-Terroristen befinden sich nicht darunter. Stattdessen war Putin eher mit Routinearbeiten beschäftigt. Er wurde zum Beispiel gerufen, als ein junger KGB-Mann aus Leningrad bei einem Besuch in Dresden Kontakt zum MfS suchte – was dieses ohne Voranmeldung über die Zentrale ablehnte. In einem anderen Dokument bat Putin den Dresdner Stasi-Chef um „wirksame Unterstützung“, als einem KGB-Agenten „irrtümlicherweise“ der Telefonanschluss abgeschaltet worden war; das MfS sorgte dafür, dass er wieder funktionierte.
Anders als vielfach kolportiert, waren Putin bei der Anwerbung von DDR-Bürgern weitgehend die Hände gebunden. Laut einer Vereinbarung zwischen KGB und MfS von 1978 war dies nur zur „Lösung von Aufklärungs- und Abwehraufgaben in kapitalistischen Staaten und Westberlin“ sowie zum Schutz sowjetischer Militärobjekte gestattet. Bevor der KGB einen DDR-Bürger ansprach, musste er ihn zudem vom MfS überprüfen lassen, wodurch dieses praktisch ein Vetorecht besaß.
Spekulationen über eine Aktion „Ljutsch“ (Strahl), mit der der KGB 1989 versucht haben soll, unter SED-Funktionären und Bürgerrechtlern Einflussagenten zu rekrutieren, und an der angeblich auch Putin beteiligt gewesen sein soll, erscheinen deshalb nicht sonderlich plausibel. Aus den Unterlagen geht vielmehr hervor, dass die Stasi sehr genau darauf achtete, dass die Regularien eingehalten wurden.
So beschwerte sie sich im März 1989 über unabgestimmte Kontaktaufnahmen zu Reservisten – der KGB stellte diese daraufhin sofort ein. Als der KGB um „kompromittierendes Material“ über eine Dresdnerin bat, schrieb Böhm auf die Anfrage: „Für DDR-Bürger sind wir zuständig!“ Eine Anwerbung von Einflussagenten hätte erst recht Protest hervorgerufen.
Die erwähnte Vereinbarung erklärt übrigens auch, warum Putin einen MfS-Ausweis besaß. Als der 2018 gefunden wurde, galt dies als kleine Sensation. Doch dann stellte sich heraus, dass die Stasi sich 1978 verpflichtet hatte, die Verbindungsoffiziere des KGB und deren Mitarbeiter allesamt mit Dokumenten auszurüsten, „die es ihnen gestatten, die Diensträumlichkeiten des MfS der DDR zu betreten“.
Putins Anwerbung von Westagenten
Mit etwas Mühe findet man in den Unterlagen auch Hinweise auf Putins tatsächliche Agenten. Der Mann mit dem abgeschalteten Telefon arbeitete zum Beispiel im Arbeitsgebiet I der Kriminalpolizei (K1), einer Art Hilfstruppe der Stasi mit 15 000 eigenen Spitzeln. Der KGB registrierte ihn 1982 als Führungs-IM (FIM), was bedeutet, dass er noch weitere inoffizielle Mitarbeiter (IM) anleitete.
„Im Interesse der Freunde“ drängte er zum Beispiel einen Bekannten, eine West-Reise zu beantragen, um Kontakt zu einem Bundeswehrangehörigen zu bekommen. Seine Vorgesetzten zeigten sich mit seiner „spezifisch-operativen Arbeit“ zwar zufrieden, doch ein Topagent war er sicher nicht. Wegen seiner vielen Gaststättenbesuche, seiner Schulden und seinen Freundschaften zu Kriminellen schickte ihn die Kripo vielmehr aus „sicherheitspolitischen Gründen“ vorzeitig in den Ruhestand.
Für den Dresdner KGB arbeitete noch ein weiterer Polizist der K1. Der Mann mit dem Decknamen „Henry“ war bereits seit 1975 dabei und ebenfalls FIM. Zu seinen Informanten gehörte unter anderem ein Dozent an der Sektion für Politische Ökonomie der TU Dresden, der seit 1985 als IM „Bock“ tätig war. Über ihn hatte der KGB wiederum eine Westdeutsche aus Besigheim bei Stuttgart „zur freiwilligen Zusammenarbeit durch eine schriftliche Erklärung“ verpflichtet: IM „Ulla“. Bei der Anwerbung von Westagenten unterlag Putin keinerlei Einschränkungen vonseiten der DDR.
Die Suche nach Spionen war freilich ein mühsames Geschäft. Ständig hielt der KGB nach infrage kommenden Personen Ausschau. Deutlich aktiver als Putin war dabei die Militärabwehr, da die im Raum Dresden stationierten Truppen im Kriegsfall bis weit in die Bundesrepublik vorstoßen sollten. So bat deren zuständiger Oberst Waleri Androsow die Stasi wiederholt um Recherchen zu „Verbindungen von DDR-Bürgern zu BRD-Personen“ in Bundeswehrstandorten wie Munster oder Soltau. Oberst Hardi Anders, der bei der Dresdner Stasi für den Kontakt zum KGB zuständig war, ließ ihm Hunderte Hinweise aus dem Reise- und Briefverkehr zukommen.
Im September 1986 bat auch Putins Chef Matwejew um eine „Sonderrecherche“. Er suchte nach DDR-Bürgern „bis 50 Jahre“, die Privatreisen nach Bonn, Hannover und München beantragt hatten. Die Stasi gab ihm jedoch einen Korb, da eine derartige Recherche nicht möglich sei.
Mehr Erfolg hatte sein Nachfolger Schirokow. Der ließ im März 1989 eine Bundesbürgerin überprüfen, die in die DDR reisen wollte und für den KGB „von operativem Interesse“ sei. Die Stasi half auch, als Schirokow nach einem West-Berliner fragte, der gerade vom KGB „unter der Sicht einer möglichen Anwerbung aufgeklärt“ wurde.
Putins langer Atem und Wille zur Täuschung
Manchmal bat auch die Stasi um Amtshilfe – etwa als ein KGB-Agent unweit des Gästehauses der SED-Bezirksleitung „Hinweise zum dort tätigen Personal“ liefern sollte. Der Mann wurde vermutlich von Putin geführt, denn auf der Anfrage ist auf Russisch vermerkt „Genossen W. W. Putin zum Vollzug“. Der wollte oder konnte aber nicht helfen, denn darunter steht: „Zurückgegeben ohne Vollzug“.
Hatte der KGB einen Bundesbürger ausfindig gemacht, der als Spion infrage kam, bedurfte es in der Regel monatelanger Bemühungen, um diesen anzuwerben. Um dabei Erfolg zu haben – das ist eine weitere Erkenntnis aus der Lektüre –, sind Fertigkeiten erforderlich, die man bei Putin bis heute beobachten kann: ein langer Atem, der Wille zur Täuschung und die Fähigkeit zu taktischen Winkelzügen. Wer diese Kunst beherrscht, wird mit Aufstieg und Auszeichnungen belohnt.
Putin war offenbar ein „Meister der geheimen Kombinationen“, wie es einer seiner Dresdner KGB-Kollegen formulierte. „Er war ein Regisseur oder, wenn Sie so wollen, sogar ein Dirigent künstlich geschaffener Situationen, in denen Menschen, die für ihn von Interesse waren, getestet wurden.“ Putin selbst sagte, als er 2017 seinen ehemaligen Chef Matwejew besuchte: „Die Arbeit mit Ihnen war für uns eine gute Schule – für das Leben, menschlich und professionell.“
Sowjetische Truppen ohne Disziplin
Man kann den Blick in die Unterlagen nicht beenden, ohne auf den kühlen Ton zu sprechen zu kommen, der darin vorherrscht. Wegen seiner plumpen Methoden wies die Stasi den KGB manchmal regelrecht zurecht. Nur einmal im Jahr änderte sich der Ton – wenn der Dresdner Stasi-Chef Putin „in enger Verbundenheit“ mit Grußkarte und Blumen zum Geburtstag gratulierte.
Illustriert wird dieses Spannungsverhältnis durch Schriftstücke über die „Dekonspiration einer technischen Maßnahme der sowjetischen Tschekisten“. Durch Zufall hatte die Stasi im Juni 1987 erfahren, dass bei einem DDR-Besuch von IM „Ulla“ deren Sohn unter dem Sofa des IM „Bock“ eine Abhöreinrichtung entdeckt und eingesteckt hatte. Panikartig schrieb das MfS die KGB-Agentin daraufhin an allen DDR-Grenzübergängen zur Fahndung aus.
Dem IM „Bock“ gelang es zwar, den Sender zurückzubekommen, doch die Stasi war sichtlich verschnupft. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass Putins Kollege Agartanow die Wanze ohne Rücksprache angebracht hatte. Zerknirscht musste sein Chef einräumen, dass „die Entdeckung auf eine unqualifizierte Arbeit seines Mitarbeiters zurückzuführen“ sei.
Zu massiver Kritik kam es aber vor allem wegen der Disziplinlosigkeit der sowjetischen Truppen. In der Korrespondenz zwischen MfS und KGB finden sich zahllose Beschwerden über Einbrüche, sexuelle Belästigungen, Schlägereien, Unfälle mit Fahrerflucht, Verlust oder Verkauf von Waffen, ja sogar Granateneinschläge in bewohnten Gebieten. Die Stasi beklagte nicht nur die Vorfälle selbst, sondern auch den Umgang der Militärs damit.
So erklärte der Kommandant in Königsbrück Beschwerden über Einbrüche für „erledigt“, weil die dabei festgestellten sowjetischen Kfz-Kennzeichen „nicht registriert“ seien. Die Belästigung einer DDR-Bürgerin bezeichnete er als „Erfindung“. Wenn die Kriminalpolizei ihn kontaktieren wollte, zeigte er „Verständigungsschwierigkeiten“ oder war nicht zu sprechen, da er „Mittagsruhe“ hielt. Selbst als die Ehefrau eines MfS-Mitarbeiters belästigt worden war und die Stasi mithilfe des KGBs den Schuldigen ermitteln wollte, musste sie vermerken: „Ergebnis: nichts passiert“.
Vielleicht waren für den russischen Präsidenten und Oberbefehlshaber der Streitkräfte seine Jahre in Dresden auch in dieser Beziehung eine Lehrzeit.
Hubertus Knabe war Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen und arbeitet im Projekt „Nach der Diktatur“ der Universität Würzburg.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 4.10.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.